Orchideen gegen Beton

Das Camp der Protestierenden befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Steinbruch. Foto: Lars Ritter

12. Mai 2021

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Auf dem waadtländischen Mont Mormont kämpften Aktivist*innen monatelang gegen den Ausbau eines Steinbruchs durch den Betonkonzern Holcim. Bis das Gelände Ende März geräumt wurde. Ein Erfahrungsbericht über den Kampf gegen den Beton.

Gefrorener Tau haftet noch an den Gräsern, als kurz nacheinander drei Hornstösse die Stille auf dem Mont Mormont durchdringen. Für die Besetzer*innen ist klar, was das heisst. Mit fatalistischer Ruhe bereiten sich im Morgengrauen alle auf ihre Aufgabe vor.

Manche beziehen ihre Positionen auf den Barrikaden und in den Bäumen. Die Leute vom Klimastreik ziehen aus, um als Sitzblockade den Zugang zum Gelände zu erschweren. Diejenigen von Extinction Rebellion begeben sich zu den Blockaden, die sie in der Nacht zuvor im Steinbruch platziert haben. Dann kommt die Durchsage aus dem Camp-Radio: «Wir sind umzingelt, die Polizei kommt von allen Seiten auf uns zu.»

Der Hügel wehrt sich

Der gleiche Ort, fünf Monate zuvor: Es ist ein düsterer Oktobertag. Fahles Licht fällt auf die Lichtung, auf der sich der Landsitz befindet. Lange war er verlassen, doch jetzt sieht es hier aus wie in einen orientalischen Palast: Der Boden ist bedeckt mit Teppichen, Sitzkissen ordnen sich um niedrige Tischchen. Die Vorratskammern sind gefüllt mit Spenden der umliegenden Landwirt*innen und Mitbringsel der Leute, die für ein paar Tage dortbleiben.

Hier werden Tag für Tag Millionen Jahre alte Sedimente aus dem Berg gesprengt und zu Zement verarbeitet.

Nur das dumpfe Grollen, das durch den Wald neben dem Landsitz dringt, stört die Stille. Es verrät, dass der Betonkonzern Holcim direkt angrenzend einen Steinbruch von riesigem Ausmass betreibt. Immer wenn der Bagger einen Kipplaster gefüllt hat, gibt er ihm mit dem Horn das Signal zum Abfahren. Jedes davon lässt die Mine näher zur Lichtung rücken.

So werden hier Tag für Tag Millionen Jahre alte Sedimente aus dem Berg gesprengt, auf einen Kipplaster verladen und im nahen Zementwerk zerkleinert. Anschliessend wird aus diesem Mahlgut Beton gemischt. Eine kilometertiefe Schneise haben die Sprengladungen und Bagger bereits in den kleinen Hügel gefressen. Das Geschäft ist für Holcim so lukrativ, dass der Konzern die bestehende Mine ausbauen will. Dagegen wehrt sich «la collective des orchidées», das «Kollektiv der Orchideen.» Es hat die Ebene um den Landsitz zur «zone à défendre» erklärt.

Besetzung als letzte Instanz

Das Kollektiv bildete sich aus Anwohner*innen der umliegenden Gemeinden, nachdem der Kanton den Ausbau der Mine gutgeheissen hatte. Ihr Ziel: Der Erhalt der Orchideen, die auf dem kalkhaltigen Gestein des Hügels gedeihen und nun das Wahrzeichen ihres Protests darstellen.

Bei meinem ersten Besuch auf dem Mont Mormont mache ich mich selbst auf die Suche nach Orchideen im Wald. Dabei treffe ich per Zufall auf den Biologen Alain Chanson. Bereits Jahre zuvor gründete er die Organisation «Association pour la Sauvegarde du Mormont», um den Hügel vor der Zerstörung durch Holcim zu retten. Wie die Aktivist*innen vom Orchideen-Kollektiv hält auch er es für ungerechtfertigt, für die Herstellung von Beton ein Schutzgebiet nationaler Bedeutung zu zerstören. Auch wenn Holcim verspricht, die Mine am Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzzeit mit Prärievegetation wieder zu begrünen.

Einige Aktivist*innen sind aus Deutschland angereist, bringen Erfahrung aus dem Hambacher und Dannenröder Forst mit.

Als letztes Mittel des Protests hat im Herbst 2020 die Arbeit an den Befestigungsanlagen rund um das Herrschaftshaus begonnen. Zum Zeitpunkt meines Besuchs ist die Zufahrtstrasse aus der Ortschaft La Sarraz bereits durch eine provisorische Barrikade versperrt, auf der minenzugewandten Seite thront ein hoher Wachturm, und erste Baumhäuser entstehen in den Wipfeln rund um die Lichtung mit dem Landsitz.

Doch erst im März 2021, als der Ausbau der Mine und damit die Räumung des Areals unmittelbar bevorsteht, schaut auch die Öffentlichkeit hin.

Eine Festung entsteht

In den letzten Tagen vor der Räumung füllt sich die Zeltstadt: Zu den lokalen Aktivist*innen sind jetzt auch der Klimastreik und Extinction Rebellion gestossen. Einige Aktivist*innen sind sogar aus Deutschland angereist, sie bringen Erfahrung aus dem Hambacher und Dannenröder Forst mit, sind professionell ausgerüstet und wild entschlossen. Es ist meines Wissens das erste Mal in der Schweizer Geschichte, dass sich auch hier derartiger ziviler Widerstand gegen den Abbau von Rohstoffen regt.

Um Beton herzustellen, graben sich die Bagger von Holcim tief in den Mont Mormont. Dagegen wehrt sich eine bunt gemischte Gruppe von Aktivist*innen aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich. Foto: Lars Ritter

Unter der Mitwirkung dieser höchst unterschiedlichen Aktivist*innen hat sich die kleine Lichtung zu einer Festung entwickelt. Jetzt sind die Zugangswege mit Sperrholz und verschiedenen zusammengetragenen Materialien verbarrikadiert. In die Sträucher und Büsche sind Netze gespannt, um eine Durchquerung zu vermeiden, und um den Landsitz zieht sich eine Schutzmauer.

Der kleine Ort La Sarraz wird komplett abgeriegelt.

In den Bäumen ist eine Vielfalt an Baumhäusern und Plattformen entstanden, einige besitzen sogar mehrere Stockwerke. In einem efeubewachsenen Baum hängt eines, dessen Obergeschoss komplett aus alten Fensterflügeln besteht.

Postapokalyptische Tänze

Kurz vor der Räumung dringen die Besetzer*innen schliesslich in die Mine ein. Tanzend und begleitet von Technomusik erobern sie symbolisch das zerstörte Gebiet und beleben die ausgestorbene Wüstenlandschaft der Mine. Die federgeschmückten und bunt bemalten Tänzer*innen in den Gruben wirken wie Szenen aus einer postapokalyptischen Welt.

Am 30. März 2021 wird das Gelände geräumt. Erst jetzt berichten auch Deutschschweizer Medien über den Protest. Foto: Lars Ritter

Im steigenden Sonnenlicht malen die Aktivist*innen zwei grosse «STOP»-Schriftzüge an die Wände der Wunde im Berg. Die Geste wirkt ebenso kampfwillig wie verzweifelt, denn ihr Unverständnis darüber, was hier vorgeht, erreicht jetzt ihren Zenit. Plötzlich wird die Entfremdung des modernen Menschen von seinen Wurzeln real und greifbar. Für mich ist es ein Gefühl des Zusammenseins und gleichzeitig der Einsamkeit gegenüber der Welt.

Doch noch immer ist die Mine von einem Zaun und einem Tor umgeben. Um diese Inbesitznahme durch den Konzern zu brechen, marschiert ein feministisches Streikkollektiv zum Steinbruch. Die Frauen* sind entweder ganz nackt oder oben ohne. Mit ihren bunt bemalten Körpern und dem Federschmuck auf den Köpfen scheint es beinahe, als würde sich die Natur selbst zurückholen, was ihr gehört, und als wäre hier auf dem Hügel eine Urkraft präsent.

Die federgeschmückten und bunt bemalten Tänzer*innen wirken wie aus einer postapokalyptischen Welt.

Sie entfernen den Draht und bringen ihn zur Verstärkung der Barrikaden in die «zone à défendre». Zum Schluss entfernen die Frauen* das Zugangstor und bringen es unter Jubel und Triumphgeschrei ins Innere. An diesem Tag wirkt es, als könne die Besetzer*innen nichts aufhalten, als sei die Macht des Konzerns bereits gebrochen.

Der Tag der Räumung

Es ist der 30. März 2021. In der Nacht vor einem solchen Kampf schläft man gut. Die Nervosität kommt erst am Morgen. Erste Nachrichten treffen ein von einem Grossaufgebot seitens der Polizei, in einem Ausmass, mit dem niemand gerechnet hat.

Der kleine Ort La Sarraz wird komplett abgeriegelt: Verkehrskontrollen hindern Fahrzeuge mit Sympathisant*innen an der Einfahrt, in den Zügen werden diejenige, welche jetzt noch anreisen wollten, am Aussteigen gehindert. Als die Sonne den Raureif zum Schmelzen bringt, ertönt die Durchsage, dass die Leute vom Klimastreik weggetragen wurden und sich die Polizei zur besetzten Zone aufmache.

Um die Räumung zu erschweren, verbarrikadieren sich die Besetzer*innen im ehemaligen Landsitz. Andere bilden einen Sitzstreik oder steigen auf Bäume. Foto: Lars Ritter

Das Brummen des Polizei-Helikopters, der in sicherer Distanz über uns kreist, vermischt sich mit dem aufheulenden Motor des Räumungsfahrzeuges zu einer Geräuschkulisse, die den Puls steigen lässt. In der Mittagssonne blitzen auf der Ebene plötzlich die Visiere der Schutzhelme auf. Das Räumungsfahrzeug erscheint an der Spitze des Konvois, gefolgt von Wasserwerfern, einem Tanklöschfahrzeug und Mannschaftswagen. Die schwarze Kolonne marschiert wie ein aufziehendes Heer über die Ebene.

Am Haupttor treffen zwei Welten aufeinander, zwei Realitäten: Die Polizei beschallt die Protestierenden mit der Aufforderung, das besetzte Gebiet zu verlassen, letztere rufen der Polizei zu, sie in Ruhe zu lassen und die Natur zu bewahren.

Fast könnte man die Menschen hinter den Uniformen vergessen, aber ich sehe die Polizist*innen unter ihren Helmen schwitzen.

Plötzlich geht es ganz schnell. Vom Wall aus feuern die Protestierenden Farbgranaten, während die Polizei gleichzeitig aus mehreren Richtungen in das besetzte Gebiet eindringt. Feuerwerkskörper prallen an ihren Schildern ab, daraufhin antworten sie mit Gummischrot.

Die schwarzen, schwer gepanzerten Gestalten inmitten der Bäume und Baumhäuser sehen fehl am Platz aus. Fast könnte man die Menschen hinter den Uniformen vergessen, aber ich sehe die Polizist*innen unter ihren Helmen schwitzen. Es rückt ins Bewusstsein, dass es nicht Maschinen sind, die hinter der Zerstörung stecken, sondern Menschen. Einige Protestierende rufen den Polizisten zu: «Legt die Uniform ab und chillt mit uns!».

Nach einer Phase des Wartens, in der die Polizei mit Fahrkränen die Aktivist*innen von den Plattformen und Bäumen holt und in der viele durch den Wald abziehen, folgt der Sturm auf das Haus. Einige letzte verbleiben noch auf den Bäumen und Plattformen. Als auch ich weggebracht werde, höre ich sie noch das Lied «gardiens de la paix» singen.

Was bleibt?

Das herrschaftliche Haus wurde inzwischen abgerissen. Auf dem Gelände stehen die Baumaschinen als Vorbereitung für die Erweiterung der Mine. Doch der Kampf um den Mont Mormont und seine einzigartige Natur ist noch nicht zu Ende. Denn die Bewilligung, die Holcim hat, reicht nur bis an das Ende der Ebene. Der Hauptkamm des Hügels hingegen steht noch unter Schutz. Mittlerweile gibt es sogar eine kantonale Initiative, die den Mormont retten will, und nachhaltigere Alternativen zur Zementproduktion fordert.

Unterdessen äsen, wenn die Maschinen schweigen, auf den Grasflächen im Inneren des Steinbruchs die Gämsen. Direkt neben den Baumaschinen stehen sie, scheinbar ohne sich gestört zu fühlen.

Ich bin mir sicher: Die Natur wird uns überdauern. Es stellt sich nur die Frage, in welcher Form.

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