Let’s cuddle!

Illustration: Lisa Linder

12. Mai 2021

Von

Ein Raum, ein paar Matratzen, fremde Menschen und ganz viel Nähe. Bei einer Kuschelparty geht es nicht um Sex, sondern um Berührung. Ist unsere Gesellschaft unterkuschelt?

In einer Welt, in der man bloss nach rechts swipen muss, um die Liebe seines Lebens zu finden, von seinem Bett aus verfolgen kann, wie die Freund*innen Bananenbrot backen und sich per Videoanruf mit Menschen vom anderen Ende der Welt auf einen Kaffee treffen kann, scheint es unmöglich, einsam zu sein.

Doch obwohl unsere Welt vernetzter ist als je zuvor, fühlen sich diversen Studien zufolge immer mehr Menschen einsam. Digital rückt die Welt näher zusammen, analog wird sie immer distanzierter. Zwar sind wir im ständigen Kontakt mit Menschen, nicht zuletzt durch die Sozialen Medien, doch physischer Kontakt findet immer weniger statt – und das nicht erst seit der Corona-Pandemie.

Das Bedürfnis nach Nähe

Evolutionsbiologisch gesehen sind Menschen nach wie vor «Rudeltiere»; wir haben gelernt, dass unsere Chancen zu überleben besser stehen, wenn wir uns mit anderen Menschen zusammentun. Diese Erkenntnis hat sich stark in unserem Stammhirn verankert. So stark, dass wir heute noch auf langfristig fehlenden Körperkontakt mit Gefühlen der Angst oder der Einsamkeit reagieren können.

Gerade in unserer schnelllebigen, zunehmend individualistischeren Gesellschaft fühlen sich viele Menschen unsichtbar und allein. Sie sehnen sich danach, wahrgenommen zu werden – mehr noch: Sie sehnen sich nach Nähe und Berührung, Intimität und Verbundenheit mit anderen Menschen.

«We need 4 hugs a day for survival. We need 8 hugs a day for maintenance. We need 12 hugs a day for growth.»

Einsamkeit stellt in unserer Gesellschaft für viele Menschen eine derart grosse Herausforderung dar, dass sogar die Politik glaubt, sich ihrer annehmen zu müssen: In Grossbritannien beispielsweise wurde im Jahr 2018 ein Einsamkeitsministerium gegründet – dies unter anderem aufgrund von Studien, die auf schwerwiegende gesundheitliche Konsequenzen wie Depressionen oder Angst­erkrankungen für sich dauerhaft einsam fühlende Menschen hinweisen.

Das Ministerium unterstützt die Regierung in ihren Bemühungen, Menschen aus der Einsamkeit zu holen und versucht mit diversen Projekten und Kampagnen auf das Thema aufmerksam zu machen. Unter dem Motto «let’s talk loneliness» will das Ministerium Einsamkeit enttabuisieren und erreichen, dass Menschen gar nicht erst einsam werden.

Grosse, einsame Welt

Dass Einsamkeit aufgrund langfristig fehlenden Körperkontakts in der heutigen Gesellschaft zunehmend zum Problem wird, liegt auch daran, dass viele Menschen ihr soziales Netz nicht mehr unmittelbar um sich haben. Dies bedeutet nicht nur, dass die Sicherheit und Geborgenheit, die einem ein soziales Netz geben kann, fehlen, sondern auch Berührungen.

Für die Generation unserer Urgrosseltern hingegen war die Welt und somit auch ihr soziales Netz gefühlt viel kleiner. Sie bewegten sich in einem kleineren Umkreis, sowohl geographisch als auch sozial und lebten meist in einem Mehrgenerationenhaushalt. In der heutigen weit vernetzten und komplexen Welt kann Mensch sich hingegen leicht verlieren oder zumindest verloren fühlen.

Eine zusätzliche Herausforderung stellt die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft dar. Denn sie geht einher mit der Tabuisierung von Nähe und Berührung in allen zwischenmenschlichen Beziehungen ausser der Liebesbeziehung. In unserem Alltagsverständnis wird Intimität häufig mit Sexualität oder Sex gleichgesetzt. Sie ist allerdings weit mehr als das.

Intimität ohne Sex

Ein Gefühl von Intimität kann sich durch ein gutes Gespräch, eine innige Umarmung oder auch durch intensiven Augenkontakt einstellen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass intime Berührungen wie beispielsweise eine innige Umarmung keinen sexuellen Touch haben müssen. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil wir Menschen gerade diesen nicht-sexuellen Körperkontakt unbedingt brauchen, um gesund zu bleiben und nicht in Einsamkeit oder Angst zu versinken, wie dies die oben erwähnten Studien deutlich zeigen.

Eine Kuschelparty ist ganz klar ein sexfreier Ort – die Kleider bleiben an!

Dieser Ansicht war auch Virginia Satir, eine bedeutende amerikanische Familien- und Psychotherapeutin. In Bezug auf das Bedürfnis des Menschen nach Nähe meinte sie: «We need 4 hugs a day for survival. We need 8 hugs a day for maintenance. We need 12 hugs a day for growth.» Viele werden sich nun denken: «Zwölf Umarmungen am Tag? Ich komme an manchen Tagen nicht einmal auf vier…» – Ist unsere Gesellschaft also unterkuschelt?

Kuschelpartys auf dem Vormarsch

Ein Indiz für eine unterkuschelte Gesellschaft sind sogenannte Kuschelpartys. Diese werden ausgehend von den USA, wo 2004 die weltweit allererste Kuschelparty stattgefunden hat, auch in diversen Städten Europas veranstaltet. So holte beispielsweise Rosi Doebner, Kuscheltrainerin und Kuschelparty-Pionierin, die in den USA als «Cuddle Parties» bekannten Kuschelpartys im Jahre 2005 nach Berlin. Hier wie in den USA werden solche Events seitdem rege besucht.

Eine Kuschelparty ist eine Veranstaltung, bei der sich Menschen verschiedenen Alters, die sich für gewöhnlich noch nie zuvor begegnet sind, treffen, um miteinander zu kuscheln. Und dies, ohne dabei irgendwelche sexuellen Absichten zu verfolgen. Eine Kuschelparty ist dementsprechend ganz klar ein sexfreier Ort, an dem der Sexualität bewusst keinen Raum gegeben wird und die nicht-sexuelle Berührung im Vordergrund steht. Das heisst: die Kleidung bleibt an! Wer an einer solchen Veranstaltung teilnimmt, muss sich also an einige Regeln halten: Es wird nicht ohne die Einwilligung des anderen berührt; Ja heisst Ja und Nein heisst Nein, ein Vielleicht wird als Nein gewertet; Respekt wird grossgeschrieben und es gibt keinen Kuschelzwang.

Nah, näher, am nächsten: Gemeinsames Kuscheln an einer Kuschelparty. Bild: Screenshot Youtube

Ausserdem wird im Vornherein kommuniziert, dass alle Gefühle, die während der Teilnahme aufkommen, willkommen sind. Je nach Kuscheltrainer*in können die Veranstaltungen zwar in ihren Details variieren, der Aufbau ist aber meist ähnlich. Angelika Weber zufolge, die in Bern selbst solche Kuschelabende leitet, besteht der «klassische» Aufbau aus drei Phasen: Die Kennenlernphase, die Verwöhnungsphase und die Kuschelphase.

Zuerst geht es darum, anzukommen, die anderen Teilnehmer*innen kennenzulernen und miteinander in einen ersten Kontakt zu treten. Dabei werden einige Übungen gemacht, beispielsweise Tanzübungen, um die Teilnehmer*innen in die Bewegung und somit in ihren Körper zu bringen und ihre eigene Körperwahrnehmung zu stärken. Die Teilnehmer*innen sollen dabei ihren Alltag loslassen, innehalten und in sich hineinspüren. Der Fokus dieser ersten Phase liegt noch nicht auf dem Berühren des anderen, trotzdem kann es schon zu leichtem Körperkontakt kommen.

Geben und Nehmen

In der Verwöhnungsphase werden die Kuschler*innen immer noch mit gezielten Übungen auf die dritte Phase, das eigent­liche Kuscheln, vorbereitet, beispielweise mit der sogenannten Engelsübung. Dabei liegt jeweils eine Person mit geschlossenen Augen auf einer Matratze und wird nach ihren Wünschen von zwei anderen Personen berührt. Die Person, die berührt wird, kann ihre Wünsche jederzeit ändern und zurücknehmen. Es geht dabei um ein Geben und Nehmen.

In der letzten Phase, dem eigentlichen Highlight jeder Kuschelparty, wird nun endlich kollektiv gekuschelt. Dazu werden alle Matratzen zusammengeschoben, das Licht ein wenig gedimmt und entspannende Musik aufgelegt. Um den Teilnehmer*innen den Einstieg in die Kuschelphase zu erleichtern, wird das Kuscheln von der Kuscheltrainerin oder dem Kuscheltrainer angeleitet, indem er oder sie bestimmte Fragen stellt wie: Möchte ich gehalten werden? Stimmt diese Berührung für mich? Oder möchte ich vielleicht etwas anderes ausprobieren?

Einsamkeit ist ein Gesundheitsrisiko.

Die Person, die das Kuscheln leitet, ist dafür verantwortlich, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem sich die Teilnehmer*innen wohlfühlen und sich so vollumfänglich auf das Geschehen einlassen können. Dabei können sich die Teilnehmer*innen zu jedem Zeitpunkt zurückziehen, wenn es ihnen zu viel wird oder sie sich unwohl fühlen.

Kuscheltrainerin Angelika Weber sagt, dass die Teilnehmer*innen nach dem Kuschelabend überwiegend genährt und zufrieden nach Hause gehen. Das Feedback der Teilnehmer*innen sei durchwegs positiv und stimme mit den Ergebnissen diverser Studien überein, die sagen, dass sich Kuscheln positiv auf das Wohlbefinden und die Gesundheit des Menschen auswirken kann. So fördert beispielsweise das beim Kuscheln ausgeschüttete Hormon Oxytocin, auch Bindungs- oder Kuschelhormon genannt, den Aufbau von Beziehungen und Vertrauen, reduziert Stress und Angst und unterstützt das Immunsystem.

Den Horizont erweitern

Neben der Berührung und den positiven Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden gibt es Angelika Weber zufolge eine Vielzahl weiterer Gründe für die Teilnahme an einem Kuschelabend. Einige kämen, um sich aus ihrer Komfortzone zu trauen und ihre Grenzen zu erweitern. Andere wiederum, um zu lernen, Grenzen zu ziehen und Nein zu sagen.

Wieder andere möchten nicht nur sich und andere bewusst wahrnehmen, sondern auch selbst bewusst wahrgenommen werden. Sie erzählt, dass die Verteilung der Geschlechter ziemlich ausgeglichen sei. Die Altersspanne der Teilnehmer*innen reiche von ca. 30 Jahren bis Ende 60. Es habe aber durchaus auch schon solche gegeben, die jünger als 30 oder älter als 60 Jahre alt waren. Unabhängig vom Alter und Geschlecht sei eins aber allen Teilnehmer*innen gemein, sagt Angelika Weber: Die leuchtenden Augen am Ende des 3-stündigen Kuschelabends.

(K)ein Wundermittel?

Berührung kann, wie bereits erwähnt, durchaus positive Effekte auf das physische und psychische Wohlbefinden haben. In diesem Sinne sind Kuschelpartys eine gute Möglichkeit für Menschen, die in ihrem Leben keine oder zu wenig Berührung erhalten, diese an einem geschützten Ort erfahren zu dürfen – an einem Ort, an dem Regeln und Grenzen von Anfang an klar definiert sind und allen Teilnehmer*innen bewusst ist: Hier geht es nicht um Sex.

Allerdings sind Kuschelpartys kein Allheilmittel für Einsamkeit, da diese nicht immer nur als Symptom mangelnder Berührung auftreten kann. Zudem kann das Konzept der Kuschelpartys – mit fremden Menschen zu kuscheln – für viele Menschen gerade auch ein Hindernis dafür darstellen, Nähe zulassen und geniessen zu können. Für diejenigen, die sich trotz gemischten Gefühlen trauen, an einer Kuschelparty teilzunehmen, kann es durchaus eine Chance bedeuten.

Hier sind dann aber das Einfühlungsvermögen und eine profunde Ausbildung der Kuscheltrainer*innen zentral. «Alle Gefühle sind willkommen» – dann muss aber auch eine Person da sein, die die Fähigkeit hat, die Teilnehmer*innen im Umgang mit ihren Gefühlen zu unterstützen und sie aufzufangen. Abgesehen davon, ob man sich nun vorstellen kann, an einer Kuschelparty teilzunehmen oder nicht, glaube ich, es würde unserer Gesellschaft nicht schaden, mehr zu kuscheln – also: Let’s cuddle.

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