«Es findet eine Gentrifizierung des Alpenraums statt.»

Foto: Cyril Holtz

12. Mai 2021

Von und

Prof. Dr. Heinzpeter Znoj ist Sozialanthropologe und Teil des Forschungsprojekts Silicon Mountains, das sich mit den Alpen im Zeitalter der Digitalisierung beschäftigt. Wir haben mit ihm über «Digital Nomads», Kryptomining und die Folgen der Digitalisierung für den Alpenraum gesprochen.

Herr Znoj, die Frage liegt auf der Hand. Mutieren die Alpen zum neuen Silicon Valley?

Das glaube ich nicht. Der Name des Projekts ist natürlich ein Wortspiel. Trotzdem gehen wir davon aus, dass die Digitalisierung den Lebensraum der Alpen verändern wird. Dies zeigt sich in unterschiedlichster Weise. Uns interessiert einerseits die Veränderung oder gar Aufhebung des Raums, aber auch Fragen zur Auswirkung der digitalen Transformationen aus einer geografischen Perspektive.

Was meinen Sie mit der Veränderung des Raumes?

Die Berge waren historisch gesehen eine Randregion. Die Industrialisierung hat nicht in den Bergen stattgefunden. Oder nur ganz spezifisch, dort wo man billig Strom beziehen konnte, weshalb die Bergregionen grundsätzlich strukturschwach waren. Erst der Tourismus hat das geändert. Durch diesen haben gewisse Regionen Anschluss gefunden. Wir vom Silicon Mountains Projekt haben nun die Hypothese aufgestellt, dass die Hierarchie zwischen Mittelland und Bergregionen sich ausgleichen könnte.


Zum Projekt:

Silicon Mountains ist eine Forschungsplattform am Walter-Benjamin-Kolleg der Universität Bern. Das am Institut für Sozialanthropologie entstandene Projekt befasst sich mit den Schweizer Alpen im digitalen Zeitalter und geht der Frage nach, zu welchen ökonomischen, kulturellen und politischen Veränderungen Digitalisierungsprozesse im Alpinen Raum führen. Prof. Dr. Heinzpeter Znoj ist Direktor am Institut für Sozialanthropologie und massgeblich am Silicon Mountains Projekt beteiligt, mit besonderem Interesse an den Prozessen des Kryptominings.


Inwiefern äussert sich das?

Eine gut zu beobachtende Entwicklung ist, dass vermehrt sogenannte «Digital Nomads» in die Alpenregion ziehen und von dort aus im Home-Office arbeiten. Das wird auch beworben. So beispielsweise mit dem Projekt Via Engiadina.

Was ist das genau?

Es handelt sich dabei um eine Zusammenarbeit der Swisscom mit lokalen Behörden im Unterengadin, im Rahmen derer ein schnelles Internetnetz installiert wurde. Einerseits um Arbeitsplätze zu schaffen, so dass die Einheimischen nicht wegziehen, andererseits eben auch um kreative, digitale Industrien anzulocken.

Woher kommen diese «Digital Nomads»? Aus dem Ausland?

[schmunzelt] Nein, das sind Zürcher, die sowieso gerne ins Bündnerland fahren. Gerade auch die Coronapandemie gibt dieser Entwicklung einen Schub. Home-Office ist gesellschaftlich viel akzeptierter geworden. Plötzlich können Leute dort arbeiten und wohnen, wo sie bisher nur in den Ferien waren. Das ist eigentlich eine Gentrifizierung des Alpenraums.

«Als ‹Digital Nomad› möchte man sich von den Zwängen der Stadt befreien.»

Auf der Homepage von Silicon Mountains schreiben Sie, dass die Digitalisierungsprozesse auch mit einer neuen Imagination alter Ideologien wie Freiheit und Autonomie einhergehen. Können Sie das etwas genauer erklären?

Die meisten Leute, die in die Berge kommen, möchten auch das Alltagsleben hinter sich lassen. Sie suchen nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung, ähnlich wie in der Tell-Geschichte. Und gerade der Nomadismus vermittelt dieses Gefühl von Freiheit. Auch das Bild der korrupten Stadt spielt hier eine Rolle – das ist das «Heidi-Motiv». Als «Digital Nomad» möchte man sich von den Zwängen der Stadt befreien.

Findet eine Desillusionierung statt, wenn diese Vorstellungen auf die reale Welt treffen?

Ich denke, wir erleben diese jetzt alle auch im Home-Office. Die Stadt ist ja auch deswegen ein besonders guter Lebensraum, weil man kurze Wege hat und Leute einfach treffen kann – was durch die Arbeit im Home-Office wegfällt. Als digitaler Nomade ist man auch abgeschnitten und befindet sich in einem sozialen Raum, der einem fremd ist und in dem man auch nicht immer willkommen ist. Man trägt zur Gentrifizierung der Berge bei. Und die Einheimischen sehen das nicht nur mit Begeisterung.

Foto: Cyril Holtz

Entsteht ein Stadt-Land-Graben auf dem Land selber?

Das kann man so sagen. Und die gesuchte Freiheit findet sich auch nicht immer. Wer nur digital arbeitet, muss selbstdiszipliniert sein. Nicht nur der Raum ist weniger strukturiert, sondern auch die Zeit.

Sie haben nun schon mehrfach von einer Gentrifizierung des Alpenraums gesprochen. Was sind die sozialen und politischen Folgen, wenn «Digital Nomads» auf ländliche Dorfstrukturen treffen?

Die Dorfgemeinschaft lebt davon, dass Menschen miteinander aufwachsen. Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Altersstruktur ausgeglichen bleiben sollte – nicht nur junge «Digital Nomads» und alte Einheimische, sondern eben eine Dorfgemeinschaft aus unterschiedlichsten Generationen. Positive Entwicklungen können entstehen, wenn die «Digital Nomads» ihr nomadisches Leben beenden und sich in der Alpenregion niederlassen. Schicken sie dann ihre Kinder in die öffentliche Schule, kann eine starke Dorfgemeinschaft entstehen, in der unterschiedliche Einwohner und Einwohnerinnen auch gemeinsame Interessen haben.

Entscheidend ist zudem, dass auch die einheimische Bevölkerung von der Digitalisierung profitieren kann, indem neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden und so dem Brain-Drain entgegengewirkt werden kann. So könnten junge Einheimische neben der landwirtschaftlichen Tätigkeit von zu Hause aus ergänzend einen digitalen Job übernehmen.

Das bedeutet also die Herausbildung von hybriden Lebens­formen?

Ja, aber solche hybriden Lebensformen gibt es in den Bergregionen schon seit den 1950er-Jahren. Beispielsweise der Teilzeit-Bauer im Wallis, der nebenbei auch bei der Lonza arbeitet.

Würden Sie also sagen, die Digitalisierung ist in diesem Sinn eine Chance für die Bergdörfer?

Kann, muss aber nicht. Die Entwicklung im alpinen Raum ist extrem ungleich. Gesellschaftliche Konflikte sieht man beispielsweise im Obergoms. Dort gibt es sehr viele neu zugezogene Schweizer Pensionierte, die nun an diesem Ort ein Stimmrecht haben. Das hat einen grossen Einfluss auf die Gemeindepolitik, was für die Einheimischen natürlich eine rechte Bedrohung ist und zu starken Konflikten führen kann. Das ist die Folge einer Gentrifizierung, die zwar nicht durch die Digitalisierung ausgelöst, aber von ihr unterstützt wird.

«Daten sind das neue Gold – so wie die Schweiz das Gold der Welt eingelagert hat, kann sie nun auch die Daten bunkern.»

Die zunehmende Mobilität hat es gerade für Städter viel einfacher gemacht, eine Wohnung in den Bergen zu besitzen. Auch aufgrund der Digitalisierung sind es nun eben nicht mehr nur die Reichen und die Rentner, die sich eine Zweitwohnung leisten können, sondern vermehrt auch Arbeitnehmer. Das hat auch einen Einfluss auf die Immobilienpreise. In Gstaad können sich viele Einheimische überhaupt nicht mehr leisten, im Dorf selbst zu leben, wegen der steigenden Immobilienpreise. Das sind gefährliche Entwicklungen. Und was noch dazu kommt: Wenn die dauernde Bevölkerung in den Bergen zunimmt, muss auch der Dienstleistungssektor wachsen. Silicon Mountains hat auch die andere, die physische Seite. Jemand muss ja die «chicen» Chalets putzen und das werden wahrscheinlich ausländische Arbeitskräfte sein.

Im Rahmen des Silicon Mountains wurden auch Forschungen zu Kryptomining durchgeführt. Weshalb bietet sich die Schweiz für das Schürfen von Bitcoins und anderen Kryptowährungen an?

Das ist ein weiterer Aspekt des Projekts: Die strategischen Vorteile des Alpenraums im Zusammenhang mit der Digitalisierung. Dafür ist der Bitcoin ein gutes Beispiel. Der Strom ist billig in den Alpen und die Serverfarmen können aufgrund topografischer Gegebenheiten gut gekühlt werden. Wir haben in der Schweiz auch schon eine entsprechende Stolleninfrastruktur. Das zieht gewisse Leute an. Eine Zeit lang war zum Beispiel eine Miningfirma in Gondo ansässig, weil sie dort extrem billigen Strom über die Gemeinde beziehen konnten. Nach dem Einbruch des Bitcoins-Kurses ist die Firma nun aber weiter nach Schweden gezogen.

Foto: Cyril Holtz

Kryptomining braucht ja unglaubliche Mengen an Energie – stehen Sie da nicht auch im Konflikt mit Wassernutzung als nachhaltiger Stromressource?

Natürlich. Es ist absurd. Das ganze Kryptomining ist absurd. Es verschlingt ungeheure Mengen an Energie – in diesem Fall nachhaltige Energie, die dann an etwas überhaupt nicht Nachhaltiges wie Kryptomining verschwendet wird. Das ist eine Perversion. Und das kann durchaus auch zu Nutzungskonflikten mit einheimischen Stromkonsumenten führen. In Oregon hat beispielsweise die lokale Bevölkerung vor einigen Jahren gegen ein Kryptominingunternehmen protestiert, weil diese das lokale Stromnetz vollkommen überlastete.

Neben Kryptomining gibt es auch digitale Industrien, die in die Sicherung von Daten investieren, so zum Beispiel die Firma Swiss Fort Knox in Gstaad. Ist dort die Energie auch ein potenzielles Konfliktthema?

Ja, weil diese Datenserver gekühlt werden müssen. Silvia Berger Ziauddin hat das bei Swiss Fort Knox untersucht. Sie müssen sich vorstellen: Das ist eine Datenfirma in einem ehemaligen Armeebunker, die ihre Server mit Grundwasser kühlt. Das Wasser wird durch den Kühlvorgang einige Grad wärmer und dann in die umliegenden Gewässer geleitet, wodurch die Saane immer wärmer wird. Im Oberlauf ist sie schon jetzt zu warm. Das ist zum Beispiel für die Forelle ein Problem, deren Weibchen sterben, wenn das Wasser wärmer als 25 Grad ist.

Welche Art Daten werden in diesen Bunkern gespeichert?

Das wird sehr geheim gehalten. Es sind private Kunden und das gehört zum Service.

«Swiss Fort Knox» – ist das auch ein Bild, an das man sich anlehnt?

Ja, sehr stark. Der Réduit-Mythos wird hier natürlich auch wiederbelebt. Die Darstellung, dass die Schweizer Alpen als Raum sicher und uneinnehmbar sind und auch von besonders zuverlässigen Menschen bewohnt werden. Ausserdem beschützt das originale «Fort Knox» die amerikanischen Edelmetallreserven. Die Symbolik ist klar: Daten sind das neue Gold. Und so wie die Schweiz das Gold der Welt eingelagert hat, kann es nun auch die Daten bunkern. Natürlich ist es ein Mythos oder vielmehr eine Werbestrategie. Aber es gibt sehr viele Leute, die bereit sind, in solche Projekte zu investieren, gerade weil die technischen Lösungen dahinter überzeugen.

«Digital Nomads», Kryptomining – welche weiteren digitalen Technologien werden bei Silicon Mountains untersucht? Zum Beispiel im Bereich der Informationsverarbeitung?

Stark betroffen von Neuerungen im Zusammenhang mit der Datenverarbeitung ist die Berglandwirtschaft. Wie alle Bauern müssen sie fortlaufend ihren Viehbestand, die Medikamentenabgabe an Tiere oder auch die Verwendung von Insektiziden in Datenbanken erfassen. Wobei die Erfassung solcher Daten auch an die Ausschüttung von Subventionen geknüpft ist. Die Digitalisierung führt so zu einer Bürokratisierung der landwirtschaftlichen Betriebe. Indem Bergbauern einen wesentlichen Teil ihrer Zeit für die Dokumentation ihrer Arbeit aufwenden müssen, verändert sich deren Arbeitsweise entscheidend. Es entsteht eine neue Art der Selbstdisziplinierung. Auch die Idee der Freiheit wird damit in Frage gestellt. Der Bergbauer, der lange Zeit als Symbol der Freiheit galt, sieht sich plötzlich selbst gefangen in diesen digitalen Netzwerken der Datenverarbeitung und Bürokratie.

Auf der Homepage findet sich auch ein Blogbeitrag über die Anwendung digitaler Technologie im Herdenschutz.

Im Bereich des Herdenschutzes und Raubtiermanagements finden mittlerweile vermehrt digitale Technologien Anwendung. Zum Beispiel Chipsender, die mit Apps verbunden sind, mit deren Hilfe Hirten die Bewegungen ihrer Schafe beobachten können. Anhand dieser Bewegungen hofft man, frühzeitig erkennen zu können, wann sich die Schafe bedroht fühlen, beispielsweise von einem Wolf. Eine Art Frühwarnsystem.

«Die Digitalisierung führt zu einer Bürokratisierung der landwirtschaftlichen Betriebe.»

Dadurch werden Einblicke in die Natur ermöglicht, die früher nicht möglich waren.

Das ist sicher so. Die Natur steht nicht länger der Technik oder der Kultur gegenüber. Dabei entstehen Mischwesen. Der Wolf oder die Schafe sind nicht länger nur «natürliche» Tiere, sondern Wesen, die über Technologie sicht- und kontrollierbar gemacht werden. Was wir unter «Natur» verstehen, befindet sich momentan im Wandel. Und uns interessiert, wie Akteure der Natur in digitale Netzwerke integriert werden.

Ist diese Vermischung von Kultur und Natur von spezifisch sozialanthropologischem Interesse?

Spezifisch sozialanthropologisch ist, solche Digitalisierungsprozesse mit einem ganzheitlichen Blick zu untersuchen. Das heisst, wir untersuchen im Rahmen von traditionellen ethnographischen Dorfstudien gleichzeitig die digitale Bürokratisierung der Landwirtschaft, den Herdenschutz mit Hilfe von Apps, den sozialen Einfluss von Home-Office-Migranten und die Folgen der digitalen Datenspeicherung für die lokale Bevölkerung, und welche Nutzungskonflikte damit einhergehen.

Solch umfassende Analysen im Rahmen von Bachelor- oder Masterarbeiten möchten wir im Silicon Mountains-Forschungsschwerpunkt fördern. Dafür ist es wichtig, selbst hinzugehen und mit den Leuten zu sprechen. Das ist auch eine spezifisch sozialanthropologische Herangehensweise: Wir betrachten Anwohner als Experten ihres sozialen Lebens. Aus ihrem Wissen können dann im Gespräch gemeinsam Erkenntnisse geschöpft werden.

Könnten Ihre Forschungsergebnisse vielleicht auch zu Veränderungen im Umgang mit der Digitalisierung führen?

Durch den ganzheitlichen Ansatz könnte es uns durchaus gelingen, dass wir Entwicklungen erkennen, die anderen verborgen bleiben. Zum Beispiel den Einfluss der verstärkten digitalen Bürokratisierung der Berglandwirtschaft auf traditionelle Formen der Zusammenarbeit und überhaupt darauf, ob, von wem und wie die Berglandwirtschaft betrieben wird.

«Wolf oder Schafe sind nicht länger nur ‹natürliche› Tiere, sondern Wesen, die über Technologie sicht- und kontrollierbar gemacht werden.»

Das Projekt ist zwar am Institut für Sozialanthropologie beheimatet. Sie haben mittlerweile aber ein starkes interdisziplinäres Netzwerk aufgebaut, das über die Grenzen hinaus bis ins italienische Aostatal reicht. Zeigen sich dort ähnliche Entwicklungen wie in den Schweizer Alpenräumen?

Wenn man aus der Schweiz kommt und den norditalienischen Alpenraum besucht, kann es etwas schockierend sein, wie viele Alpen dort überhaupt nicht mehr bewirtschaftet werden und wie ausgestorben manche Dörfer sind. Entscheidende Voraussetzung, dass sich «Digital Mountains» bilden können, ist eine funktionierende Infrastruktur und lebendige Dörfer, mit Beizen und Schulen, was im norditalienischen Alpenraum viel weniger gegeben ist. Und wenn entscheidende Strukturen verloren gehen, ist es sehr schwierig, diese wieder aufzubauen. Die Vorteile der Digitalisierung können ein abgeschiedenes Tal allein nicht retten. Das könnten höchstens grosse Firmen – wer weiss, vielleicht baut Google plötzlich einen Alpencampus in den norditalienischen Alpen. [lacht] Da fällt mir eine Geschichte ein: Ich war mit meiner Frau in Mürren in einem Restaurant. Neben uns sass eine grosse Gruppe, die Englisch miteinander sprach, und die wir nicht richtig einordnen konnten. Ich habe dann einen Mann gefragt, wer sie sind. Er meinte: Wir sind Google.

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