«Pushbacks sind zur Normalität geworden»
Hope Barker sagt von sich, sie könnte ewig reden, wenn es um Pushbacks am Fluss Evros geht. In Thessaloniki unterhielten wir uns mit der Menschenrechtsaktivistin über Gewalt an Europas Aussengrenzen und wie sie dagegen ankämpft.
Hope, du koordinierst zwei Organisationen, erarbeitest Advocacy-Strategien, unterstützt daneben Menschen auf der Flucht in verschiedensten Lebenslagen. Und du hast gerade ein zweibändiges Buch von fast 1500 Seiten herausgegeben. Das klingt nach sehr viel Arbeit. Was treibt dich an?
Primär ist es ein Job, der mir gefällt. Es ist für mich eher eine Berufung als eine reguläre Arbeit. So etwas macht man, weil es einen glücklich macht und nicht um einer Karriere willen. Was mich aber vor allem antreibt, ist: Die Situation ist einfach fucked up. Wenn man die einmal kennt, dann kann man sich nicht mehr von diesem Wissen befreien. Das macht es schwierig, zurückzukehren und etwas anderes zu tun.
Du hast also nichts anderes mehr getan, seit du mit der Flüchtlingssituation in Griechenland in Berührung gekommen bist?
Doch, bevor ich für meine Arbeit in Griechenland bezahlt wurde, arbeitete ich jeweils für sechs Monate in London, um dann den Rest des Jahres hier aktiv zu sein. Und ich fand es absurd, in einer Londoner Cocktailbar zu jobben und gleichzeitig zu wissen, was hier abgeht.
Was geht denn hier in Thessaloniki ab? In europäischen Medien liegt der Fokus oft auf den griechischen Inseln, von wo Bilder von überfüllten Gummibooten und improvisierten Lagern um die Welt gehen. Was passiert auf dem nördlichen Festland?
Die Situation für Asylsuchende ist auch hier desolat. Der Zugang zum Asylsystem in Griechenland ist praktisch unmöglich. Entsprechend viele Menschen stecken hier fest in einer Limbo – während sie erfolglos versuchen, ein Asylgesuch zu stellen, halten sie sich illegal auf und riskieren, festgenommen oder deportiert zu werden. Dabei leben viele auf der Strasse. Hinzu kommt, dass die Inhaftierung von Menschen auf der Flucht sowie Pushbacks zu einer Normalität geworden sind – selbst für Menschen mit legalem Aufenthaltsstatus.
Was genau ist ein Pushback?
Pushback bedeutet, dass Personen illegal über eine Grenze zurückgeführt werden. In der Regel in das Land zurück, wo sie herkamen, aber selbst das ist nicht immer der Fall.
«Ich fand es absurd in einer Londoner Cocktailbar zu jobben und gleichzeitig zu wissen, was hier abgeht.»
Was ist daran illegal?
Wer einen EU-Mitgliedsstaat betritt, hat das Recht, dort einen Asylantrag zu stellen. Dieser muss geprüft werden und es muss die Möglichkeit bestehen, einen ablehnenden Entscheid anzufechten. Das sind Rechte, die Staaten allen Personen auf ihrem Gebiet gewähren müssen. Sie sind dazu durch internationales Recht verpflichtet.
Und bei einem Pushback werden diese Rechte verletzt.
Ja, indem Menschen ohne jede Behandlung ihres Falls direkt wieder über eine Grenze geschickt werden. Das ist der Unterschied zu einer Ausweisung oder Ausschaffung – diese geschehen innerhalb eines rechtlichen Rahmens nach der Ablehnung eines Asylgesuchs. Oft sind Pushbacks zudem enorm gewaltvoll und verletzen damit zusätzlich Menschenrechte wie das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung.
Das «Border Violence Monitoring Network» dokumentiert seit 2016 Pushbacks an den EU-Aussengrenzen. Im Dezember 2020 hat das Netzwerk ein Buch im Europäischen Parlament veröffentlicht: «The Black Book of Pushbacks». Du bist Co-Herausgeberin. Wie ist das Buch entstanden?
Das «Border Violence Monitoring Network» begann nach der Schliessung der Balkanroute zu dokumentieren, was an den Grenzen geschieht. Das war die Reaktion auf eine institutionelle Lücke: Niemand überwachte diese Menschenrechtsverletzungen. Also füllten wir diese Lücke mit Grassroots-Gruppierungen, die im Feld arbeiten, betroffenen Menschen helfen und daneben aufzeigen, was geschieht. Das «Black Book of Pushbacks» ist die Kulmination von vier Jahren dieser Arbeit.
«Niemand scheint etwas zu wissen, und die, die es wissen, scheint es nicht zu kümmern.»
Das heisst?
Wir haben damit in Buchform alles Beweismaterial zu Pushbacks und Grenzgewalt veröffentlicht, das wir in vier Jahren gesammelt haben – und das ist viel. 892 Berichte, gestützt auf Interviews, die Pushback-Erlebnisse entlang der Balkanroute von fast 13’000 Menschen beschreiben. Und das ist nur, was wir dokumentiert haben. Insgesamt sind es natürlich noch viel mehr Fälle.
Apropos Beweismaterial: Das Netzwerk arbeitet mit Interviews, die anonym in Form von Berichten auf einer Website veröffentlicht werden. Das Buch ist eine gedruckte Sammlung dieser Berichte. Wird das von einer breiteren Öffentlichkeit als «Beweis» anerkannt?
Klar, manchmal wird uns vorgehalten, dass es ja nur Geschichten seien, die irgendwelche Leute erzählten. Dass die Leute lügen könnten. Nun, wenn mir jemand sagt, er sei Opfer eines Pushbacks von Griechenland in die Türkei geworden, dann kann ich seine Geschichte oft ziemlich genau voraussagen. Ich weiss, in welche Polizeistationen er wahrscheinlich gebracht wurde, welche Techniken die Polizei angewendet hat und welche Gewalt.
Inwiefern verbessert das die Beweisqualität der Berichte?
Dieselben Geschichten werden immer wieder erzählt. Von Menschen mit unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlichen Sprachen, bei unterschiedlichen Interviewenden und Übersetzern. Das müsste eine der grössten Verschwörungstheorien aller Zeiten sein, wenn das alles erfunden wäre. Ausserdem publizieren wir auch Fakten wie die Koordinaten von Ereignissen, Bilder von Verletzungen, medizinische Atteste oder Videos von Polizeigewalt.
Wie läuft denn ein typischer Pushback ab?
Ich spreche jetzt spezifisch über Pushbacks an der griechisch-türkischen Landgrenze. Es gibt auch Pushbacks auf dem Meer, aber hier in Thessaloniki haben wir mit Rückführungen über den Grenzfluss Evros zu tun. Dieses Gebiet ist hoch militarisiert und abgesichert.
Okay. Ein typischer Land-Pushback also.
Der «klassische» Pushback verläuft so, dass Menschen den Fluss überqueren und, nicht weit von der Grenze entfernt, von der griechischen Polizei verhaftet werden. Dann werden sie in informelle Haftanlagen gesteckt. Das können alte Militärgebäude sein, frühere Polizeistationen oder auch verlassene Scheunen. Dort werden sie eingesperrt und «gesammelt», bis die Gruppen eine Grösse von 100 Personen oder mehr erreicht haben.
Was geschieht in diesen Haftanstalten?
In Haft werden die Menschen oft schwer misshandelt von Polizisten, die ihre Gesichter hinter Sturmmasken verstecken. Frauen und Männer werden gezwungen, sich in der Gruppe nackt auszuziehen, ihre Kleider werden verbrannt, sie werden mit Schlagstöcken brutal geschlagen oder mit Tasern gequält. Manchen wird der Kopf rasiert.
Und dann?
Dann, wenn die Gruppe gross genug ist, werden sie zum Fluss Evros transportiert, in Gummiboote gesteckt und zurück in die Türkei gebracht. Oft werden sie gezwungen, ins Wasser zu springen. Wer nicht schwimmen kann, hat Pech.
Eine neue Beobachtung ist, dass die Gummiboote jetzt oft von Menschen gelenkt werden, die selber auf der Flucht sind und denen die griechischen Polizisten angeblich Papiere versprechen, wenn sie kooperieren. So hält sich die Polizei fein raus.
Stellt ihr weitere Entwicklungen fest? Verändert sich die Praxis?
Ja. In Griechenland ist seit 2019 die rechte Partei «Nea Demokratia» an der Macht. Seither beobachten wir, wie Pushbacks immer brutaler und systematischer werden. Neuerdings erleben wir immer öfter, wie Menschen auch tief im griechischen Inland festgenommen und zurück an die türkische Grenze transportiert werden. Die Praxis ist nicht mehr nur auf Grenzregionen beschränkt.
Maskierte Polizisten foltern nackte Menschen in verlassenen Scheunen – was du erzählst, klingt nach Horrorfilm. Wie kann es sein, dass solche Dinge wirklich in Europa passieren und niemand etwas tut?
Wenn ich es so ausspreche wie jetzt, dann merke ich, wie unglaublich das alles ist. Dass Menschen so misshandelt werden an Europas Aussengrenzen. Manche sterben sogar – nicht direkt durch die Polizeigewalt, aber als Auswirkung dieses Grenzregimes. Und niemand scheint etwas zu wissen, und die, die es wissen, scheint es nicht zu kümmern.
Wer weiss es, aber kümmert sich nicht?
Ich glaube, wir sind heute an einem Punkt, wo man kaum noch behaupten kann, dass nationale Regierungen und auch die Europäische Kommission nichts wissen. Wenn sie nicht behaupten wollen, dass jede einzelne Aussage in unserem Buch eine Lüge ist, dann müssen sie zugeben, dass diese Dinge passieren. Die Beweislage ist zu erdrückend, um sich mit Nichtwissen zu entschuldigen.
Und warum ändern sie nichts?
Die EU stellt sich auf die Seite, die Menschenrechte verletzt. Das sah man im Februar 2020, als Erdoğan die Grenzen zu Griechenland öffnete. Griechenlands Antwort darauf waren Tränengas, Gummischrot und die Suspendierung des Asylsystems. Und die Antwort der EU war, eine Frontex-Spezialeinheit an die Grenze zu senden und Griechenland in dieser «Notlage» beizustehen.
Das Problem ist also nicht Unwissen, sondern fehlender Wille, etwas zu verändern.
Ich glaube, das Problem an der ganzen Situation ist einerseits, dass die Entscheidungsträger*innen wissen, aber sich nicht kümmern, weil das der Preis ist, den sie für die Festung Europa zu zahlen bereit sind. Die durchschnittliche Bevölkerung Europas andererseits weiss jedoch nichts über die Situation. Das bedeutet, dass top-down-Veränderung nicht geschehen wird, weil der politische Wille fehlt, und bottom-up passiert auch nichts, weil das Wissen fehlt. Die Situation ist festgefahren.
«Das müsste eine der grössten Verschwörungstheorien aller Zeiten sein, wenn das alles erfunden wäre.»
Wieso erreichen diese Informationen die Durchschnittsbevölkerung nicht?
Gerade in Zeiten wie diesen, wo wir eine Pandemie haben und eine Krise nach der anderen – in Grossbritannien zum Beispiel haben wir den Brexit, eine konservative Regierung, Rekordzahlen bei der Kinderarmut – ich glaube, da erreicht diese Art von Information eine durchschnittliche Person in England einfach nicht.
Trägt das «Border Violence Monitoring Network» dazu bei, diesen Informationsfluss zu verbessern?
Ja. Auch wenn es schwierig ist, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, beobachten wir doch, dass die Diskussion über Pushbacks langsam aber sicher an Aufmerksamkeit gewinnt. Grosse Medien wie «The Guardian», «der Spiegel» oder «BBC» haben das Thema aufgegriffen, das Europäische Parlament debattiert zum ersten Mal substantiiert darüber, auch UNHCR und grosse internationale NGOs werden aktiv. Ich glaube, dass das «Border Violence Monitoring Network» und andere Grassroot-Organisationen hierzu massgeblich beigetragen haben.
Dann gibt es doch Hoffnung auf Veränderung.
Dass endlich über diese Themen diskutiert wird, gerade auch über die Rolle von Frontex, ist positiv. Was mich aber besorgt, ist, dass das Ziel der EU nicht das Unterbinden von Pushbacks zu sein scheint, sondern eher Wege zu finden, Pushbacks zu legalisieren und formalisieren.
Inwiefern legalisieren und formalisieren?
Der neue EU-Migrationspakt wird ganz klar darauf ausgerichtet sein, die Verfahren an den EU-Aussengrenzen enorm zu beschleunigen und innert drei bis vier Tagen über Asylgesuche zu entscheiden. Massgebend wird hierbei sein, ob der Herkunftsstaat einer asylsuchenden Person als sicher eingestuft wird. Zeit für individuelles Eingehen auf Einzelfälle wird da kaum bleiben. Vielmehr sollen Menschen an den Grenzen inhaftiert und schnurstracks wieder ausgewiesen werden. Das zeigt mir, dass die EU Pushbacks eher legalisieren will, anstatt sie zu verurteilen.
Das könnte aber helfen, die Polizeigewalt zu verringern.
Ja, vielleicht. Aber das ist immer noch nicht wirklich genug.
Du selber hast vor einer Weile aufgehört, Interviews für «Border Violence Monitoring Network» zu führen, und arbeitest jetzt mehr im Hintergrund. Warum?
Ich habe das in Thessaloniki für lange Zeit quasi alleine gemacht – ich und ein Übersetzer. Da wurde es einfach zu viel. Ich habe während einem Jahr etwa 50-60 Interviews geführt. Und es ist harte Arbeit. Du sitzt da während mehr als einer Stunde mit Menschen zusammen, die dir einige der traumatischsten Erfahrungen ihres Lebens erzählen. Viele werden sichtbar emotional dabei. Das ist belastend.
Also hast du dich aus Selbstschutz zurückgezogen.
Zu Beginn dachte ich, mich darf das nicht belasten, wenn ich es nur höre und diese Menschen das erleben mussten. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass man sich selber Sorge tragen muss, um anderen Menschen helfen zu können. Jetzt, wo ich ein Team habe, das die Interviews führen kann, ist es gesünder für mich, etwas Distanz zu wahren.
«892 Berichte, die Pushback-Erlebnisse von fast 13’000 Menschen beschreiben.»
Wobei du ja immer noch nicht gerade passiv bist. Unter geflüchteten Menschen in der Region bist du ein bekanntes Gesicht.
(lacht) Ja, irgendwas Verrücktes geht immer ab. Kürzlich ist jemand auf dem Weg nach Nordmazedonien vom Zug gefallen und hat sich den Rücken gebrochen. Niemand wusste, wo er war. Also ging ich in ein Krankenhaus, gab mich als Ärztin aus und fragte nach seinem Namen – und siehe da, ich fand ihn.
Was müsste passieren, damit du mit deiner Arbeit aufhören würdest?
Alle Probleme müssten verschwinden. Pushbacks müssten stoppen, die Grenzen öffnen, alle Menschen Zugang zum Asylsystem erhalten und alle Sozialleistungen, die sie benötigen. Nur glaube ich leider nicht, dass das je geschehen wird.
Zur Person
Hope Barker ist in London aufgewachsen und hat dort Creative Writing im Bachelor und Social Policy im Master studiert. Seit 2018 ist die 26-Jährige in Thessaloniki, Griechenland, in verschiedenen Projekten für Menschen auf der Flucht aktiv. Seit 2019 koordiniert sie die Organisation WAVE-Thessaloniki, die ein Zentrum führt für obdachlose Menschen auf der Flucht. WAVE stellt täglich eine warme Mahlzeit für 150-200 Personen bereit. Für das «Border Violence Monitoring Network», welches seit 2016 Pushbacks in verschiedenen Balkanstaaten dokumentiert, ist Hope Barker ausserdem als Policy Analyst tätig und leitet ein Team von Freiwilligen in Thessaloniki. Sie ist Co-Herausgeberin des im Dezember 2020 im Europäischen Parlament publizierten «Black Book of Pushbacks».
Das Interview wurde auf Englisch geführt.