Systemwechsel Swiss Made
Kleider in der Schweiz zu produzieren lohnt sich nicht mehr. Rotauf macht es trotzdem.
Wohl kaum eine andere Branche ist so berühmt dafür, derart konsequent weit weg und billig zu produzieren wie die Modeindustrie. Europa ist laut der Welthandelsorganisation WTO die weltweit grösste Textil-Importeurin. Für rund 170 Milliarden Euro wurden im Jahr 2018 Textilien und Kleidung nach Europa importiert – das entspricht etwa 44 Milliarden Kleidungsstücken. Die meisten davon kommen aus China, Bangladesch und der Türkei. Laut Medienberichten mischt auch Äthiopien neuerdings sehr konkurrenzfähig bei der Textilproduktion mit; dort gebe es bisher überhaupt keine Mindestlöhne. Kleider in der Schweiz produzieren – wird das überhaupt noch gemacht? Wenn ja, wie geht das, wer tut es und weshalb?
Verdammt viel Schnauf
Um das herauszufinden, treffe ich Oliver Gross, einer der beiden Geschäftsführer von Rotauf. Die Firma mit Sitz in Chur verkauft seit 2013 Outdoorbekleidung unter dem Slogan «radikal swiss made, radikal fair, radikal eco». Auf ihrer Website wird aufwendig dokumentiert, woher ihre Produkte kommen und wie sie hergestellt werden. Auf einer Schweizerkarte sind alle Standorte aufgeführt, an denen Rotauf ihre Jacken, Mützen und Merinoshirts entstehen lässt. Über 20 Schweizer Firmen werden dabei namentlich erwähnt.
«Das Problem liegt bei der Einstellung: möglichst billig und wenn das nicht mehr geht, verlagern wir ins Ausland.»
Scrollt man weiter, ist folgender Text zu lesen: «Da ein Grossteil der Textilproduktion in den letzten 50 Jahren in Billiglohnländer ausgelagert wurde, hat auch der Textilstandort Schweiz stark gelitten. Deshalb ist es nicht mehr möglich alle Rohmaterialien aus der Schweiz zu beziehen. Wasserdichte Stoffe, Reissverschlüsse, Tapes, Druckknöpfe, Zipperpuller, Klebeeinlagen und weiteres beziehen wir aus dem Ausland. Dabei werden Lieferanten aus unseren Nachbarländern bevorzugt. […] Wenn bei unseren Nachbarn keine Alternativen zu finden sind, suchen wir in der weiteren Welt.» Rotauf führt aus diesem Grund seine Produkte in einer Art Rangliste nach ihrem «swiss made-Anteil» auf. Eine Kapitulation vor dem eigenen Ziel?
Auf die Frage, ob es denn nun möglich sei, heutzutage noch Kleider in der Schweiz zu produzieren, antwortet Oliver: «Ja, es ist möglich. Aber nur mit verdammt viel Schnauf und Überzeugungsarbeit.»
Und bei gewissen Hürden stossen scheinbar selbst die kompromisslosesten Idealist*innen an ihre Grenzen. Der 28-jährige Umweltnaturwissenschaftler und leidenschaftliche Bergsportler ist seit sechs Jahren für Rotauf tätig. In dieser Zeit hat er unzählige Kontakte mit Schweizer Textilbetrieben geknüpft, dabei massenhaft Überzeugungsarbeit geleistet – und massgeblich dazu beigetragen, die erste Schweizer Merinowolle auf den Markt zu bringen. Dazu später.
Zuerst zur Überzeugungsarbeit: Diese sei, so Oliver, der schwierigste Teil seiner Arbeit. Textilbetriebe wie Nähereien oder Webereien seien in der Schweiz nämlich nicht ausgestorben. Sie seien lediglich drastisch geschrumpft. Ende des 19. Jahrhunderts und noch bis in die 1970er Jahre war insbesondere die Ostschweizer Textilindustrie ein florierendes Geschäft.
Die Globalisierung trieb sie nahe an den Untergang. So beschäftigte die Strickerei Naegeli im thurgauischen Ermatingen in den 1970er Jahren über 400 Angestellte. Heute sind es noch fünf. Sie ist immerhin eine der knapp 20 Betriebe, die in der Schweiz überhaupt noch Textilien verarbeiten und nähen.
Die meisten haben ihre Tore hierzulande ganz geschlossen und ihre Produktion ins Ausland verlagert. So geschehen dieses Jahr bei der Firma Jenny Fabrics aus Niederurnen, die erst kürzlich ihre 100 Angestellten entlassen hat, oder der Weberei Appenzell. Beide Firmen entschlossen sich dafür, künftig im Ausland günstiger produzieren zu lassen. «Schweizer Textilbetriebe gibt es noch, und die ganze Infrastruktur würde eigentlich bestehen. Das Problem liegt oftmals bei der Einstellung: möglichst billig, und wenn das nicht mehr geht, verlagern wir ins Ausland», so Oliver.
Es herrsche zum Teil eine sehr pessimistische und konservative Stimmung unter den Betreibern der früheren Traditionsbetriebe, heute meist ältere Männer. «Diese Betriebe zu überzeugen, von ihrem scheinbar einzigen Ausweg abzusehen und doch noch hier für uns zu produzieren, ist enorm aufwendig. Viele nahmen uns als junge Marke anfangs nicht ernst oder zeigten wenig Interesse daran, ihre Produktion auf Nachhaltigkeit auszurichten.»
Vertrauen aufzubauen und Betriebe davon zu überzeugen, das mit der Schweizer Produktion doch noch nicht ganz an den Nagel zu hängen, sei die eigentliche Herausforderung. Die technischen Möglichkeiten seien hingegen vorhanden, zumindest bei der Textilverarbeitung. Mit den schweizerischen Maschinen könne sogar sehr effizient und damit trotz hohen Lohnkosten relativ günstig genäht werden. Es liege also auch am Willen der Betreibenden, sich neu zu erfinden, meint Oliver.
Beim Innerschweizer Trachtenexperten
Dem stimmt auch Stefan Steiner zu, Geschäftsführer der Schuler Manufaktur 6418, die ich zusammen mit Oliver besuchen darf. Die Firma im schwyzerischen Rothenthurm ist mit 38 Angestellten eine der wenigen Nähereien in der Schweiz, die noch ansatzweise industriell produziert – abgesehen von vereinzelten Tessiner Betrieben, die jedoch ausnahmslos Grenzgänger*innen beschäftigen. Ganz entgegen dem Trend schrumpfte die Schuler Manufaktur im Zuge fortlaufender Globalisierung nicht etwa zu einem Mini-Betrieb, sondern konnte seit ihrer Gründung im Jahre 1942 gar stetig wachsen und hat heute mehr Mitarbeitende denn je.
«Die Kunst liegt darin, mit der Zeit zu gehen», meint Stefan. Der gelernte Schneider leitet den Betrieb seit 2009. Rotauf lässt hier seit einigen Monaten T-Shirts und Hoodies aus (indischer) Bio-Baumwolle nähen und will die Produktion dokumentieren und auf ihrer Website präsentieren. Oliver reist dazu mit Daniel an, dem Rotauf-eigenen Fotografen und Filmer.
Wir trinken Kaffee im Showroom der Manufaktur, umgeben von bunt uniformierten Schaufensterpuppen: Das Herzstück der Schuler Manufaktur ist seit eh und je die Herstellung von Trachten und Uniformen für Musikverbände. Erst seit 2017 stellt der Betrieb auch Arbeitskleidung her, und ganz neuerdings auch «casual wear», mitunter für Rotauf. Die Arbeitskleidung habe sie durch die Coronakrise gerettet, erzählt Stefan Steiner.
«Die Kunst liegt darin, mit der Zeit zu gehen.»
Während die Aufträge für Uniformen in diesem Jahr völlig eingebrochen seien, habe die Manufaktur plötzlich massenhaft Schutzanzüge für Medizinalpersonal produziert. Immer mehr Krankenhäuser seien sehr daran interessiert, ihre Arbeitskleidung in der Schweiz produzieren zu lassen, so Steiner. Der direkte Service und die Flexibilität bei Bestellmengen und Sonderwünschen, die die Produktion in der Region mit sich bringe, seien anderswo kaum zu finden.
Wir besuchen den Zuschnitt, der nebenan in einem unscheinbaren Schindelhaus angesiedelt ist. Ein einzelner Mitarbeiter bedient eine mächtige Schnittmaschine. Er bittet Stefan Steiner ab und zu um Hilfe beim Einsetzen der neuen Stoffrollen, während er sich vom Rotauf-Kamerateam bereitwillig und stumm filmen und fotografieren lässt. Die Schuler Manufaktur sei einer der letzten Betriebe in der Schweiz, die noch Berufslehren für Schneider*innen anbieten. Viele der Mitarbeitenden würden nach ihrer Lehre jahrelang im Betrieb bleiben, so Steiner. Einige arbeiten seit 20 Jahren für die Firma.
Auch in der Näherei, die auf zwei Räume oberhalb des Showrooms verteilt ist, wird still gearbeitet. Hinter ihren Masken lassen sich die konzentrierten Gesichter der rund zwanzig Mitarbeitenden erahnen. Es ist warm und eng, Berge halbfertiger Hoodies der ersten Rotauf-Serie türmen sich zwischen diversen Gerätschaften – neben klassischen Nähmaschinen besitzt die Manufaktur auch speziellere Maschinen, die beispielsweise halbautomatisch Taschen annähen.
Erst kürzlich erwarb Stefan Steiner eine neue Maschine aus Indonesien. In Europa würden kaum mehr industrielle Nähmaschinen gebaut. Die Verwirrung beim Hersteller sei gross gewesen, als er einen Lieferauftrag in die Schweiz erhalten habe, erzählt Steiner lächelnd.
Europa hat das Schäfern verlernt
Ich habe gelernt: nähen, weben und stricken, das kann die Schweiz also immer noch, wenn sie es denn will. In einem warmen Pullover steckt ja aber noch mehr drin. Eine Näherei braucht fertigen Stoff, eine Strickerei fertige Wolle, um arbeiten zu können. Was ist also mit den Rohstoffen? Auch dieser Herausforderung versucht Rotauf die Stirn zu bieten. Zum Beispiel im Fall Merinowolle. Der Rohstoff boomt besonders im Outdoor-Bekleidungsbereich seiner wärmenden, schweissabsorbierenden Eigenschaften wegen als Alternative zu synthetischen Produkten.
Trotz ihrer Beliebtheit unter Naturfreund*innen ist Merinowolle aber oft alles andere als grün: So wird etwa konventionell gehaltenen Merinoschafen, die oft stark überzüchtet sind, von Fliegen befallenes Fleisch regelmässig ohne Betäubung vom lebenden Körper geschnitten (sog. «mulesing»).
Dies, weil die auf möglichst viel Wolle ausgerichtete Zucht bei den Schafen zu Hautfalten führt, in denen sich Parasiten einnisten. Importiert wird Merinowolle in aller Regel aus Australien oder Neuseeland. Europäische oder gar schweizerische Merinoschafe? Sucht man vergebens, obwohl die Merinoschafe ihren Ursprung in Europa haben, bevor sie nach Neuseeland und Australien exportiert wurden.
Trotz ihrer Beliebtheit unter Naturfreund*innen ist Merinowolle oft alles andere als grün.
Rotauf musste nach Südamerika ausweichen, wo sie biologische Betriebe fanden, die ihren Standards am ehesten entsprachen. Dort beziehen sie Wolle von den etwas weniger hochgezüchteten «Saxon Merinos», die sich artgerechter halten lassen als die in Neuseeland und Australien üblichen Rassen. «Saxon» kommt von «Sachsen», dem Ursprungsort der Rasse. Doch von deutschem Boden sind sie endgültig verschwunden: Zu günstig produzieren Überseestaaten, zu einfach lassen sich die fertigen Produkte importieren.
So stammt etwa die Merinowolle der Firma Icebreaker (die sich selbst nachhaltig nennt) hauptsächlich aus Neuseeland, wird in China verarbeitet, in Italien, Bulgarien oder China zu Garn gesponnen und wieder in Südostasien zu Kleidungsstücken verarbeitet, um dann in Europa verkauft zu werden. Das Resultat: über 45’000 Kilometer Weg, den die Wolle zurücklegt.
Cécile und Alexander
Widerwillig beugte sich Rotauf also der Globalisierung, soweit es nicht anders ging. Bis sie vor zwei Jahren auf die beiden Tierliebhaber*innen Cécile Aschwanden und Alexander Grädel stiessen, sie Schafzuchtexpertin aus Zürich, er Landwirt aus Huttwil im Emmental. Fun Fact: Hauptberuflich hilft Cécile Aschwanden beim Unternehmen Pacific Consult Firmen, ihre Produktion in den asiatisch-pazifischen Raum zu verlagern. Hobbymässig fördert sie die europäische Wollproduktion. Die beiden kamen eines Tages auf die kühne Idee, in der Schweiz Merinoschafe zu halten. Rotauf bekam Wind davon und liess nicht lange auf sich warten. «Super, wir kaufen euch alles ab», sagte Oliver, und Cécile und Alexander schritten zur Tat.
Sie kauften Schafe aus England mit feiner Wolle und adaptierten sie auf Schweizer Verhältnisse. Mittlerweile haben sie eine Herde von 80 Schafen, die an die hiesigen Bedingungen mehr oder weniger angepasst sind. Damit war es aber noch nicht gemacht. Als die Schafe bereit zur ersten grossen Schur waren, kam schnell das nächste Problem: In der ganzen Schweiz war niemand zu finden, der*die weiss, wie man ein Merinoschaf schärt.
In der ganzen Schweiz war niemand zu finden, der*die weiss, wie man ein Merinoschaf schärt.
Also organisierte Cécile einen australischen Schäfer, der Alexander und seinen Mitarbeitenden einen einwöchigen Kurs gab im Schären und Wolle Sortieren. «Der ganze Erfahrungsschatz ist aus Europa verschwunden», so Oliver. «Wir versuchen, die Supply Chain wieder aufzubauen.»
In zwei Jahren entstanden so die ersten 300 kg Schweizer Merinowolle. Das letzte Problem: die Menge. Aus 300 kg Rohmaterial können gerade mal 50 kg verspinnte Wolle hergestellt werden – der Rest geht bei der Verarbeitung verloren. Das führt zu einem Kilogrammpreis für das fertige Garn von satten 800 Franken. Für ein Kilogramm südamerikanische Bio-Wolle zahlt Rotauf 30 Franken, konventionelle Merinowolle aus Australien erhält man für 9 Franken pro Kilo. «Unser Ziel sind 1000-2000 Schweizer Merinoschafe», erklärt Oliver. «Dann wären wir, wenn alles gut läuft, in ein paar Jahren bei einem Kilogrammpreis von 300 Franken.» Dafür plant Rotauf eine Kampagne mit dem Ziel, dass Schweizer Bäuer*innen zukünftig auch für Wolle wieder Subventionen erhalten. Momentan unterstütze der Staat bei der Schafhaltung nur Fleisch- und Milchproduktion.
«Weltneuheit: Swiss Merino Strickmütze», ist seit diesem Sommer im Webshop von Rotauf zu lesen. Das «weltweit erste Kleidungsstück aus Schweizer Merinowolle» ist jetzt in Form einer schlichten Unisex Mütze bei Rotauf zu erwerben. Der Preis: 169 Franken.
Systemwechsel jetzt
Weshalb die ganze Mühe? Und ist Rotauf nicht einfach eine Luxusbrand für gut Betuchte?
Eine Mütze für fast 200 Stutz, das könne sich wirklich nicht jede*r leisten, räumt Oliver ein. Bei ihren restlichen Produkten unterscheide sich Rotauf jedoch nicht wesentlich von klassischen Outdoormarken wie Mammut. Ihr Ziel sei es, gleichwertige Produkte zum selben Preis zu verkaufen wie die Konkurrenz – nur eben fairer und nachhaltiger.
Das erreichen sie mit einer Verkaufsstrategie, die komplett auf Zwischenhandel verzichtet. Rotauf-Produkte gibt es nur im firmeneigenen Online-Shop zu kaufen. Obwohl die Herstellungskosten rund 10 Mal höher sind als bei Brands, die in China produzieren, kann Rotauf damit zu ähnlichen Preisen verkaufen.
Während dem Corona-Frühling, als bei vielen der Schweizer Textilbetrieben Existenzängste aufkamen, startete Rotauf ein Online-Crowdfunding mit dem unbescheidenen Titel «Systemwechsel jetzt!», um die nachhaltige Schweizer Textilproduktion zu retten. Das Projekt ging durch die Decke: über 530’000 Franken hat Rotauf gesammelt. Sie konnten in diesem Jahr damit ihren Umsatz verdoppeln. Worum geht es aber genau, wenn ein kapitalistisch funktionierendes Unternehmen von Systemwechsel spricht?
«Wir wollen zeigen, dass man Kleider anders produzieren kann», erklärt Oliver. Im Vordergrund stehen dabei Transparenz, Nachhaltigkeit und Ökonomie. Transparenz, weil nur dann fair und nachhaltig produziert werden könne, wenn man genau wisse, wo und wie das geschieht. Der Ursprung allen Übels in der Textilindustrie sei tatsächlich die allgegenwärtige Intransparenz des Marktes. Nachhaltigkeit, weil Rotauf zeigen wolle, dass es wirklich möglich ist, ohne umweltschädliche Chemikalien und immense Transportwege Kleider herzustellen. Und Ökonomie, weil Rotauf überzeugt ist, dass eine Wirtschaft, deren einziges Ziel mehr Profit ist, nicht funktionieren kann.
Mit einem Profit von 9% und einem Monatslohn von 5’900 bzw. 6’900 Franken für die beiden Geschäftsführer sei das Team von Rotauf absolut zufrieden. Mehr Profit oder höhere Löhne würden nicht angestrebt, weil die Marke nicht für ihre Besitzer und die Geschäftsleitung möglichst viel Geld abwerfen solle. Es gehe als Unternehmen vielmehr darum, Dinge nachhaltig zu produzieren und dabei soziale Verantwortung zu übernehmen. «Das verstehen wir unter Systemwechsel», so Oliver, «und dafür lohnt sich die Riesen-Büez.»