«Unser System fährt gegen die Wand.»
Die Professorin Irmi Seidl ist Postwachstumsökonomin und kritisiert unser neoliberales Wirtschaftssystem. Mit der bärner studizytig sprach sie über die Auswirkungen des Wachstumszwangs auf unsere Umwelt und die Rolle der universitären Lehre dabei.
Frau Seidl, irgendetwas scheint mit unserem Wirtschaftssystem nicht zu stimmen. Wo liegt das Problem?
Wir haben zwei grosse Probleme: Einerseits das ökologische Problem, andererseits grosse soziale Ungleichheiten. In unserem heutigen ökonomischen System wird die Natur nicht berücksichtigt. Es wird davon ausgegangen, dass die Natur einfach da ist und Ressourcen ausgebeutet werden können – unser Wirtschaftssystem ist naturvergessen.
Können Sie das genauer ausführen?
Den Ressourcen wird kein Wert an sich zugewiesen. Es sind lediglich die Produktionskosten – und der Profit, den Käufer*innen bezahlen. Aber nicht den Wert der Ressourcen, der sich zum Beispiel in den Wiederherstellungskosten zeigen würde. Ein Vergleich: Jede Maschine muss abgeschrieben werden, dabei werden flüssige Mittel für den Ersatz angespart. Das machen wir mit der Natur nicht. Diese Naturvergessenheit sehen wir auch am Bruttoinlandprodukt: Dieses berücksichtigt allein die Wirtschaftsleistung und keine anderen Einflüsse wie den Abbau des Naturkapitals oder negative Umweltwirkungen. Der Naturverbrauch stieg nach dem Zweiten Weltkrieg an, parallel zur Verbreitung des Massenkonsums. Das führte zwar zu einer enormen Ausdehnung der Produktion und zu grossem Wohlstand, im Gegenzug aber auch zu grossen ökologischen Problemen.
«Unser Wirtschaftssystem ist naturvergessen.»
Massenkonsum bedeutet Wachstumsdrang. Wie bringt man diesen aus Volkswirtschaften oder auch Unternehmen wieder raus?
Leider ist es schwierig zu verstehen, was exponentielles Wachstum bedeutet: Es bedeutet jedes Jahr mehr vom Mehr des letzten Jahres. Sobald die Wachstumsrate sinkt, setzt die Beunruhigung ein. Dabei bedeutet auch eine kleine Wachstumsrate Wachstum. Bei einer jährlichen Wachstumsrate von 3.5 Prozent verdoppelt sich die Wirtschaftsleistung alle 20 Jahre. Das geht mit steigenden Ressourcenverbrauch einher, bisher sehen wir keine absolute Entkopplung. Die aktuelle Covid-19-Situation relativiert Wachstumsraten. Wir mögen aktuell eine negative Wachstumsrate von fünf bis sieben Prozent haben, die produzierte Menge gleicht dem Stand vor vier bis fünf Jahren. Damals haben wir nicht schlecht gelebt.
In einem anderen Interview sagten Sie, Ihnen ginge es nicht um die Abschaffung des Kapitalismus. Wie funktioniert denn Kapitalismus ohne Wachstum?
Zum einen: Kapitalistische Systeme sind unterschiedlich. So gleichen sich der Kapitalismus in den USA oder in den skandinavischen Ländern nur sehr begrenzt. Zum anderen: Es gibt Bereiche der Wirtschaft, die stark kapitalistischen Mechanismen folgen, andere hingegen nicht. So ist der genossenschaftliche Quartierladen nicht kapitalistisch organisiert. In der Schweiz ist die Wasserversorgung staatlich. Dürften profitorientierte Unternehmen die Wasserversorgung übernehmen, würden kapitalistische Mechanismen Eingang finden. Es würde versucht, möglichst viel Gewinn zu erzielen und die Zitrone auszupressen. Diese Beispiele zeigen, dass wir Teile der Wirtschaft –Lebensmittel, Grundinfrastruktur und Grundversorgung – nicht nach kapitalistischen Funktionsmechanismen organisieren müssen und auch nicht sollten. Wir können die kapitalistischen Funktionsmechanismen regulieren und begrenzen. Für global hergestellte Massenprodukte wie IT-Produkte, die stark kapitalistischen Produktionsverhältnissen unterliegen, sehe ich kaum Alternativen und bislang keine Beispiele, um die Wertschöpfungsketten nicht kapitalistisch zu organisieren.
«Exponentielles Wachstum bedeutet jedes Jahr mehr vom Mehr des letzten Jahres. Sobald die Wachstumsrate sinkt, setzt die Beunruhigung ein.»
Bei diesen Aussagen würden sich jeder*m Neo-Liberalen die Nackenhaare aufstellen und er*sie würde lauthals protestieren. Was würden Sie Ihm*Ihr entgegnen?
Unser aktuelles Wirtschaftssystem fährt sich, die Gesellschaft und die Natur an die Wand. Wir haben verschiedenste Institutionen und Unternehmen, die einem neo-liberalen, kapitalistischen Grundverständnis folgen, nun aber am Serbeln sind. Ein Beispiel sind die Pensionskassen in der Schweiz. Sie können ihre Zusagen nicht mehr einhalten, weil das Wachstum in der Schweiz und ausserhalb zurückgeht. Nun fordern einzelne Vertreter*innen vom Staat Transferzahlungen bzw. Aspekte eines Umlageverfahrens, was aber nie die Idee war. Wir sehen, dass ein Teil der Unternehmen und Institutionen, die der dominanten ökonomischen Logik folgen, versagen.
Vielleicht müssten die Pensionskassen einfach mehr Risiko eingehen und das rückgängige Wachstum ist nicht per se das Problem?
Die Pensionskassen haben sich darauf eingelassen, eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen, im Gegenzug gibt es in der Schweiz einen Abschlusszwang. Deswegen muss das Risiko überschaubar bleiben. Man kann nicht mit dem zwangsweise eingezogenen Geld aller ins Casino gehen. Wenn der Abschlusszwang wegfiele, könnte jede*r auswählen, wie viel Risiko er*sie einginge.
Sie sprachen zuvor indirekt über die Globalisierung am Beispiel der Schweizer Wasserversorgung, die, könnte sie von in- oder ausländischen Investor*innen aufgekauft werden, einer kapitalistischen Logik unterworfen würde. Müssen wir das globale Handeln stoppen und vor allem auf lokale und kleine bis mittlere Unternehmen fokussieren, um die ökologischen und sozialen Probleme zu lösen?
Ich denke, wir müssen verschiedene Aspekte der Globalisierung regulieren oder rückgängig machen. Die Auswüchse von Deregulierung, Privatisierung und globalem Wettbewerb sind omnipräsent. Eine Folge ist, dass die Wertschöpfungsketten zu lang und zu global sind. Dies führt zu enormem und sinnlosem Transport. Beim Transport werden hohe Kosten externalisiert. Sie sind nicht im Preis reflektiert, daher ist er viel zu günstig. Wir ordnen alles dem Preis und dem Profit unter, zugleich schaffen Unternehmen und Staat Preisrelationen, die oft ethische, politische, ökologische oder moralische Überlegungen ignorieren.
Ein Kollege von Ihnen, Andrew McAfee, hat als Generallösung des ökologischen Problems unserer Wirtschaft die Besteuerung von CO2-Emissionen vorgeschlagen. Ist es so einfach?
Es ist sicherlich ein sehr wichtiger Ansatz, über den Konsens in der Ökonomie besteht. Allerdings wird der Einsatz dieses Instrument schon seit den späten 1980ern gefordert. Politisch hat es bisher nur partiell und in manchen Ländern geklappt. Es wird andauernd ein Haar in der Suppe gefunden, damit man dieses Instrument nicht umsetzen muss. Wieso? Ein wichtiger Grund ist, dass höhere Energiepreise das Wirtschaftswachstum begrenzen könnten. Wir kommen wegen des Arguments Wirtschaftswachstum umweltpolitisch nicht voran. Und wenn die Politik das Instrument Steuer auf Ressourcen oder Emissionen einsetzt, dann bislang sehr zurückhaltend. Ein Beispiel ist die neue Flugticketabgabe: Die Lenkungswirkung ist minim. Der Druck der Lufthansa und Swiss dürfte gewirkt haben. Sie befürchten einen Einbruch ihres Geschäfts. Das deutsche Umweltbundesamt hat errechnet, die Tonne CO2 müsste 180 Euro kosten, um externe Kosten einzupreisen. Wenn das gemacht würde, super! Nicht alle unsere Probleme wären gelöst, aber wir hätten einen Strukturwandel in die richtige Richtung. Doch wenn man mit wirtschaftsliberalen Parteivertreter*innen spricht, wird abgewiegelt; mal mit dem einen, mal mit dem anderen Argument. Mal ist es die Staatsquote (Verhältnis von Staatsausgaben zu Bruttoinlandsprodukt, Anm. der Redaktion), mal die soziale Wirkung, mal was anderes. Es wird das Haar in der Suppe gesucht.
«Das deutsche Umweltbundesamt hat errechnet, dass eine Tonne CO2 eigentlich 180 Euro kosten müsste.»
Die Schwierigkeit besteht aber auch darin, so eine Steuer sozialverträglich zu gestalten.
Ja, natürlich, aber da sehe ich kein Problem. Forschende der ETH haben errechnet, dass eine CO2-Abgabe, die pro Kopf zurückbezahlt würde, zwei Drittel der Bevölkerung begünstigen und einen Drittel mehr kosten würde. Das ist nachvollziehbar, denn jene, die viel Geld haben, belasten auch die Umwelt stärker: Sie haben grössere Autos, unternehmen mehr Flugreisen und würden daher mehr bezahlen. Das heisst, wir hätten durch die Abgabe sogar eine Einkommensumverteilung.
Wie wäre es mit dem bedingungslosen Grundeinkommen als Lösung?
Ökologisch bringt das Grundeinkommen keine Erleichterung. Möglicherweise wäre mit einem Grundeinkommen der Wachstumsdruck etwas kleiner, weil nicht mehr alle arbeiten müssten. Doch weil das Geld für das Grundeinkommen ja irgendwie verdient werden muss, dürfte die Automatisierung zunehmen, was ökologisch nicht entlastet.
Die Initiant*innen schlugen damals eine Finanzierung durch Mikrosteuern vor.
Das wäre eine Möglichkeit. Ich weiss allerdings nicht, wie sich das auf Preisrelationen auswirken würde. Auf jeden Fall würde die Arbeitskraft durch ein Grundeinkommen teurer und die Automatisierung attraktiver. Diese ist in der Regel relativ kapital- und kostenintensiv. Meine Skepsis bezüglich Grundeinkommen rührt auch daher, dass Erwerbstätigkeit zur gesellschaftlichen Integration beiträgt und deshalb in meinen Augen auch viele beteiligt sein sollten. Idealerweise sollten wir künftig weniger arbeiten – nur noch 20 bis 25 Stunden pro Woche.
Die meisten Ökonom*innen glauben in guter neoliberaler Manier, der Markt habe die Antwort auf alles und lehren dies entsprechend auch an den Universitäten. Müsste man denn schon dort beginnen und anders unterrichten, damit man wirklich etwas verändern kann?
Absolut. Es ist ein grosses Problem, dass an den Unis immer noch fast ausschliesslich neoklassische Theorie und Marktliberalismus gelehrt werden. So kann an den Unis kein anderes Ökonomieverständnis entstehen. Es wird wahrscheinlich immer noch der homo oeconomicus gelehrt, oder?
«An den Unis werden fast ausschliesslich neoklassische Theorie und Marktliberalismus gelehrt. Das ist ein grosses Problem.»
Ja, obwohl es mittlerweile auch ein paar verhaltensökonomische Module gibt, die etwas mehr der Realität entsprechen.
Verhaltensökonomik wird schrittweise in das Curriculum aufgenommen – das wird langsam eingesehen. Aber ihr habt wahrscheinlich nicht gelernt, dass es andere Eigentumsformen als staatliche und private gibt, beispielsweise das Gemeinschaftseigentum, das durchaus funktionieren kann. Wegen der engen Ausbildung in den Wirtschaftswissenschaften gibt es mittlerweile viele Studierende, die eine heterodoxe Ökonomie einfordern. Das ist aber ein langer Weg. Ja, und dabei wäre es die ureigene Aufgabe der Universitäten, ein breiteres theoretisches Spektrum zu lehren. Das Problem ist, dass der Nachwuchs an den Universitäten von jenen ausgewählt wird, die selbst ein enges Ökonomieverständnis haben. Eine Umfrage in Deutschland zeigt, dass ökonomische Lehrstuhlinhaber*innen und Forschende zugeben, ihre Theorieansätze und Paradigmen könnten die reale Ökonomie nur schlecht abbilden und erklären. Und gleichwohl unterrichten sie nichts anderes, weil sie selbst ja nichts anderes gelernt haben. Der neoklassische Mainstream basiert auf einem rudimentären Marktmodell, das einer einfachen Tauschwirtschaft entspricht. Sogar Geld wird ignoriert beziehungsweise auf ein Schmiermittel für den Tausch reduziert. Darauf gesetzt sind abstrakte, anspruchsvolle, aber realitätsferne Modelle und Theorien sowie viel Ökonometrie, womit man sein akademisches Leben verbringen kann. Aber das Fundament ist zu einfach. Es bildet die reale Ökonomie und ihre Einbettung in soziale und ökologische Sphäre nicht ab. Folglich wird dies in der Forschung und Lehre auch nicht abgebildet.
Gerade die Angebots- und Nachfragekurve wirkt extrem vereinfachend.
Ja, diese kann vielleicht in einem kleinen Markt stimmen. Aber diese Kurven können kaum die Knappheit von ökologischen Ressourcen abbilden, dazu braucht es viel mehr als den Preis, der die heutigen Bedürfnisse abbildet.
«Es wäre die ureigene Aufgabe der Universitäten, ein breiteres theoretisches Spektrum zu lehren.»
Dies behauptet jedoch Andrew McAfee, der aufgrund der Preise davon ausgeht, dass die Ressourcen nicht knapp werden und wir deswegen auch nicht verzichten müssen.
Zu solchen Aussagen kommt man nur, wenn man politische und institutionelle Faktoren ignoriert. Schauen wir uns den Markt für Erdöl an: Russlands Staatsbudget besteht zu 70% aus Erdöl-Einnahmen. Die russische Regierung wird kaum lediglich den Markt beobachten, denn brechen die Preise ein, ist im Staatshaushalt Ebbe. Also wird Russland alles tun, um den Markt zu beeinflussen. Dasselbe macht Saudi-Arabien. Auch die USA. Sie schicken das Militär los oder den Geheimdienst, droht der Preis zu hoch zu werden. Viele Kriege und Umstürze sind erdölbedingt. Mit Geopolitik werden Preise gelenkt. Angebot und Nachfrage auf Märkten beeinflussen lediglich in einer begrenzten Bandbreite.
Ist es nicht so, dass die Märkte zu komplex sind, dass wir sie noch gar nicht verstehen und deshalb auf ein einfaches Modell zurückgreifen, um sie abzubilden?
An Universitäten gibt es sehr intelligente Menschen. Und deshalb meine ich, dass die Ökonomievertreter*innen komplexere Märkte abbilden können, als sie es lehren. Es gibt durchaus eine sehr anspruchsvolle Forschung zu Marktkonstellationen und Preisbildung. In den Vorlesungen wird schliesslich doch wieder auf banale Modelle und Menschenbilder zurückgegriffen. Möglicherweise werden die Studierenden unterschätzt.
Um nochmal auf Andrew McAfee zurückzukommen: Er sagt ebenfalls, dass sich mit der Zeit das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt und wir deswegen immer mehr produzieren, gleichzeitig aber weniger Ressourcen brauchen. Folglich müssen wir gar nicht weniger konsumieren. Stimmt das?
Leider beschäftigt sich die Mainstreamökonomie selten mit der materiellen, physikalischen Seite des Wirtschaftens. Damit, was es physikalisch und ökologisch bedeutet, Ressourcen zu verwenden. Ihre banale Argumentation ist: Dank Produktivitätsfortschritt brauchen wir zunehmend weniger Ressourcen. Doch dies findet aus verschiedenen Gründen nicht statt. Beispielsweise haben wir Rebound-Effekte. Diese zeigen sich exemplarisch bei der Beleuchtung: Eine höhere Energieeffizienz führt nur begrenzt zu rückläufigem Energieverbrauch, weil neue Verbrauchsmöglichkeiten entstehen. Und schliesslich bedeutet Wirtschaften immer Verbrauch von Materie und Energie. Ein immaterielles Wirtschaften gibt es nicht. Auch bei Dienstleistungen wie Musik, Bank- und IT-Services oder Gesundheit ist Materie involviert. Die grosse aktuelle Frage ist, ob ein absolutes Entkoppeln stattfinden kann, also die Wirtschaftsleistung steigen kann bei gleichzeitigem rückläufigem Ressourcenverbrauch. Für eine solche Entkopplung gibt es noch keine Beispiele, die nicht dekonstruiert werden können. Allerdings findet eine relative Entkopplung statt, das heisst, die Wirtschaft wächst und der Ressourcenverbrauch steigt weniger. Wir müssen auch sehen: Der Ressourcenverbrauch müsste um 80-90% gesenkt werden und der Ausstieg aus der fossilen Energie geschafft werden. Das sind enorme Reduktionen, das schaffen wir nicht mit weiterem Wirtschaftswachstum und ein bisschen weniger Material.
Und auf der politischen Seite? Wir stimmen ja im November über die Konzernverantwortungsinitiative ab, die Unternehmen verpflichten will, Umwelt- und Menschenrechtsstandards auch im Ausland einzuhalten. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Es ist ein Schritt, damit Unternehmen mit Sitz in der Schweiz Verantwortung und Haftung für Schäden und Rechtsverletzungen im Ausland übernehmen. Dies kommt auch einem Teil von Schweizer KMUs entgegen, weil so ähnlich lange Spiesse geschaffen werden. Ein Beispiel: Für Umweltschäden durch Textilherstellung im Ausland müssten Unternehmen genauso haften, wie das Textilhersteller in der Schweiz machen müssen. Diese Initiative ist stark ethisch motiviert und hätte sicherlich lokal und regional vorteilhafte ökologische und soziale Wirkungen. Die Klima- oder Biodiversitätskrise lösen wir damit sicherlich nicht. Weil unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme enorm komplex sind, werden wir immer mehrere Instrumente benötigen.
Beim Thema Nachhaltigkeit stellt sich die Schweiz gerne als sehr vorbildlich dar – brüsten wir uns da zu Unrecht?
Nun, die Schweiz hat einen äusserst hohen ökologischen Fussabdruck – zwar ist der Schweizer CO2-Ausstoss nur mittelhoch, aber 72% der ökologischen Belastung unseres Konsums entstehen im Ausland. In der Schweiz selbst haben wir viele Probleme gelöst: Wir haben ziemlich sauberes Wasser und saubere Luft, aber selbst im Vergleich mit den Nachbarländern eine sehr intensive Landwirtschaft. Beispielsweise hat die Schweiz einen höheren Tierbesatz pro Hektar als die Nachbarländer inklusive Österreich und deswegen einen höheren Nährstoffeintrag. Das Umweltbewusstsein ist hoch, punktuell gibt es auch eine fortschrittliche Politik, doch der Umweltverbrauch bleibt ebenfalls hoch. Die meisten stark umweltverschmutzenden Industrien hat die Schweiz in den letzten Jahrzehnten ins Ausland ausgelagert.
Sehen Sie die Verantwortung eher bei den Konsument*innen oder bei den Produzent*innen? Sollten die Konsument*innen nachhaltigere Produkte kaufen oder die Anbieter*innen mehr nachhaltige Produkte produzieren?
Das ist eine wichtige Frage. Meiner Meinung nach wird das Potenzial der Konsument*innen überschätzt. Die neoklassische Annahme der Konsumentensouveränität ist ein theoretisches Konstrukt, das der Realität kaum Stand hält. Auf der politischen Seite haben wir in der Schweiz einen schwachen Konsumentenschutz, der nicht staatlich unterstützt wird und dadurch wenig Druck ausüben kann. Ich erachte das Potenzial der Konsument*innen Nachhaltigkeit massiv voranzubringen als begrenzt.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ja, die Bio-Landwirtschaft. Mir sagen manchmal Leute: «Wir kommen im Bio-Landbau nicht weiter, weil die Konsumenten nicht genug Bioprodukte kaufen.» Doch die Preise für Bioprodukte und konventionelle Produkte unterscheiden sich nicht stark für die Landwirte. Die wirklich grossen Preisunterschiede entstehen bei den Detailhändlern. Und diese schöpfen die Zahlungsbereitschaft der Bio-Konsument*innen ab. Wenn dem nicht so wäre, würden wohl mehr Konsument*innen Bio einkaufen. Das Konsumverhalten ist also von einzelwirtschaftlichem Kalkül von Händlern beeinflusst.
Als kurzes Schlusswort: Viel Zeit bleibt uns ja nicht – haben Sie das Gefühl, dass die Menschheit das schaffen wird mit der nachhaltigen Wirtschaft?
Wir sehen schon, dass es ein Teil nicht schafft. Wenn in Australien die Koalas verbrennen und die Menschen völlig traumatisiert sind angesichts der brennenden Häuser und Orte, dann wird deutlich, dass Facetten einer Apokalypse bereits jetzt regional stattfinden. In anderen Bereichen und Weltregionen wird man zum Teil Probleme lösen können. So in Westeuropa: Wir sind reich und verfügen über robuste staatliche Strukturen, wir können viele Probleme lösen. Das hat man jetzt in der Coronakrise gesehen. Welche Länder kommen gut mit der Coronakrise zurecht? Das sind jene, die stabile Strukturen haben – und scheinbar jene, die von Frauen geführt werden. Länder mit schwachen Infrastrukturen und politischen Krisen – beispielsweise Brasilien, Mexiko, USA usw. – haben grosse Schwierigkeiten. Dies dürften wir auch bei der Klimawandelanpassung beobachten. Reiche europäische Länder werden es einfacher haben. Deshalb wird auch unsere Solidarität gefragt sein.