Neutralität: Eine Illusion?

20. Oktober 2020

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Sie ist das «Jein» der Konfliktlösung: die Neutralität. Von einigen zum moralischen Ideal hochstilisiert, von anderen scharf kritisiert. Neutralität ist umstritten, ihrer Existenz hingegen ist man sich sicher. Oder etwa doch nicht?

Konflikte gehören zu unserem Leben. Doch wie gehen wir mit ihnen um?

Verschränken wir die Arme, schauen zu und halten uns so gut wie es geht aus ihnen raus oder greifen wir ein, versuchen sie zu lösen und das Gleichgewicht wiederherzustellen? Letzten Endes sind beides Formen von Neutralität; eine passiver und eine aktiver.

Intuitiv würden viele wahrscheinlich die aktivere Form als die moralisch richtige Form betrachten. Aber warum? Ist Neutralität wirklich das moralische Ideal der Konfliktlösung – unproblematisch und pazifistisch? Natürlich braucht es zur Konfliktlösung den Dialog, Mediation sowie Diplomatie, denn wie heisst es so schön: «communication is key». Auch ist es durchaus sinnvoll, die unter dem differenzierten Blick einer Mediatorin oder eines Mediators stattfindende Diskussion auf «neutralem» Boden zu führen, u.a. um Distanz zu schaffen.

Allerdings stellt sich mir die Frage, ob eine Mediatorin oder ein Mediator, sei dies eine einzelne Person oder ein ganzer Staat, überhaupt «neutral» sein kann. Existiert so etwas wie Neutralität überhaupt oder ist sie bloss eine Illusion?

Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt uns die französische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir. In einem Interview aus dem Jahre 1960 äussert sie sich folgendermassen zur Neutralität: «There is no possible neutrality […] you have to commit yourself […] and not to just be picked by people, pretending you are picked by nobody.»

De Beauvoir zufolge ist Neutralität also keine Option; es gibt sie nicht. Neutralität ist eine Illusion und wer das nicht einsieht, macht sich selbst und anderen etwas vor.

Weiter sagt sie: «You are always picked one way or another way. You always help this one or this other […] and if you pretend just to stay and do nothing, even staying and doing nothing means something and it goes to one of the camp or the other […] there is only one thing: is to begin to speak yourself, your own way. You have to say, ‹I am against it,› ‹I am for it’ because if you say nothing, your silence is used by the one you are for or against.›»

Beziehen wir keine Stellung, tut es jemand anderes für uns. Wollen wir unsere Souveränität wahren, ist es deshalb unerlässlich, dass wir Verantwortung übernehmen, uns äussern und einmischen. Dies soll nicht heissen, dass wir das Konzept der Neutralität gänzlich aufgeben sollten und es nicht zur Konfliktlösung und Friedensförderung beitragen kann.

Es bedeutet bloss, dass wir den Begriff «Neutralität» vielleicht mit etwas mehr Bedacht verwenden sollten und es, um neutral zu sein, manchmal vielleicht unerlässlich ist, Partei zu ergreifen.

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