Ein Historiker trifft den Zeitgeist
Yuval Noah Harari gilt als Popstar unter den Historiker*innen. Sein Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit» verkaufte sich weltweit bereits über 16 Millionen Mal. Dieser Erfolg ist kein Zufall.
Wer kennt das Gefühl nicht? Man möchte einen Text lesen, doch die Aussage ist völlig unverständlich. Auch nach dem zweiten oder dritten Lesen ergibt der Satz keinen Sinn, man schweift gedanklich ab und liest nur noch Buchstaben.
Es gibt aber auch Bücher wie «Eine kurze Geschichte der Menschheit» vom israelischen Historiker Yuval Noah Harari, die sich flüssig lesen wie ein Roman. Erstmals 2011 auf Hebräisch veröffentlicht, gehört es auch in der Schweiz bis heute zu den beliebtesten Sachbüchern. Es trifft nämlich gleich in mehrfacher Hinsicht den Zeitgeist.
Es könnte auch anders sein
Harari fasst 70’000 Jahre Menschheitsgeschichte auf knapp 500 Seiten zusammen, indem er die wichtigsten Revolutionen hervorhebt: Die kognitive Revolution ermöglichte das detaillierte Kommunizieren, Vorausplanen und das Erschaffen von Ideologien. Die landwirtschaftliche Revolution vor 10’000 Jahren führte zu einem Bevölkerungswachstum und die Menschen begannen, Gegenstände anzuhäufen. Und die wissenschaftliche Revolution vor 500 Jahren liess uns immer neue Fragen stellen und führte zu einer enormen Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung.
Dabei bezieht er sich unter anderem auf Erkenntnisse aus Geschichte, Anthropologie, Biologie, Wirtschaft und Religionswissenschaft. «Dieser Ansatz der Universalgeschichte passt ausgesprochen gut in unsere Zeit», findet Christof Dejung, Professor für Neuste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Denn Bücher wie Hararis «Eine kurze Geschichte der Menschheit» greifen die Frage auf, wie unsere Gesellschaft zu dem wurde, was sie heute ist.
Dazu gehören neben Harari auch «Arm und Reich – die Schicksale menschlicher Gesellschaften» von Jared Diamond oder «Eine kurze Geschichte von fast allem» von Bill Bryson, die bereits um die Jahrtausendwende zum Bestseller wurden. Dass der Homo Sapiens überall ein Massensterben verursachte und Entwicklungen in Gang setzte, ohne die Konsequenzen abschätzen oder kontrollieren zu können, ist beängstigend.
Dennoch, so Siegfried Weichlein, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg, lautet der Tenor bei Historiker*innen wie Harari folgendermassen: «Was für ein Zufall, dass unsere Gesellschaft heute so ist, wie sie ist! Eigentlich war es total unwahrscheinlich, dass es so herauskommt». Harari vermittelt damit, dass die aktuelle Situation nur eine von vielen denkbaren ist. Denn alles woran wir uns orientieren – Geld, Menschenrechte oder Religion – ist menschengemacht und stetem Wandel unterworfen.
Es ist ein Zufall, dass unsere Gesellschaft heute so ist, wie sie ist.
Das heisst nicht, dass sich die Geschichte fürs Individuum zum Besseren hin entwickelt. Gerade in seinen Folgewerken «Homo Deus» und «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert» zeichnet er ein äusserst düsteres Zukunftsbild. Dennoch liefert er Antworten auf alle grossen gesellschaftspolitischen Fragen, indem er für den Aufstieg der Wirtschaftsimperien genauso eine Erklärung bereit hat wie für die fehlende Zufriedenheit der Menschen.
Leicht verdaulich
Diese Argumente sind inhaltlich leicht zu kritisieren, nur schon weil die limitierte Seitenzahl zwangsläufig zum Auslassen und Verkürzen von Ereignissen führt. Und das Weglassen von historischen Ereignissen und Bevölkerungsgruppen kann sehr gefährlich sein. Doch das Buch ist so allgemein gehalten und enthält keine bahnbrechenden Neuigkeiten, dass es sich letztendlich doch vor allem um Infotainment handelt.
Mit Sätzen wie «Die Rückkoppelung zwischen Wissenschaft, Imperium und Kapital war vermutlich in den vergangenen fünf Jahrhunderten der Motor der Geschichte» lässt er die Leserschaft mit dem Gefühl zurück, das grosse Ganze einigermassen verstanden zu haben. Danach kann man sich wieder anderen Dingen widmen. Schliesslich ist die Zeit beschränkt und Aufmerksamkeit deshalb zu einer der wichtigsten Ressourcen in der informationsgetriebenen Gesellschaft geworden, wie der Philosoph Jörg Bernardy in seinem Buch «Aufmerksamkeit als Kapital» schreibt.
Ausserdem appelliert Harari nicht gross an die einzelne Person. Damit ist sein Buch trotz der inhaltlichen Dichte leicht zu verdauen. So sagt er zwar, die Massentierhaltung sei das wohl grösste Verbrechen der Menschheit. Das Stichwort Veganismus sucht man aber vergeblich, obwohl er sich selbst vegan ernährt. Er hält es einzig für wichtig, kritische Fragen zu stellen. Im Unterschied zu Bestsellerautoren wie Richard Dawkins oder Jean Ziegler (die Männerdominanz ist unübersehbar!), die provokant bis hin zu militant-aggressiv schreiben, ist Hararis Appell unspezifisch genug, um die breite Masse nicht vor den Kopf zu stossen.
Hararis Appell beschränkt sich darauf, kritische Fragen zu stellen.
Populäre Wissenschaft
Hararis Erfolg ist schliesslich auch für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert bezeichnend. An den universitären Wissenschaften haftet der Ruf, sich unverständlich zu äussern. Harari hingegen schreibt flüssig, sogar humorvoll, beispielsweise wenn er findet, «der Homo Sapiens hat lange so getan als wäre er ein Waisenkind ohne Geschwister und vor allem ohne Eltern».
Populärwissenschaftler*innen wie er sind in Talk Shows und Interviews gern gesehene Gäste. Statt verschiedene Wissenschaftler*innen befragen zu müssen, die mit Fachbegriffen um sich werfen und sich untereinander nicht einig sind, kann man den israelischen Historiker zu einer grossen Bandbreite an Themen befragen. Sogar zur Zukunft äussert er sich, obwohl dies gerade für Historiker*innen als verpönt gilt. Ob es gefällt oder nicht: damit kommt er gut an.
Populärwissenschaftler*innen wie Harari sind in Talk Shows gern gesehene Gäste.
Sogar in Wirtschaftskreisen sind seine Einschätzungen gefragt, insbesondere seine Prognosen in den beiden Folgewerken. So hielt er beispielsweise am letzten WEF in Davos eine Rede über die existentiellsten Bedrohungen der Menschheit – ihm zufolge sind das neben nuklearem Krieg und ökologischem Kollaps auch die Gefahr von sogenannten digitalen Diktaturen. Damit verkörpert er ein Selbstbewusstsein, wonach Wissenschaft für die breite Öffentlichkeit von grossem Nutzen ist, auch die Sozialwissenschaften.
Es liegt ihm zufolge gerade an Soziolog*innen, Philosoph*innen und Historiker*innen, darauf hinzuweisen, was bei der weiteren Technologisierung der Gesellschaft alles schief gehen kann. Das geht aber nur, wenn die Wissenschaft wegkommt vom Elfenbeinturm und sich endlich darum bemüht, verständlicher zu kommunizieren.
Bei allen Bedenken an seinem Aufstieg zum «Popstar» – wie der Tagesanzeiger jüngst titelte – und der berechtigten Kritik am Inhalt des Buches gilt deshalb: «Eine kurze Geschichte der Menschheit» kann durchaus als Beispiel für Wortgewandtheit dienen, die der Wissenschaft allgemein gut tun würde.