Ein Blick in die Kristallkugel
Beeinflussen die Resultate von Umfragen unser Abstimmungsverhalten? Foto: Céline Honegger.
Mit ein wenig Manipulation die Hochrechnungen verfälschen und schon gewinnt die verlierende Partei doch noch. So stellt die Netflix-Serie «Narcos» einen Wahlkampf in Mexiko 1988 dar. Doch ist es wirklich so einfach, das Wahlverhalten der Bürger*innen zu beeinflussen? Ein Einblick in die Welt der Wahlumfragen.
Präsidentschaftswahlen in Mexiko 1988: Der Chef des Guadalajara-Kartells, Miguel Ángel Félix Gallardo, und die Wahlkampfleiterin des Partido Revolucionario Institucional PRI treffen sich in einem schicken Restaurant. Umfragen deuten auf einen Gewinn des oppositionellen Kandidaten hin. Ein Problem für das Kartell und den PRI gleichermassen: Ersteres finanziert die Partei, letztere bietet dem Kartell politischen Schutz. Doch Félix Gallardo hat einen Plan.
Er schlägt vor, die ersten Hochrechnungen am Wahltag zu Gunsten des eigenen Kandidaten zu manipulieren. «Wenn man der Masse sagt, dass ihr Kandidat am Verlieren ist, verlassen die Menschen ihr Haus nicht. Dann hat man ihnen die Hoffnung genommen. Die Leute wollen auf den Sieger setzen. Wer wählt schon einen Verlierer?» Eine Manipulation der Wahl, ohne einen einzigen Wahlzettel zu manipulieren, lautet die Strategie. Mit Erfolg: Am Wahltag geht der PRI-Kandidat entgegen den Vorwahlumfragen als Sieger hervor.
Underdogs, Favorit*innen und Mitläufer*innen
Bereits vor den Wahlen oder Abstimmungen geben uns Umfragen eine Vorstellung von ihrem Ausgang. So sehen wir schon heute, wer im Rennen um den amerikanischen Präsidentschaftstitel vorne liegt oder wissen um die aktuelle Zustimmung zu Initiativen und Referenden, auch wenn es gelegentlich zu Überraschungen kommt. Die Narcos-Fiktion wirft die Frage auf, ob solche Stimmungstests die Wahl- oder Abstimmungsresultate beeinflussen – und zwar auf problematische Art und Weise.
Eine reale Sorge: In gewissen Staaten dürfen deswegen einige Tage vor Wahlen der Abstimmungen keine Umfragewerte mehr veröffentlicht werden. Auch in der Schweiz führen Umfragen immer wieder zu politischen Diskussionen. Mehrere Vorstösse im Parlament forderten in der Vergangenheit ähnliche Regeln wie im Ausland, mehr Transparenz oder sogar ein Verbot.
Mehrere Vorstösse im Parlament forderten mehr Transparenz und sogar ein Verbot.
So schrieb die Staatspolitische Kommission in einer Motion aus dem Jahr 2010: «Die Auswirkung von Umfragen und Prognosen vor Wahlen und Abstimmungen auf die Meinungsbildung und Mobilisierung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ist seit vielen Jahren umstritten.»
Politikwissenschaftler*innen beschäftigen sich schon lange mit dieser Problematik. Gehen die Menschen weniger an die Urne, wenn Umfragen ihrer Partei eine Niederlage voraussagen, wie das im Beispiel von Narcos der Fall ist («Defätismus-Effekt»)? Oder führt das zu -einer «Jetzt-erst-recht» Haltung und einer verstärkten Mobilisierung («Underdog-Effekt»)?
Ähnliches gilt für die Favorit*innen. Schlafen die mutmasslichen Gewinner*innen vor lauter Selbstsicherheit lieber aus, statt wählen oder abstimmen zu gehen («Lethargie-Effekt»)? Oder möchten alle auf den Gewinner*innenzug aufspringen und wenden sich von den wahrscheinlichen Verlier*innen ab («Bandwagon-Effekt»)?
Mit Methoden der Marktforschung zur richtigen Vorhersage
Die Ursprünge der modernen Wahlumfragen liegen fast 100 Jahre zurück. Ein Meilenstein waren die Präsidentschaftswahlen 1936. Damals stellt sich Franklin D. Roosevelt zur Wiederwahl. Die Welt ist in Aufruhr. «In Europa sind die autoritären Regimes an der Macht und wir befinden uns ein paar Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg», schildert Lionel Marquis von der Universität Lausanne den damaligen Kontext.
In den USA hat Roosevelt mit dem New Deal auf die Wirtschaftskrise reagiert. Dieser beinhaltet umfangreiche Sozialleistungen und Infrastruktur-projekte – ein nie da gewesener Richtungswechsel in der amerikanischen Politik. «Es bestand somit ein besonderes Interesse daran, den Wahlausgang vorherzusagen», so Marquis.
Die bekannte Zeitung Literary Digest tippt auf einen Sieg des republikanischen Kandidaten Alf Landon. Seit 20 Jahren liegt sie mit ihren Prognosen richtig und reitet auf einer Erfolgswelle. Sie stützt sich auf Umfragen bei Telefon- und Auto-besitzern, deren Adressen leicht zugänglich sind. 2,3 Millionen Menschen geben der Zeitung Auskunft über ihre Wahlabsicht. Dieses Mal sollte sie sich jedoch täuschen. Roosevelt gewinnt haushoch. «Die Listen des Literary Digest waren nicht repräsentativ», erklärt Marquis die Ursache der falschen Prognose.
Entgegen der Einschätzung des Literary Digest gewinnt Roosevelt haushoch.
Telefon- und Autobesitzer gehörten zum wohlhabenderen Teil der Gesellschaft, wählten tendenziell republikanisch und nahmen eher an den Umfragen teil. Umgekehrt verhielt es sich mit denjenigen, die vom New Deal profitierten. Die falsche Voraussage des Literary Digest war zugleich die Geburtsstunde der modernen Wahl- und Marketingumfragen.
Mit Roosevelt gewinnen auch drei Meinungsforscher namens George Gallup, Elmo Roper und Archibald Crossley. Im Vorfeld der Wahlen führten sie ihre eigenen Umfragen durch und setzten alle drei auf die Wiederwahl des demokratischen Amtsträgers. Im Unterschied zum Literary Digest bedienten sich die drei rudimentärer statistischer Methoden, die sie von der Marktforschung her kannten. «Auch sie lagen ziemlich daneben», betont Marquis. «Aber sie sagten den richtigen Gewinner voraus und das machte den Unterschied aus».
Während das Literary Digest ein paar Jahre später pleite ging, etablierten die drei Forscher ihre Umfrageinstitute, die noch bis heute zu den grössten weltweit gehören und in dutzenden Ländern Ableger haben.
Treffsichere Prognose oder Diskussionsanstoss?
Auch in der Schweiz führen gleich mehrere Institute politische Umfragen durch. Weshalb tun sie das? Laut der gfs.bern, welche im Auftrag der SRG die vergangenen Abstimmungsumfragen erhob, helfen die Zahlen eine evidenzbasierte Diskussion über die öffentliche Meinung zu führen. Gleichzeitig dienen sie den Parteien als Indiz für ihre Position im Rennen um Macht und als Barometer dafür, was die Bürger*innen bewegt.
Ähnlich sieht das die Auftraggeberin der Studie, die SRG. Ihr zufolge ist die Veröffentlichung von Umfrageresultaten in erster Linie ein Informationsmittel für das Publikum. Gleichzeitig lenken sie die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die anstehenden Abstimmungen oder Wahlen und dienen als Diskussionsgrundlage.
Umfragen und deren Veröffentlichung seien damit ein wichtiges Instrument einer Demokratie. Dabei gehe es nicht darum, eine Prognose zu erstellen, sondern vielmehr eine Momentaufnahme der Stimmung in der Bevölkerung wiederzugeben und die Bürger*innen zum Diskutieren und schliesslich zum Wählen oder Abstimmen zu bewegen.
Umfragen und deren Veröffentlichung seien damit ein wichtiges Instrument einer Demokratie.
Beschränkter Nutzen für die Parteien
Wie sehen das die Parteien? Nutzen sie die die Stimmungstests, um ihre Wahlkampfstrategie anzupassen? Sowohl die SP als auch die FDP sagen auf Anfrage, dass sie die Resultate jeweils aufmerksam verfolgen. «Die Umfragen werden als Kommunikationsmoment verwendet, um die Komiteemitglieder oder Kandidierenden zu motivieren, sich stärker zu engagieren», sagt der Kommunikationsverantwortliche der FDP, Martin Stucki.
Ähnlich klingt es beim Medienverantwortlichen der SP, Nicolas Haesler: «Oft nutzt die SP Umfrageergebnisse, um am Tag deren Erscheinens medial darauf zu reagieren und die eigene Wählerschaft zu animieren.» Beide teilen jedoch mit, dass Umfragen wenig Einfluss auf die Strategien ihrer Parteien haben. Selber gäben sie nur selten Umfragen in Auftrag. Laut Stucki sei das lediglich bei überparteilichen Kampagnen mit knappem Ausgang der Fall. Und zwar, «um Anpassungen vorzunehmen oder Effekte unserer Werbemassnahmen zu messen.»
Höchstens ein bisschen Opportunismus
Forschende konnten bisher kaum nachweisen, dass Umfragen das Resultat von Wahlen oder Abstimmungen verändern. So konnten der niederländische Politologe Tom W.G. van der Meer und seine Kolleg*innen in einer Studie aus dem Jahr 2016 zu den holländischen Wahlen keinen «Underdog-Effekt» beobachten.
Dennoch kommt es immer wieder zu überraschenden Kehrtwenden am Stichtag, wie beispielsweise bei der Masseneinwanderungsinitiative 2014 oder der Trump-Wahl 2016. Beim «Bandwagon-Effekt» ist die Situation komplexer. Die Umfrageresultate alleine zeigen kaum einen Einfluss auf das Wahlverhalten. Positives Framing hingegen – also wenn sich eine Partei bewusst anhand einer Umfrage als Gewinnerin darstellt – kann durchaus dazu führen, dass noch mehr Wähler*innen auf den Gewinner*innenzug aufspringen. Die Strategie Félix Gallardos, seine Partei fälschlicherweise als vermeintliche Gewinnerin zu präsentieren, scheint daher strategisch nicht ganz falsch zu sein, auch wenn seine Art des positiven Framings unlauter ist.
Kampagnen und soziale Bewegungen sind für den Wahlausgang viel entscheidender.
Statt den Umfragen sehen die Vertreter der Umfrageinstitute andere Faktoren als wichtiger für die Wahlbeteiligung an. «Die meisten Änderungen in der Wähler*innenstärke von Parteien resultieren aus Mobilisierungseffekten. Das heisst, diejenigen Parteien gewinnen, welche die meisten Sympathisant*innen an die Urne bringen», sagt Bruno Wüest von sotomo. Auch sie durften schon Umfragen für die SRG durchführen. Befragungen seien jedoch nicht der wichtigste Faktor im Wahlkampf, ergänzt Wüest. Kampagnen und soziale Bewegungen sowie die allgemeine Themenkonjunktur seien dafür viel entscheidender. Das hätten beispielsweise die Klima- und Frauen-Wahl vom letzten Jahr gezeigt.
Survey sells
«Für die Medien besitzen sie Neuigkeits-Wert»
Umfragen bringen einen Funken Sachlichkeit in den sonst emotionalen Wahl- und Abstimmungskampf. Machen sie die Politik damit langweiliger? Obwohl die Ergebnisse laut Lukas Golder von gfs.bern immer präziser werden, kommtgelegentlich Spannung auf. Dies zeigte jüngst die Abstimmung zum Jagdgesetz und der Kampfjetbeschaffung, wo es bis zum Ende knapp blieb.
Richtig lagen dabei die Trendeinschätzungen von gfs.bern bei vier von fünf Vorlagen. Nur bei der Kampfjetbeschaffung unterschätzten sie die Dynamik einer Schlussmobilisierung, so Golder. Gleichzeitig vermutet Lionel Marquis einen gewissen Selbstläufer-Effekt, was die Beliebtheit von Umfragen angeht. «Für die Medien besitzen sie Neuigkeits-Wert», man könne sich ihnen nur schwer entziehen. «Für die Kandidat*innen ist es ein Mittel gegen die Ungewissheit», so Marquis.
Wer die eigene Position mit der öffentlichen Zustimmung untermauern kann, hat einen Vorteil.
Und schliesslich dienen den Politiker*innen Umfragen als Argument: Wer die eigene Position mit der öffentlichen Zustimmung untermauern kann, hat einen Vorteil. Neben einer sachlicheren Debatte erfüllen Umfragen somit auch instrumentelle Zwecke.