Irme ige ide Ittume*

Eine Tafel auf Matteänglisch an der Schifflaube. Darauf steht: «Hier ist das Fass mit den Goldstückchen nicht vergraben.» Eine Anspielung auf einen Mythos aus der Zeit von der Besetzung Berns durch Napoleon.

20. Mai 2020

Von und

Die Matte ist anders. Anders als Bern. Und über Jahrhunderte hinweg besass sie nicht nur einen eigenen Dialekt, sondern sogar eine Geheimsprache – das Matteänglisch.

Dort, wo das Weisse ins Schwarze Quartier übergeht, holt mich die Ruhe ein. Weit über mir strömen Bärenhungrige Berns bekanntester Sehenswürdigkeit zu. Das Rattern der Busse auf dem Kopfsteinpflaster, die aufgeregten Rufe der Touristen, wenn ein Bär sich wieder mal bequemt, den Leuten beim Starren zuzuschauen – aller Lärm verklingt, von mir ungehört. Hier unten an der Aare, in der Mattenenge, verlangsamt sich der Herzschlag im Rhythmus vereinzelter Schritte und dem sanften Treiben des Flusses. Kein Bus fährt hier, Autos ist nur zu gewissen Zeiten die Durchfahrt erlaubt. Das Schwarze Quartier, das seinen Namen den schwarzen Strassenschildern verdankt, deren Farbgebung noch aus den Zeiten Napoleons stammt, war schon seit jeher von der Stadt isoliert. Ein eigener dörflicher Mikrokosmos aus Kleinhandwerkern, Schiffern, Wäscherinnen und Schulkindern. Die Matte ist eben nicht Bern. Aber Bern gäbe es wahrscheinlich nicht ohne die Matte. Die seit dem 12. Jahrhundert von der Wasserkraft angetriebene Industrie im Quartier bescherte der Stadt Leder, Tuch, Gold und später sogar Schokolade und ermöglichte es ihr, die Stadt zu werden, die wir heute kennen. Zudem war die Matte lange Zeit ein wichtiger Schifffahrtsknotenpunkt mit einer eigenen Werft. Schiffe fuhren von hier bis Brienz im Süden und Rotterdam im Norden.

Schiffe fuhren von hier bis Brienz im Süden und Rotterdamm im Norden.

Von diesem einst emsigen Treiben ist heute allerdings nicht mehr viel zu spüren. Die Gerberngasse, die mich tiefer in die Matte führt, ist auf beiden Seiten von niedrigen Lauben gesäumt. Grossstädter müssen hier schon ein wenig den Kopf einziehen. Die Häuser wurden säuberlich saniert und blicken in schweizerischer Manier den wenigen Passanten nach – einige Schulkinder, eine Radfahrerin, zwei Nonnen. Und doch – es gibt sie noch, die Überbleibsel aus jener Zeit des Handels. Eines davon sind die zwei Wörter in aareblauen Lettern über dem Eingang zum Quartierladen: Ittume Idele.

Kauderwelsch

Peter Hafen, Präsident des Matteänglisch Club Bern, muss lachen, als ich ihm am Telefon vom Thema unserer Ausgabe erzähle. «Das ist lustig», meint er in seinem warmen Berner Dialekt, der sich auch für mich Neubernerin wohlig nach Heimat anhört, «dabei hat Matteänglisch mit England grad gar nichts zu tun.» Im deutschen Sprachraum, erklärt er mir, habe man unverständliche Sprachen früher «welsch» genannt, was gleichzeitig auch «Französisch» bedeutete. Im zweisprachigen Bern wurde Französisch aber sehr wohl verstanden, ein anderer Name musste her – und Englisch war den Leuten damals wesentlich fremder. Matteänglisch ist denn auch keine Sprache mit eigenem Vokabular, sondern eine Geheimsprache, die spezifischen Regeln folgt. Aber wo liegt ihr Ursprung

 

Im Grossraum Hamburg. Dort werden die Regeln der Geheimsprache im 14. Jahrhundert zum ersten Mal beschrieben. Bis heute spricht man in Hamburg von der sogenannten «Kesselklopfersprache», die dem Matteänglischen ziemlich ähnlich ist. Höchstwahrscheinlich verbreiteten sich die Regeln dann auf dem Wasserweg südwärts bis in die Matte. So wurde hier aus der Schtibere (Stadt) die Ibereschte und aus dem Matte-Lade eben der Ittume Idele.
Hafen, dem der Schalk bei jedem Wort hinter den Ohren sitzt, treffe ich beim Takeaway «Ligu Lehm» am Mühlenplatz. Nirgendwo sonst fühlt man sich in der Matte mehr in einem Dorf als auf dem Mühlenplatz. Der Brunnen plätschert friedlich vor sich hin, die 500-jährigen Häuser schmiegen sich wohlig aneinander, die Fassaden hübsch zurechtgemacht, die Fenster leicht trunken einander zugeneigt.

Ob er selber in der Familie Matteänglisch gesprochen habe?, frage ich Hafen. Der schüttelt schmunzelnd den Kopf. «Überhaupt wurde Matteänglisch nie wirklich gesprochen», fügt er an, «es wurde nur benutzt, um kurze Anweisungen zu geben oder Mitteilungen zu verfassen.» Über Jahrhunderte wurde es benutzt, wenn Dritte nicht mithören sollten. So zum Beispiel, wenn die Eltern vor den Kindern über deren Weihnachtsgeschenke reden wollten. «Ich kenne einige Leute, die deshalb Matteänglisch gelernt haben. Weil sie wissen wollten, was ihre Eltern da Seltsames von sich gaben.»

Beim Hochwasser von 2005 Teil des Flusses geworden: die Gerberngasse.

Gleich neben dem Mühlenplatz stehen die zwei Schulhäuser der Matte. Als um 1850 die Wasserkraft von der Elektrizität abgelöst wurde, brach die Armut über die Matte herein. Die Industrie zog weg und manch einstiger Handwerker musste sich oben in der Stadt als Tagelöhner verdingen. Dazu kam, dass viele Leute vom Land hierherzogen. Für die vielen Kinder musste ein zweites Schulhaus her. Die Vorurteile über die Matte stammen wohl aus dieser Zeit – bis heute wird Matteänglisch als «Gaunersprache» bezeichnet. Das war sie allerdings nie, stellt Hafen klar. Und Gauner waren die Mätteler auch nicht mehr als andere. «Vielleicht etwas eigenwillig», gibt er zu. So erzählt man sich, dass früher gerne Burschen aus der oberen Stadt hinunter ins Inselibad kamen, um dort in der Gartenwirtschaft um Geld zu spielen und mit den Meitschi z tschääggerle, worauf sie jeweils kurzerhand von den Mattegiele in die Aare geschmissen wurden. Irgendwann hatten die Anwohner genug davon, dass die Burschen immer pflitschnass durch das Quartier liefen und bauten ihnen die Brücke zwischen Schiffslaube und Inseli – zur Abkürzung.

Tschugger und Chempe

Wie es heute mit dem Matteänglisch aussehe, hake ich nach. Schlecht – die Antwort. Heute werde die Sprache nur noch zum Vergnügen in einigen wenigen Familien benutzt. Am meisten Glück, einige Brocken Matteänglisch aufzuschnappen, hat der Suchende vielleicht noch am alle zwei Wochen stattfindenden Stammtisch des Matteänglisch Clubs im Restaurant Mühlirad.

Die Sprache wurde zuletzt von Giele und Modi verwendet, «wo veu no öppe em Tschugger Streiche gspiut hei.»

Begonnen hat der schleichende Niedergang des Matteänglisch mit der Armut. Mit dem Zuzug neuer Familien und der zunehmenden Mobilität der Bewohner*innen ging langsam auch das Wissen um die Geheimsprache zurück. Zuletzt, erzählt Hafen, sei die Sprache von den Giele und Modi verwendet worden, «wo veu no öppe em Tschugger Streiche gspeut hei.» Der Tschugger, versteht sich, ist der Polizist. Wie auch der Ligu Lehm eben ein Stück Brot ist. Aber weder Tschugger noch Ligu Lehm sind Matteänglisch, sondern Mattenberndeutsch. Diesen Dialekt spricht heute zwar auch niemand mehr, es haben sich aber einige Wörter erhalten, die mir als Aarauerin mit Bahnhofs-Buffet-Olten-Dialekt mindestens so rätselhaft erscheinen wie das Matteänglisch. So wird hier die Flasche Flämnu genannt und die Steine Chempe. Mehrmals muss ich nachhaken bei Herr Hafen, der spricht, als wäre er ein Mätteler, dabei lebt er gar nicht hier, sondern im Altenberg, eben kein Original, sondern einer von den «zuechegschläckte».
Überhaupt gibt es nur noch wenige «Originale» hier unten, die Gentrifizierung hat das Quartier fest im Griff. Wo früher Spinnerei, Müllerei und Spezerei waren, haben heute Tänzerinnen ihren Parkettboden und Architekten ihren Coworking Space. Viele kreative Köpfe sind hier zu finden, nur leider auch viele, die bloss zum Schlafen hierherkommen. «Aber die packt’s denn schono», meint Hafen. Und ich spüre, was er meint. Dem eigenwilligen Zauber der Matte entkommt man nicht so schnell.

Adlerblick

Wen es trotzdem wieder nach oben zieht, dem empfehle ich das Senkel­tram. Der Lift, der direkt auf die Münsterplattform fährt, bietet nicht nur ein hübsches Schwindelgefühl im Bauch, sondern auch einen letzten Mundvoll Matteänglisch– Inkede irfe ds Itme-ihrefe. Danke fürs Mitfahren.

«Söui mou richtig bös driiluege?», lacht Peter Hafen bei der Führung.

Auf der Münsterplattform beschleunigt sich der Puls dann spätestens beim Blick in die Tiefe wieder – die hängenden Gärten, die sich zwischen Altstadt und Matte an den Hang schmiegen, warten auf den nahenden Frühling, um in voller Pracht zu erblühen und die Aare schäumt in weisser Gischt über die Schwelle, lockt in türkisgrünen Tönen. Die goldene Bundeshauskuppel thront in Sichtweite und das Münster ragt imposant in den weich gezeichneten Himmel. Aber unten in der Tiefe, zwischen Stadt und Fluss, stehen tüchtig die Häuser der Matte und werfen keinen einzigen Blick zu denen da oben. Die Matte ist eben die Matte.


*matteänglisch für das mattenberndeutsche «mir gö id Matte» (wir gehen in die Matte)

Dieser Arikel erschien erstmals in der Ausgabe «England» des Schweizer Reisemagazins Transhelvetica.

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