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Eine 49 Meter hohe Nachbildung des Berner Zytglogge, die 2010 in Berne, Indiana eingeweiht wurde. (Foto: Chris Flook)

20. Mai 2020

Von und

Bern ist einzigartig – wobei: nicht ganz. Die Geschichte New Berns oder wieso die Zytglogge heute in Amerika steht.

Christoph von Graffenried hatte Schulden. Ziemlich viele Schulden sogar. Die Schweiz, so wie wir sie heute kennen, war zu Beginn des 18. Jahrhunderts bloss ein loser Staatenbund, die Machtinteressen der einzelnen Mitglieder herrschten vor. In England, so erhoffte er sich, werde ihm das Glück hingegen günstiger gesinnt sein. So machte sich Graffenried aus dem Staub und verliess seine Heimatstadt Bern. Ganz heimlich, so dass ihn seine Kreditoren nicht aufhalten könnten. Seine Geschäfte – und seine Schulden – liess er zurück bei seinem wohlhabenden Vater.

Jedoch blieb der erhoffte Durchbruch auch in London aus und nach zwei Jahren ohne finanziellen Erfolg richtete er seinen Blick auf ein noch ferneres Ziel: Amerika! Durch einen Bekannten aus der Schweiz hörte er von den Möglichkeiten, welche die neue Welt ihm zu bieten hatte. Freiheit, fruchtbares Land, reger Handel und vor allem – prall gefüllte Silberminen. Es war ein Leichtes, Unterstützung für sein Vorhaben zu erhalten. Wirtschaftlich versprach man sich hohe Renditen und so beteiligte sich unter anderem die Bernische Aktiengesellschaft Ritter & Companie, welche bereits ein paar Jahre zuvor in Virginia in ein Projekt investiert hatte.

Selbst von der britischen Krone wurde Graffenried gefördert. Die Kronkolonie Carolina, heute geteilt in North und South Carolina, hatte eine eigene Verfassung und ein Parlament, doch es lebten dort bisher hauptsächlich Ureinwohner*innen. Deshalb war jedes Unternehmen, welches die englische Präsenz auf dem Kontinent markierte, willkommen. So erklärt es sich denn auch, dass das Gesuch der Bernischen Regierung um eine unabhängige Kolonie für Berner und Bernerinnen von der britischen Königin dann doch entschieden abgelehnt wurde, da sie kein Hoheitsgebiet abgeben wollte. Auch später wird Graffenried noch die Unfähigkeit Berns lamentieren, entfernte Länder «colonieren» zu können, da es schliesslich keine Seemacht sei.

Dennoch vereinbarte der Bernische Rat mit Graffenried, dass dieser auf seiner Reise 170 Berner*innen mitnehmen würde, darunter 50 «untreue Untertanen» – Täufer*innen – denn anders als in Amerika war in Europa die Religionsfreiheit noch lange keine Selbstverständlichkeit. Wie es sich traf, befanden sich zurzeit auch eine grosse Menge an Flüchtlingen aus der deutschen Pfalz in London, die vor dem Spanischen Erbfolgekrieg Zuflucht fanden. Diese wurden für die Regierung immer mehr zur Belastung, und Graffenried erhielt deshalb weitere finanzielle Unterstützung, damit er 650 Pfälzer*innen mitnahm. Während Graffenried noch auf die Nachzügler*innen aus Bern wartete, stach im Januar 1710 der erste Teil der Flotte in See.

Der amerikanische Albtraum

Auf was Graffenried im Herbst desselben Jahres stiess, nachdem er mit seinen Bernern und Bernerinnen in North Carolina ankam, war in seinen Worten ein unbeschreibliches Elend. Während seine Überfahrt problemfrei verlief, kämpften die Pfälzer*innen mit Unwetter, hatten zu wenig Proviant und wurden zu allem Unglück noch von französischen Freibeutern geplündert. Bevor sie ihre Siedlung gründen konnten, so Graffenried, kamen deshalb beinahe die Hälfte der Einwander*innen um. Schliesslich siedelten sie sich in der Mündung zwischen den beiden Flüssen Neuse und Trent an und bei der verspäteten Ankunft Graffenrieds wurde formell New Bern gegründet. Da sein Name auf dem amerikanischen Kontinent noch in gutem Ruf stand, konnte er erneut Kredite aus dem benachbarten Virginia und Pennsylvania aufnehmen, um seinen Bürger*innen die notwendigsten Güter zu verschaffen. Und tatsächlich, bald schon blühte die kleine Siedlung auf und Graffenried beschreibt, dass sie nach kurzer Zeit in vielem fortschrittlicher waren als die englischen Kolonialist*innen, die bereits seit vier Jahren auf dem Kontinent lebten.

Als der Krieg mit dem Sieg des Nordens endete, blieb New Bern ein Hub für die schwarze Bevölkerung, welche hier ihre eigene Gemeinschaft aufbaute.

Doch Amerika war kein «Virgin Land». An der Stelle des neu gegründeten New Berns befand sich zuvor das Irokesendorf Chattoka. Einige seiner Berater empfahlen Graffenried, sie gewaltsam zu vertreiben, doch der Berner entschied sich für eine diplomatischere Lösung. Für ein paar Flaschen Schiesspulver und Blei erwarben sie das Stück Land, worauf die Ureinwohner*innen sich weiter flussaufwärts ansiedelten. Doch der Frieden währte nicht lange und es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Irokesenstamm. Schliesslich wurde auch Graffenried selbst zum Gefangenen der Ureinwohner*innen, doch während sein englischer Begleiter zum Tode verurteilt wurde, wurden ihm und seinem afrikanischen Sklaven nach Wochen der Gefangenschaft die Fesseln wieder gelöst

Auch später wird Graffenried noch die Unfähigkeit Berns lamentieren, entfernte Länder «colonieren» zu können, da es schliesslich keine Seemacht sei.

Die kriegerischen Handlungen mit den Eingeborenen und auch interne Konflikte zwischen den Regenten von North Carolina strapazierten die Kolonie sehr. Seinen Bitten um Geld nach Bern wurden nicht stattgegeben, es schienen weder Mittel noch Vertrauen in ihn vorhanden zu sein. Entrüstet beschreibt Graffenried deshalb, er hätte sich von Anfang an besser mit geschäftstüchtigen Leuten in England verbinden sollen. Und auch statt den vollen Silberminen traf er nur auf leere Versprechen, denn von denen bekam Graffenried nie etwas zu sehen. Da er zuletzt auch den Kredit, den er in Amerika aufgenommen hatte, nicht mehr zurückbezahlen konnte, floh er vier Jahre später zurück in die Alte Welt, wo er bis zu seinem Tod blieb. Begraben ist er in der Familienkapelle in Worb.

Mit dem Bus nach New Bern

229 Jahre nachdem der erste Grundstein gelegt wurde, im Jahr 1939, beschreibt der Schweizer Fotograf Paul Senn in der Berner Woche seine Reise nach New Bern. Das klinge schon «recht eigenartig, wenn man stundelang durch die Urwälder von Nordamerika fährt, und schliesslich abends nach ‹Bern› kommen soll». Doch der Kulturschock beginnt erst: in seinem Reisebericht lässt sich offensichtlich herauslesen, dass die vielen afro-amerikanischen Bewohner*innen New Berns einen besonderen Eindruck auf ihn machen mussten. Ein Zeitungsartikel aus derselben Zeit schätzt den Anteil der afro-amerikanischen Bevölkerung New Berns auf 55%. Zum Vergleich, in derselben Zeit gab es in der Schweiz praktisch keine afrikanischstämmige Bevölkerung.

Der New Berner Bär, der die Strassen des Städtchens säumt. (Foto: Melchior Blum)

Es wird deutlich, dass mittlerweile auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans viel geschehen ist. Während New Bern 1776 Teil der unabhängigen USA wurde, wurde 1798 die französische Revolution in die Schweiz exportiert. Im Sonderbundskrieg von 1847, zweifelsohne prägend für die weitere Entwicklung des Schweizer Bundesstaates, starben circa 150 Menschen. Der amerikanische Sezessionskrieg von 1860-65 forderte hingegen über eine halbe Million direkte und indirekte Todesopfer und führte zur Abschaffung der Sklaverei in den USA. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich New Bern zur grössten Stadt North Carolinas und spezialisierte sich auf den Handel mit Waren und Sklaven für die Plantagenwirtschaft, wie sie in den Südstaaten betrieben wurde. Als der Amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, wurde die Stadt schon relativ früh bei der Schlacht um New Bern von den Unionstruppen eingenommen. Am Ufer des Flusses Trent wurden Flüchtlingslager aufgestellt, welche bis zu 10’000 befreite Sklav*innen beherbergten. Als der Krieg mit dem Sieg des Nordens endete, blieb New Bern ein Hub für die schwarze Bevölkerung, welche hier ihre eigene Gemeinschaft aufbaute. Statt dem Sklavenhandel wurde die Verarbeitung und der Handel mit Holz zum wichtigsten

Wirtschaftszweig der Stadt.

Obwohl die Sklaverei abgeschafft wurde, war man jedoch noch weit entfernt von der Gleichstellung. Bei Senns Besuch 1939 wurde die Rassentrennung strikt durchgesetzt und die schwarze Bevölkerung hatte kaum gesellschaftliche oder politische Rechte. Im damaligen Stadtführer New Berns wird sie mit keinem Wort erwähnt. Ein anderer Artikel in der Berner Woche beschreibt: «Sie werden zwar gut behandelt, aber als so etwas wie höhere Haustiere angesehen.» Zwischen der schwarzen und der weissen Bevölkerung der Stadt befand sich eine tiefe Kluft.

Erst 1891, als eine Delegation aus New Bern zur Feier des 700-jährigen Jubiläums «Old Berns» in die Schweizer Bundesstadt kam, wurde der Kontak wiederaufgenommen.

Senn, der New Bern mit der Absicht besuchte, die Stadt seiner Berner Leserschaft näherzubringen, fokussierte deshalb vorzugsweise auf das Vertraute, oder versuchte im Fremden das Bekannte zu entdecken. So wollte er im Kirchenturm die Zytglogge wiedererkennen, die villengesäumte Einfahrtsstrasse war für ihn die Muriallee und sogar der Stadtpräsident New Berns schien dem Berner Stadtpräsident zu gleichen. Ganz konsequent beschreibt er die Leute, mit denen er interagiert, als Berner und Bernerinnen und selbst die afro-amerikanische Bevölkerung nannte er, zum heutigen Fremdschämen, «Berner Neger».

Bern ist überall

Doch wie sehr sich Paul Senn auch bemühte, so scheint New Bern vergleichsweise wenig mit seiner schweizerischen Vergangenheit zu verbinden. Einen Blick zurück auf die Gründungsjahre lässt vielleicht schlussfolgern, dass es doch absehbar gewesen sei. Schliesslich türmte der Gründer nach vier Jahren und auch bei der Besiedelung waren weitaus mehr Leute aus der Pfalz als Emigrant*innen Berns dabei.

Tatsächlich ging auch in Bern das Vorhandensein der Tochterstadt in North Carolina in Vergessenheit. Erst 1891, als eine Delegation aus New Bern zur Feier des 700-jährigen Jubiläums «Old Berns» in die Schweizer Bundesstadt kam, wurde der Kontakt wiederaufgenommen. Die Amerikaner*innen waren so imponiert vom Wappen und den Farben Berns, dass sie diese direkt für ihr Städtchen übernahmen. Heute zieren sie selbstbewusst die Strassen New Berns, doch anders als in der Schweiz fehlt dem Bären sein Geschlechtsorgan. Das kann man natürlich dem amerikanischen Puritanismus zuschreiben, aber – noch einfacher – vielleicht handelt es sich einfach um eine Bärin?

Trotz der Wiedereinführung des Wappens blieb jedoch in New Bern wenig der Bernischen Tradition vorhanden. Anders sieht das zum Beispiel in Berne, Indiana aus. Denn als Senn 1939 noch scherzte, in New Bern wolle man den Bärengraben nachbauen, sobald genug Geld da wäre, so nahm man das in Indiana durchaus ernst. 2010 wurde eine beinahe grössentreue Kopie der Berner Zytglogge auf dem Dorfplatz errichtet. Die Siedlung wurde 1852 von bernischen Auswander*innen gegründet und ist heute bekannt für ihre amische Bevölkerung, welche tatsächlich noch oft Berndeutsch spricht.


Aus der Fundgrube:

Erinnerungssplitter an einen kurzen Aufenthalt in New Bern, North Carolina

Frühling 1981 – es muss April gewesen sein – befand ich mich auf einer Autostopp-Reise quer durch die Vereinigten Staaten und machte Halt in «New Bern», North Carolina. Ich schulterte meinen Rucksack und marschierte Richtung Stadtzentrum los. Bald blitzte so etwas wie Heimatgefühl auf, denn kaum war ich fünf Minuten unterwegs, erblickte ich es – das Berner Stadtwappen in den Farben rot und gelb und dem schwarzen Bären in der Mitte.

Das Wappen prangte an der Fassade des örtlichen Zeitungsverlags. Es schien eine gewisse Tradition fürs Zeitungsmachen in New Bern zu geben, denn die Stadt verfügte über die erste Druckmaschine in North Carolina.

Der Berner Bär in New Bern, North Carolina. Foto: Thomas Peter.

Vor dem Zeitungsgebäude traf ich einen älteren Herrn, der zu früher Stunde mit seinem Hund unterwegs war. „The early bird catches the worm,“ meinte er mit einem fröhlichen Grinsen und fragte mich nach meinem Woher und Wohin. Als er erfuhr, dass ich aus der Schweiz stamme, legte er gleich los. Im Gespräch stellte sich der pensionierte Staatsanwalt als fundierter Kenner der Stadtgeschichte heraus. Ob ich wüsste, dass die Stadt unter anderem von einem Berner namens Christoph von Graffenried gegründet worden war und aktuell 210 Jahre alt sei. Gräfenried, wie er den Namen aussprach, sei aber nach verschiedenen Angriffen der Tuscarora-Indianer und dem Verlust seines gesamten Vermögens bald wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Hinterlassen hat er das Stadtwappen, das noch heute an vielen Gebäuden und den Polizeiautos prangt. Ob ich denn eine Unterkunft hätte, wollte er wissen, was ich verneinte. „Dann gehen Sie zum Polizeigebäude der Stadt. Als ich noch Staatsanwalt gewesen bin, haben wir Rucksackreisenden hin und wieder eine Zelle als Übernachtungsmöglichkeit angeboten.“ Auf meinen skeptischen Blick sagt er energisch: „No worries! Keine Angst! Gehen Sie dorthin und nennen Sie meinen Namen!“
An seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr, aber ich machte mich auf den Weg durch die älteste Schweizer Siedlung in den USA, die seit 1971 ein Gesetz hat, das das Fluchen auf öffentlichem Grund und Boden verbietet. Im Polizeigebäude fragte mich eine junge afroamerikanische Beamtin in Uniform nach meinem Begehren und da um diese Uhrzeit noch wenig los war in den Räumlichkeiten, nahm sie sich Zeit, ein wenig mit mir zu plaudern. Ich erklärte ihr, warum ich da sei. Sie hörte geduldig zu, um mir dann zu erläutern: „Leider dürfen wir keine Zellen mehr für diesen Zweck zur Verfügung stellen, aber gehen Sie zum Sheriff.“ Auf meinen erstaunten Blick meinte sie lachend: „No worries! Er sieht schrecklich ernst aus, aber er ist ein ganz netter Kerl. Er kann Ihnen eventuell Welfare Vouchers, Wohltätigskeitgutscheine, für eine Übernachtung im Hotel geben, aber vorher wird er Sie ein wenig über Ihre Finanzen ausquetschen.“
Wieder schulterte ich meinen Rucksack und wanderte durch das mit hübschen Kolonialgebäuden gesäumte Städtchen.

Das Attmore-Oliver-House, eines der vielen Kolonialgebäude New Berns. Foto: Thomas Peter.

Im Büro des Sheriffs donnerte mir die Stimme des Amtsinhabers entgegen: „What do you want?“ Ja, was wollte ich eigentlich von diesem furchteinflössenden Koloss, der wie ein schwarzer Buddha auf seinem Bürostuhl sass? Nachdem ich ein wenig zögerlich erklärt hatte, worum es ging, fing er an, mich „auszuquetschen“. Woher, wohin, wie viel Geld noch in der Tasche, wie unterwegs, wann zurück und vieles mehr. Schliesslich die Frage: „Any criminal records, young man?“ Die Frage nach Vorstrafen konnte ich glücklicherweise verneinen, worauf mich ein schallendes Lachen aus der Verhörsituation befreite.
„Okay“, sagte er mir, „hier sind zwei Gutscheine. Der eine berechtigt Sie zu zwei Übernachtungen in einem Hotel. Der zweite gibt Ihnen die Möglichkeit, zwei Mahlzeiten pro Tag in einem Restaurant einzunehmen. Auf geht’s und danken Sie es den reichen Frauen der Wohltätigkeitsgesellschaft!“, meinte er abschliessend mit einem schelmischen Zwinkern und drückte mir mit seiner Pranke die rechte Hand.
An den Namen des Hotels und des Restaurants erinnere ich mich nicht mehr, aber an die Freundlichkeit der Betreiber und die üppigen Mahlzeiten schon. Nach meiner langen Tour auf amerikanischen Strassen und vielen Übernachtungen in Häusern der Heilsarmee unter Obdachlosen oder irgendwo draussen, hatte mich New Bern als VIP empfangen und die beiden nächsten Tage fühlten sich für mich als Rucksackreisenden wie der Aufenthalt in einer Wellness-Oase an.

Autor: Thomas Peter.

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