Eat! Save! Love!

Illustration: Lisa Linder

06. Januar 2020

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Wir lernen es eigentlich von klein auf: Isst du den Teller leer, scheint morgen die Sonne. Trotzdem fallen in der Schweiz jährlich 2,8 Millionen Tonnen Foodwaste an. Ein Verlust, der grösstenteils vermeidbar wäre. Zwei Studentinnen machen sich auf die Suche nach mehr Sonne, krummen Rüebli, Pudding und Brot aus der Tonne.

 

Im Hinterhof unseres Konsums

23:09 Uhr

Irgendwo in Bern, später November. Ein Supermarkt, sein Müll und die Nacht, die uns umgibt. Unsere Räder haben wir in sicherer Entfernung unauffällig hingestellt, sind im Gänsemarsch den Bewegungsmeldern ausgewichen und stehen nun vor den Resten, die der Grosshändler für die Entsorgung bereitgestellt hat. Was denkt sich eine 22 Jahre junge Studentin, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben im Müll wühlt? Erstens: Das hier ist sicher kein Müll. Und zweitens: Warum habe ich das nicht schon längst getan?

Da bin ich nicht die Erste. «Auf einer persönlichen Ebene ist es natürlich vor allem lustig.» Alain*, der selber Student ist und mindestens einmal in der Woche containern geht, grinst. Angefangen hat alles vor fünf Jahren mit «einer kritischen Masse an gleichgesinnten Unfugtreibern.» Sie haben sich bunt angezogen und haben mit Lärm und Karacho das Gelände des Supermarkts erkundet. So hätten sie im Fall einer Entdeckung immer noch die Entschuldigung gehabt, total betrunken zu sein. Möglichst auffällig, möglichst harmlos – eine ziemlich sichere Variante, um eine mögliche Location erst einmal zu rekognoszieren, meint Alain. Seither ist das «Nachteinkaufen» Teil seiner Wochenstruktur geworden. Nicht mehr etwas Aussergewöhnliches, aber immer noch etwas, das Vergnügen bereitet. «Es macht einfach Spass, mich um halb elf abends aufs Velo zu schwingen, um in 25 Minuten den Wocheneinkauf zu machen, und dabei wie bei einem Überraschungsei einfach das mitzunehmen, was halt dort ist.»

23:10 Uhr

Es ist ein bisschen wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Schicht um Schicht gräbt man sich durch die weggeworfenen Lebensmittel. Da gibt es Grittibänze, frisch, wahrscheinlich erst wenige Stunden zuvor aufgebacken, Schoggigipfeli, ganze Ananas, Bananen nach Bananen, Pudding. Es gibt Zitronen, unzählige Packungen geschnittenen Salat, Joghurtdrinks, Zopf, Käse, geschnittenen Kürbis und Fleisch.

Es ist ein bisschen wie Weihnachten und Geburtstag zusammen.

Fleisch macht fast die Hälfte der ganzen Lebensmittel aus. Es gibt Falafel, gebratenes Poulet, es gibt ein Sweet’n’ Sour Gericht, das nach der Angabe auf der Verpackung am selben Tag um viertel nach vier abgepackt wurde. Sieben Stunden später liegt es schon im Müll. Keines der Lebensmittel weist Spuren von Fäulnis auf. It’s a mad, mad world.

In der Schweiz fallen nach Angaben des Bundesamts für Umwelt jährlich gute 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittelverluste an, zwei Drittel davon wären vermeidbar. Die Detail- und Grosshändler nehmen dabei allerdings nur einen kleinen Anteil von 8 Prozent ein, die grössten Umweltsünder sind Haushalte mit 38 Prozent und die Lebensmittelverarbeitung mit 27 Prozent. Von den etwa 100‘000 Tonnen Lebensmitteln, die als Abfall bei den Grosshändlern wie Migros, Aldi und Coop anfallen, wird ein Grossteil zu Biogas bzw. Tierfutter verarbeitet oder an Organisationen wie «Tischlein deck dich» oder die «Tafel» gespendet. Nur ein kleiner Teil, etwa drei Prozent der 100‘000 Tonnen, landet im Müll. Vor Ort stellen diese drei Prozent dann allerdings doch eine ziemliche Menge dar.

23:17 Uhr

Obwohl wir nur einen Bruchteil der Lebensmittel genommen haben, sind unsere Rucksäcke bis zum Bersten gefüllt. Bevor wir gehen, verwischen wir alle Spuren. Nichts darf zurückgelassen werden, alles sollte so aussehen wie zuvor. Noch der kleinste Erdklumpen wird beseitigt. Eine Unachtsamkeit kann Konsequenzen für jeden weiteren Besuch haben. Die Filiale eines Grosshändlers in Bern war eine Zeit lang so beliebt zum Containern, dass die Container schliesslich abgeschlossen wurden. Bevor wir loslaufen, schauen wir nochmals, ob die Luft rein ist. Biegt ein Lieferwagen im falschen Moment um die Ecke, stehen wir ungeschützt im Scheinwerferlicht. Aber nichts ist in Sicht. Los. Und schon sind wir wieder bei den Rädern und fahren in die Nacht.

Alain glaubt, dass es durchaus Mitarbeiter*innen gibt, die wissen, dass hier gecontainert wird. Soweit wurden allerdings vonseiten der Filiale noch keine Schutzmassnahmen ergriffen. Trotzdem seien sie vorsichtig geworden, wen sie auf ihre Einkaufstour mitnehmen und wen nicht. Letztlich macht sich auch in der Schweiz straffällig, wer das Gelände von Supermärkten unbefugt betritt. Auch wenn der Müll offiziell nicht mehr Eigentum der Unternehmen ist. Folge ist meistens eine Geldstrafe um die 1000 Franken. Oft kommen die Betroffenen aber auch glimpflich davon.

«Eine nachhaltige Lösung gegen Foodwaste und Überproduktion ist Containern auf keinen Fall», stellt Alain von Anfang an klar. «Deshalb fühlen wir uns auch nicht dafür verantwortlich, andere Leute dafür zu sensibilisieren.» Schliesslich, da ist er sehr kritisch, ändere man durch das «Nachteinkaufen» nichts am System. Im Gegenteil – man nutze eine schlechte Seite des Systems aus, die es eigentlich besser gar nicht gäbe. Aus einer rationalen Perspektive sei ein Konzept wie Foodsharing viel geeigneter, um gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen. Legal, systematisch und für alle zugänglich. Nicht alle «Nachtkäufer*innen» sind dieser Meinung. Viele betonen den Protest, das Zeichen, das sie damit gegen eine übermässige Konsumgesellschaft setzen. Sicher ist: unterstützt wird das System dadurch nicht, untergraben auch nicht. Dafür, so Alain, können sie die durchs Containern gewonnene Zeit und Ressourcen in Eigenprojekte stecken, die wiederum vielen Leuten zugute kommen. Soziales Engagement dank einer übermässigen Konsumgesellschaft.

«Eine nachhaltige Lösung gegen Foodwaste und Überproduktion ist Containern auf keinen Fall.»

23:41 Uhr

Der Himmel ist rot erleuchtet von den Strassenlichtern. Während wir fahren, geistern absurde Geschichten um uns herum. Von Einkaufszentren, die in ihren Gängen zwar getrennte Mülleimer aufstellen, dahinter aber sauber gehäckselt alles in die gleiche Tonne werfen: egal ob Kassenzettel, Fleisch, Gemüse, Veloreifen. Frei nach dem Motto: Wenn Greenwashing zu Greenshreddering wird. Meine Urgrosseltern, die noch Eichelkaffee gekocht und Eier im Wasserglas eingelegt haben, um sie länger haltbar zu machen, würden sich wohl im Grab umdrehen.

00:04 Uhr

Zuhause angekommen, sortieren wir unseren Fund, waschen die vier Ananas, die in etwas Käsigem gelegen haben und frieren einen Grossteil der 35 Bananen ein. Dabei stosse ich zuhinterst in meinem Kühlschrankfach auf einen grossen Becher Joghurt. Er ist noch zu Hälfte gefüllt, aber schon leicht mit Schimmel überzogen. Gut gemacht, denke ich, werfe das Joghurt fort und räume die geretteten Puddings ein. 38 Prozent des Foodwastes entsteht bei dir und mir zuhause. Und wir spenden weder an die Tafel noch machen wir Tierfutter daraus. Im besten Fall kompostieren wir richtig.

When people run in circles, it’s a very, very – mad world. Gary Jules hat recht.

Es wird wohl Zeit, die Nase in die eigene Tonne zu stecken.

* Name geändert

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