Sterben nach Plan

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Bild: Karin Röthlisberger

12. März 2019

Von und

Der Wunsch zu sterben ist vielen fremd. Doch es gibt auch die Anderen. Sterbehilfeorganisationen wie Exit begleiten Menschen, deren 
Leiden ihren Lebenswillen überschattet. Das Schweizer Gesetz ermöglicht, was die 
umliegenden Länder verbieten. Doch was 
bedeutet selbstbestimmtes Sterben?

Es ist eine der unscheinbaren Sandsteinfassaden des Berner Länggassquartiers. Leicht zu übersehen ist er, der dezente Schriftzug der Klingel an der Mittelstrasse 56, welcher nur Eingeweihten verrät, was hier zu finden ist. Hinter diesen Türen wird über das gesprochen, worüber oft lieber geschwiegen wird. Eine, die nicht darüber schweigt, ist Melanie Kuhn. Sie ist Freitodbegleiterin bei «Exit» – sprechen über das Sterben ist ein wichtiger Teil ihrer Arbeit.

«Die Sterbehilfeorganisationen haben den Artikel 115 quasi zweckentfremdet»

Die gesetzlichen Möglichkeiten

Dass Sterbehilfeorganisationen sich hierzulande im legalen Rahmen bewegen, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, das Beihilfe zum Suizid grundsätzlich nicht gesetzlich ahndet – nur Belgien, die Niederlande und Luxemburg sowie der US-Bundestaat Oregon verfügen teilweise über eine noch liberalere Gesetzgebung. Sterbehilfe ist nicht gleich Sterbehilfe. Das Bundesamt für Justiz differenziert verschiedene Arten – es wird zwischen direkt aktiv, indirekt aktiv, passiv und Suizidhilfe unterschieden. Beihilfe zum Suizid ist legal, solange nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen Hilfe geleistet wird. Ansonsten droht nach Artikel 115 des Strafgesetzbuches eine Geld- oder Freiheitsstrafe. Dass die Schweiz eine Vorreiterrolle einnimmt, sieht Kuhn nicht als bewusste staatliche Entscheidung: «Anders als Belgien und die Niederlande hat die Schweiz die Thematik Sterbehilfe nicht speziell früh erkannt». Es seien eher gewisse Kreise gewesen, die diese Lücke im Gesetz genutzt hätten, um sich zu organisieren. «Die Sterbehilfeorganisationen haben den Artikel 115 quasi zweckentfremdet. Seinen Ursprung hat er im Militär, wo er dazu diente, dass Soldaten an der Front schwerverletzten Kameraden helfen konnten, ihr Leiden zu verkürzen.»

Die Menschen dahinter

Die Gründung von Exit erfolgte 1982 – treibende Kraft war die 1905 geborene Berner Lehrerin Hedwig Zürcher. Am 3. April des Gründungsjahres schrieben sich 69 Gleichgesinnte als Mitglieder der Vereinigung mit dem Beinamen «für humanes Sterben» ein. Kuhn sieht die Exit-Gründung als Folge des medizinisch-technischen Fortschritts der 60er/70er Jahre, der die lebenserhaltenden Massnahmen revolutionierte. Die jahrelange Lebenserhaltung durch Maschinen sahen kritische Stimmen als ethisch nicht vertretbar an. «Wir wollen trotzdem sterben können», war ihre Forderung. Patientenverfügungen waren bis dato in der Schweiz unbekannt. Noch vor der ersten Freitodbegleitung im Januar 1985 erarbeitete Exit das Modell der Patientenverfügung nach US-amerikanischem Vorbild. Das schien dem Bedürfnis vieler zu entsprechen: Innerhalb weniger Wochen wuchs die Zahl der Mitgliedschaften auf 1000 an. Es war auch die Zeit, in der Exit eine «Freitod-Broschüre» herausgibt – eine Anleitung zum Suizid. Dies wäre heute unvorstellbar, meint Kuhn, die sich an diese Zeit erinnert: «Mein Vater war bereits Exit-Mitglied, als er 30 Jahre alt war. Exit war für mich schon früh ein Begriff». Dass sie später selbst für diese Organisation arbeiten wird, ahnte sie damals noch nicht.

«Ich habe Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert, ich bin also eine Quereinsteigerin. Ich kannte jemanden, der bei Exit gearbeitet hat, so hat sich das ergeben», berichtet Kuhn. Die meisten der 40 Freitodbegleiter*innen, von denen zwei Drittel Frauen sind, kommen aus medizinischen oder sozialen Arbeitsbereichen. Der grösste Teil der Sterbebegleitenden arbeite ehrenamtlich, erhalte jedoch eine Pauschale für Spesen erstattet. Kuhn ist eine der wenigen Exit-Mitarbeitenden mit einer Festanstellung. Sie begleitet Menschen mit psychischen Erkrankungen und dies bedeute eine hohe Betreuungsintensität, erklärt sie. Grundsätzlich würde Kuhn jedoch eine Entlöhnung für alle befürworten. «Freiwilligenarbeit kann auch problematisch sein. Wenn ein Angestelltenverhältnis besteht, wird mehr Qualität einforderbar». Und wie würde es dann um das Kriterium der egoistisch motivierten Bereicherung stehen? Der Verein sei eine Non-Profit-Organisation und lege die Finanzen offen. «Exit bietet Sterbehilfe nicht aus selbstsüchtigen Motiven an», davon ist Kuhn überzeugt. Doch was braucht es, um Menschen in den Tod zu begleiten? Lebenserfahren und belastbar müsse jemand sein und über emotionale Stabilität und ein Bewusstsein für die gesellschaftspolitische Dimension von Sterbehilfe verfügen, so Exit. Interessierte Personen müssten eine einjährige interne Ausbildung absolvieren, die auch ein psychologisches Assessment an der Universität Basel beinhalte, erklärt Kuhn. Sie finde ihre Arbeit sehr spannend, da sie sich an der Schnittstelle von Psychologie, Medizin und Recht befinde und intensiven direkten Kontakt mit Menschen bedeute. «Und es ist halt schon nichts ‚Normales‘, es wird nie Routine. Eine gewisse Anspannung bleibt immer, es muss alles gut organisiert sein», berichtet sie. Sterbebegleitende würden sich auch regelmässig austauschen, etwa an Fallbesprechungstagen oder bei der Supervision, so Kuhn.

Wer begleitet sterben darf

Nicht allen Personen kann der Wunsch nach einer Sterbebegleitung durch Exit erfüllt werden. Neben der Volljährigkeit ist Urteilsfähigkeit einer der zentralen Begriffe. Urteilsfähig sei jede Person mit der Fähigkeit zu vernunftgemässem Handeln, definiert das schweizerische Zivilgesetzbuch den nur schwer fassbaren Begriff. Eine etwas vage Basis für Entscheidungen über Leben und Tod? Da scheiden sich die Geister. Klar ist: Ohne ärztlich bescheinigte Urteilsfähigkeit dürfen keine Sterbebegleitungen durchgeführt werden. Personen, die an einer Erkrankung leiden, die auch einen geistigen Abbau zur Folge hat, sind von dieser Option also ausgeschlossen. Dies erklärt, warum nur wenige Demenzerkrankte Sterbehilfe in Anspruch nehmen: «Solche Personen könnten nur in einem früheren Stadium, wenn ihnen noch Urteilsfähigkeit attestiert wird, diesen Weg wählen. Meist geht es ihnen zu diesem Zeitpunkt aber noch zu gut, um sich dafür zu entscheiden», präzisiert Kuhn. Wenn es dann wirklich prekär wird, ist es zu spät.

Eine weitere Bedingung ist die der Tatherrschaft. Diese setzt voraus, dass die sterbewillige Person das tödliche Mittel, das Natrium-Pentobarbital (NaP), selbst oral einnehmen oder den Infusionshahn öffnen muss – ansonsten fällt der Todesfall unter aktive Sterbehilfe, die strafrechtlich geahndet wird. Es wird ebenfalls die Wohlerwogenheit des Entscheides geprüft: Es darf nicht aus dem Affekt gehandelt werden, der Sterbewunsch muss konstant und sämtliche Alternativen geprüft sein. Auch darf er nicht durch Andere beeinflusst werden: Die betroffene Person muss autonom zu dieser Entscheidung gekommen sein. Kuhn erlebt jedoch oft, dass äussere Faktoren den Sterbewunsch beeinflussen. Das Gefühl, dass die Angehörigen sich nicht um betagte Verwandte kümmern können oder wollen, spiele manchmal schon eine Rolle. Auch der finanzielle Aspekt könne ein Thema sein. Viele möchten ihre Vermögen nicht für ein Altersheim ausgeben, sondern vererben. Auch Erbberechtigte selbst könnten ein Interesse am Tod einer Person haben. «Da muss man dann klar Stellung beziehen, ich finde das inakzeptabel», so Kuhn.

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Bild: Karin Röthlisberger

Jede Form von Beeinflussung zu erkennen sei ein Ding der Unmöglichkeit. Aber man entwickle ein Gefühl dafür. Ambivalenz etwa – wenn die Person ihre Absichten je nach Gegenüber oder Tagesform ändere – könne ein Resultat von äusserem Druck sein, berichtet Kuhn. Schliesslich müsse man jedoch den Selbstbestimmungsgedanken walten lassen: «Eine Person entscheidet selbst – deshalb ist die Urteilsfähigkeit so wichtig. Je weniger urteilsfähig, desto einfacher ist es, jemanden unter Druck zu setzen», erklärt Kuhn. Ist ein autonomer Entscheid in unserer stark verknüpften, systemischen Gesellschaft überhaupt möglich? «Die Person muss den Suizid selbst ausüben. Ich glaube kaum, dass sich jemand so sehr in die Ecke drängen lässt, wenn sie oder er das nicht will», so Kuhn.

Während die Kriterien der Urteilsfähigkeit, Wohlerwogenheit, Konstanz, Autonomie und Tatherrschaft auf schweizerischer Rechtsprechung basieren, hat Exit zusätzliche Bedingungen formuliert. Neben der Exit-Mitgliedschaft verlangen die Statuten einen triftigen Grund für eine Sterbebegleitung: hoffnungslose Prognose, unerträgliche Beschwerden oder unzumutbare Behinderung. Einem Sterbewunsch von gesunden Erwachsenen, die urteilsfähig, wohlerwogen, autonom und konstant in ihrem Wunsch nach dem Tod sind, könnte somit nicht nachgekommen werden. Jedoch sind die Gründe dafür eher technischer Natur: Das tödliche Mittel muss ärztlich verschrieben werden – es braucht zwingend eine medizinische Indikation.

Bei den Mitgliedern, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchten, sei das Leiden meist immens, berichtet Kuhn. Krebserkrankungen, Multiple Sklerose oder amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und andere Diagnosen mit langem Leidensweg und chronischen Schmerzen seien häufig. Immer gewichtiger werde die sogenannte Alterspolymorbidität, eine Summe von altersbedingten Einschränkungen. Auch psychisch Erkrankte können Exit für eine Sterbebegleitung anfragen. Die Abklärungen seien hier jedoch sehr komplex und langwierig, weiss Kuhn. Auch dürfe Suizidalität kein Symptom der Krankheit sein.

Ein sehr einschneidender Schritt sei das Festsetzen des Sterbedatums.

Aber lange nicht alle Personen, die den Wunsch für Sterbehilfe anmelden, würden diese dann auch in Anspruch nehmen. Es gehöre auch zu den Aufgaben der Begleitenden, Alternativen aufzuzeigen. Häufig zeige sich in den Abklärungsgesprächen, dass Menschen unterbetreut sind und Unterstützung, etwa durch einen Mahlzeitendienst oder die Spitex, brauchen, erklärt Kuhn. Unabhängig von der Art der Diagnose muss eine medizinische Einschätzung über den psychischen und physischen Gesundheitszustand einer Person eingeholt werden. Die ärztliche Zusammenarbeit sei sehr wichtig, betont Kuhn. «Die Hilfe beim Freitod ist in der Schweiz auch ärztliche Sterbehilfe», so die Stellungnahme von Exit.

Wenn das Ende naht

Nach dem Abklärungsprozess, bei dem nach Möglichkeit auch das engere Umfeld der Person einbezogen wird, erfolgt gegebenenfalls die Rezeptausstellung für das Natrium-Pentobarbital. Dies läute oftmals die Endphase ein, so Kuhn. Ein sehr einschneidender Schritt sei das Festsetzen des Sterbedatums. Auch nach zwölf Jahren bei Exit sei dies für Kuhn ein spezielles Gefühl. «Oft besteht bei den betroffenen Personen der Wunsch, vorher noch alles ‚in Ordnung‘ zu bringen», berichtet sie. Nur schon krankheitsbedingt sei dies häufig nicht möglich. Bei Personen, die sich nicht in der Endphase einer Krankheit befänden, sei die Findung eines Termins besonders schwierig. Wie das Umfeld mit der Entscheidung umgeht, sei ganz unterschiedlich. «Oft hinken Freunde und Familie hinterher. Die sterbewillige Person ist immer voraus, mit der Krankheit, dem Erleben, mit dem Schritt zu Exit», schildert Kuhn. Angehörige seien in der passiveren Rolle und müssten damit umgehen lernen und auch entscheiden, wie stark sie involviert sein wollen. «Gar nicht involviert werden, geht aber nicht», konkretisiert Kuhn. Oft sei das Wissen um das Datum für Menschen rundherum nur schwer erträglich. Die Frage nach dem «Was könnte ich noch tun, damit sie oder er trotzdem noch am Leben bleiben möchte?» laste oftmals schwer. Je weiter weg vom natürlichen Tod, desto grösser sei tendenziell die Herausforderung, so Kuhn. Der Gedanke, dass die Person dann nicht mehr leiden müsse und belastende Betreuung wegfalle, könne aber schon auch eine Erleichterung bedeuten.

Ähnlich wie bei unbegleiteten Suiziden kann die getroffene Entscheidung, diesen Weg zu gehen, zur Folge haben, dass es Betroffenen besser gehe. «Die Person blüht manchmal richtiggehend auf. Dies steht aber in engem Zusammenhang mit dem bevorstehenden Ende», weiss Kuhn. Das werde vom Umfeld leicht missverstanden, da müsse Aufklärungsarbeit geleistet werden. «Für Angehörige ist diese Entwicklung oft schwer zu akzeptieren. Auch wenn es guttun kann, am Ende gemeinsam noch Schönes zu erleben», erzählt Kuhn. Dass der Wunsch nach Geheimhaltung geäussert wird, kann vorkommen. Kuhn akzeptiere das grundsätzlich, versuche jedoch, den Prozess möglich transparent zu halten: «Für mich gehört es zum selbstbestimmten und geplanten Sterben, sich von nahestehenden Personen zu verabschieden. Wenn nicht persönlich, dann wenigstens schriftlich, auch um das Gewicht der Schuld zu erleichtern». Nicht nur da dies der sterbewilligen Person oftmals guttue. «Es geht auch um die Hinterbliebenen, die weiterleben müssen», erklärt sie.

«Man muss sich vorher alles sagen, sich umarmen, denn es kann sehr schnell gehen. Nach wenigen Minuten wird die Person müde, ihr wird schwindelig und sie schläft ein.»

Der grösste Teil der Menschen, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen, tut dies bei sich zuhause. Wer sie am Ende begleite, sei unterschiedlich. Wenn der Tag X gekommen ist und die Person an ihrem Entscheid festhält, bringt die oder der Exit-Mitarbeitende das NaP-Pulver mit. Da die Substanz sehr bitter ist, muss die Person ein Antibrechmittel einnehmen, bevor sie das NaP zu sich nimmt. «Ein Kaffee weniger als zwei Stunden vor dem Termin ist auch nicht empfehlenswert», so Kuhn. Wenn die Person nicht mehr fähig ist, zu schlucken, kann eine Infusion gelegt werden. «Die Personen haben sich meist gut auf den Moment vorbereitet, haben alles gesagt, alles organisiert. Sie haben oft keine grossen Wünsche mehr, sie sind meist einfach froh, dass es jetzt soweit ist. Manche wünschen sich noch Kerzen oder Musik». Für sie sei der Moment, wenn sie der Person das Glas mit der Flüssigkeit überreiche, immer speziell, erzählt Kuhn. «Mit dem Herz bei der Sache sein, ist wichtig, das kann man nicht einfach nebenbei machen.» Es sei eine anspruchsvolle Aufgabe, aber auch eine dankbare: «Ich weiss, dass ich die Person bei dem unterstütze, was sie möchte. Klar, eine gewisse Trauer ist vorhanden, da die Menschen Abschied nehmen müssen. Aber sie sind meist sehr gefasst. So ist es auch etwas Schönes.» Sie verstehe, dass das für viele Menschen befremdlich wirke, sagt sie. «Ich habe aber auch schon geweint, weil der Abschied sehr traurig für mich war.»

Die Möglichkeit, sich umzuentscheiden, hat die Person bis kurz vor der Einnahme des Medikaments. Davor braucht es noch eine letzte Unterschrift – der spätmöglichste Zeitpunkt zur Umkehr. Rückzieher in letzter Minute habe sie kaum erlebt, berichtet Kuhn. Wenn die Person den Deziliter Wasser mit dem aufgelösten NaP eingenommen habe, gäbe es kein Zurück mehr. Dasselbe gelte für das Öffnen der Infusion. «Man muss sich vorher alles sagen, sich umarmen, denn es kann sehr schnell gehen. Nach wenigen Minuten wird die Person müde, ihr wird schwindelig und sie schläft ein.» Die Person verliere das Bewusstsein und die Atmung werde immer langsamer, bis zum letzten Atemzug. Der Tod trete nach etwa zehn Minuten ein. «Das NaP schaltet das Schmerzzentrum im Gehirn aus, so können die Personen schmerzfrei und friedlich einschlafen», berichtet Kuhn. Danach hätten die Angehörigen Zeit, um Abschied zu nehmen. Anschliessend müsse die Polizei benachrichtigt werden, da ein ‚Ausserordentlicher Todesfall‘ vorliegt. Diese nehme eine Legalinspektion vor, die Leiche werde ausgezogen und auf Fremdeinwirkung untersucht. In der Regel erfolge danach die Freigabe. Ansonsten könne eine Obduktion und eine Zeugenbefragung angeordnet werden, erklärt Kuhn. Ist dieser Prozess abgeschlossen, ist die Arbeit von Exit grundsätzlich beendet. Jedoch sei es üblich, nach zwei Wochen nochmals mit den Hinterbliebenen für ein Abschlussgespräch in Kontakt zu treten, berichtet sie.

Gegenwind und Alternativen

Die Thematik der Sterbehilfe spaltet die Schweizer Bevölkerung: Zwischen den Befürwortenden, die auch für aktive Sterbehilfe kämpfen, bis hin zu vehementen Gegner*innen finden sich verschiedenste Positionen. Der heftigste Widerstand sei tendenziell in religiösen Kreisen zu verorten, so Kuhn. Ist Sterbehilfe also nur für Atheist*innen? «Nein, überhaupt nicht. Die Generation, die heute betagt ist, ist oftmals noch in einem religiösen Kontext aufgewachsen. Das kann, speziell wenn es dem Ende zugeht, eine Rolle spielen», berichtet Kuhn. Steht Suizid nicht im Widerspruch mit dem religiösen Verständnis? «Nicht unbedingt. Viele Gläubige sind der Meinung, dass Gott diesen Weg in Ordnung für sie findet», erklärt Kuhn.

«Mit dem Herz bei der Sache sein, ist wichtig, das kann man nicht einfach nebenbei machen.»

Sterbehilfekritik kommt aber nicht nur von religiöser Seite: «Kritische Stimmen fragen, ob das Angebot für Sterbehilfe nicht signalisieren würde, dass ältere oder kranke Menschen überflüssig seien und diese dadurch unter Druck geraten würden. Sie könnten das Gefühl entwickeln, dass sie zu hohe Kosten verursachen, zu viel Aufwand generieren und dass sie ’sich selbst entsorgen müssten’», erzählt Kuhn. «Dort sind wir in der Verantwortung, dass diese Botschaft nicht transportiert wird. Wir als Gesellschaft, aber auch Exit als Organisation.» Denn dies wäre alles andere als ein selbstbestimmtes Sterben. Wie konkret dem gesellschaftlichen Druck des «Sterben-Müssens» entgegengewirkt werden könne, ist keine der Fragen, auf die eine simple Antwort wartet. Kuhn spricht von genügend Unterstützung, sodass ältere Menschen ihren Lebensabend gut gestalten können und von umfassender medizinischer und sozialer Betreuung für Erkrankte. Palliative Care spiele ebenfalls eine zentrale Rolle, so Kuhn: «Je besser jemand palliativ betreut wird und informiert ist, welche Schmerztherapien und Begleitmöglichkeiten es gibt, desto weniger wird Sterbehilfe ein Thema», davon ist sie überzeugt. «Aber solange die Umstände so schlecht sind, dass Personen nicht mehr mit ihrer Situation leben wollen, helfen wir ihnen, da heraus zu kommen», erklärt Kuhn.

Doch die Verhinderung des Leidens sei nur eines der zentralen Motive, um Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Ein anderes sehr gewichtiges sei die Angst vor Autonomieverlust. «Viele Menschen möchten nicht in einem Morphin-Rausch vor sich hindämmern und völlig abhängig von anderen sein», weiss Kuhn.

Wohin geht die Reise?

Etwa 1,5 Prozent der Todesfälle in der Schweiz sind Freitodbegleitungen. Die organisierte Sterbehilfe habe sich in den letzten zehn Jahren rasant verändert, so Kuhn rückblickend: aus dem Halbschatten der Heimlichkeit zu etablierten Organisationen im Scheinwerferlicht. Dass der Bereich der Sterbehilfe offiziell noch immer kaum reguliert ist, werde dieser Entwicklung nicht gerecht, findet Kuhn. Exit zählt heute rund 120’000 Personen, die dem Verein angehören. Das Durchschnittsalter der Mitglieder, von denen etwas mehr als die Hälfte Frauen sind, ist Mitte 70. Die Kosten für eine Jahresmitgliedschaft betragen 45 Franken, für eine Mitgliedschaft auf Lebenszeit muss 1100 Franken berappt werden. Im letzten Jahr wurden 905 Menschen von Exit in den Tod begleitet. Ende 2018 sah sich der Verein gezwungen, eine Warteliste für Neumitglieder einzuführen. Grund dafür seien die knappen personellen Kapazitäten. Ob solche Entwicklungen als Anstoss genügen, um eine grundlegende Veränderung für die organisierte Sterbehilfe herbeizuführen, wird sich zeigen.

Als Sterbebegleiterin hat Kuhn den Tod ständig vor Augen. Hat dies ihr Verhältnis zum Sterben verändert? «Die Endlichkeit wird einem schon bewusster. Es macht einen vielleicht auch dankbarer für das eigene Leben. Ich weiss, dass schon morgen alles ganz anders sein kann». Sie habe viel gelernt von den Menschen, die sie in den Tod begleitet hat. Besonders eindrücklich empfunden habe sie die Begegnungen mit Personen, die sagen können: «Es ist jetzt gut. Ich hatte so ein gutes Leben, alles in allem. Und jetzt ist es Zeit für mich zu gehen.». erzählt sie. «Mein Ziel ist es nicht, mit Exit zu gehen. Aber diese Haltung des Bereitseins zum Gehen zu erreichen und sagen zu können, ‚jetzt ist es gut‘, das wäre schön».

 

Die Verlängerung der menschlichen Lebensdauer stellt in unserer Gesellschaft einen Selbstzweck dar. Die Annahme dahinter ist einfach: Leben ist gut, deshalb ist mehr davon besser. Dass Menschen einen Todeswunsch verspüren können, bringt diese Annahme ins Wanken. Statt der Frage, wie wir länger leben können, werfen Todeswünsche eine viel wichtigere Frage auf: Unter welchen Umständen wollen wir leben?

In einer säkularen Gesellschaft fällt die Beantwortung dieser Frage dem Individuum zu. Während für einige Menschen der Todeswunsch entsteht, weil das Leben schon immer mehr Leid als Freud, mehr Leere als 
Sinn bedeutete, sehnen sich andere nach einem erfüllten Leben danach, gehen 
zu können. Am schwersten tut sich unsere Gesellschaft mit temporären Todeswünschen. Was wäre, wenn eine Person sich das Leben nimmt, obwohl sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder Lust am Leben empfunden hätte? Immer weniger Menschen beziehen ihren Lebenswillen aus religiösen Geboten, wonach das 
Leben heilig und unabhängig der persönlichen Empfindungen zu erhalten sei. Stattdessen hat fast jede*r Vorstellungen davon, was lebenswert ist und was nicht. Auch wenn diese Vorstellungen subjektiver und oft hypothetischer Natur sind, käme es den wenigsten Menschen in den Sinn, anderen ihre Sichtweise aufzudrängen.

Doch genau darin besteht zurzeit der stärkste Vorbehalt gegenüber Sterbehilfe: Welcher Sterbewunsch entspringt dem eigenen Willen, welcher dem Druck der Gesellschaft? Eine klare Trennung wird es nie geben. Kritiker*innen der Sterbehilfe beklagen trotzdem, dass eine Liberalisierung gewissen Menschen vermittle, sie seien unerwünscht. Bevor dieses Szenario in einer liberalen Demokratie eintritt, müsste noch viel passieren: Zu verschieden sind die Lebensentwürfe verschiedener Menschen und sozialer Gruppen, als dass Menschen wegen des gesellschaftlichen Drucks die Freude am Leben verlieren. Gesellschaftlicher Druck bedeutet viel eher, Menschen die Mündigkeit und Selbstbestimmung in so wichtigen Fragen abzusprechen.

Fabio Peter

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