Eine Narbe zieht sich durch Brasilien
Bild: Luana Tüscher
Jair Messias Bolsonaro war 2017 noch eine Randfigur bei den Präsidentschaftswahlen, dennoch fanden sich schon damals Menschen, die in ihm tatsächlich den Messias sahen. Seine strenge Hand – wenn nötig auch mit einer Militärdiktatur – brauche es, damit wieder Ordnung und Normalität in Brasilien einkehre. Kaum jemand ahnte, welch tiefe Narbe die von ihm angestossene politische Debatte in der Gesellschaft hinterlassen würde.
«Brasil acima de tudo, Deus acima de todos (Brasilien über allem, Gott über allen)» – unter diesem Motto gewann Jair Bolsonaro am 28. Oktober 2018 die Präsidentschaftswahlen des grössten Landes Südamerikas. Unter dem Hashtag #elenao (er nicht) warnten vor und während den Wahlen viele vor dem ultrarechten Präsidentschaftskandidaten. Der rechtsextreme Präsident fiel im Vorfeld mit rassistischen, frauenfeindlichen und homophoben Äusserungen auf. So sagte er beispielsweise, dass er einen schwulen Sohn nicht lieben könnte, dass schwarze Menschen nicht einmal zur Fortpflanzung taugen, oder gegenüber der Parlamentarierin Maria do Rosário, dass er sie nicht vergewaltigen würde, weil sie zu hässlich sei. Gleichzeitig versprach er der brasilianischen Bevölkerung eine nie dagewesene Säuberung von Kriminalität und Korruption. Dazu gehört laut Aussagen Bolsonaros auch die Verbannung politischer Gegner. Für rund 57,8 Millionen Menschen scheint die harte Hand Bolsonaros die Lösung für die Probleme im Land zu sein. In anderen weckt der Militärverehrer schlimme Erinnerungen aus früheren Zeiten und Angst um die eigene Freiheit. Die Wahlen 2018 rissen einen tiefen Graben durch die brasilianische Gesellschaft und spalteten sogar Familien.
Die Identität steht Kopf
«Wer hat eine Familie, mit der ich Weihnachten feiern kann? Mit meiner eigenen Familie kann ich nicht mehr feiern, die haben Bolsonaro gewählt», postete Joana noch vor dem 1. Wahlgang auf Facebook. Joana ist Ökonomin und arbeitet in sozialen Projekten in Rio de Janeiro. Sie sagt, sie sei anders als der Rest der Familie und auch ihr Beruf passe so gar nicht in die Reihe. «Ich komme aus einer konservativen, reichen Familie mit einer langen aristokratischen, sexistischen und patriarchischen Tradition. Viele von ihnen haben Bolsonaro gewählt. Sie meinen, dass alle gleich denken wie sie, doch das stimmt nicht.» Dennoch ist es dem rechtsextremen Kandidaten gelungen, die Wahlen für sich zu entscheiden.
Laut dem brasilianischen Forschungsinstitut Datafolha besteht der Grossteil der Wählerschaft Bolsonaros aus weissen Männern. Aber auch Frauen, Homosexuelle und People of Color waren unter den Wählenden. Einige Gegner*innen der neuen Regierung behaupten, dass die diesjährigen Wahlen von Fake News und gezielter Wahlbeeinflussung über soziale Medien geprägt waren. Ausserdem meinen einige, dass die letzte Regierungspartei, die Partido dos Trabalhadores (PT), es erst möglich machte, dass viele Korruptionsskandale aufgedeckt wurden. Dadurch sei der Anschein entstanden, dass die Korruption unter der Regierungspartei PT viel grösser geworden ist. Zum anderen kam das Thema Sicherheit bei der linken Arbeiterpartei PT viel zu kurz. «Die Identität der Menschen in Brasilien steht Kopf. Von aussen mag man denken, dass Brasilianer glückliche und fröhliche Menschen sind, aber das ist nur eine Maske, um die sozialen Probleme, die sie seit Langem haben, zu überdecken», meint Joana.
«Wer hat eine Familie, mit der ich Weihnachten feiern kann? Mit meiner eigenen Familie kann ich nicht mehr feiern, die haben Bolsonaro gewählt»
Manche Ökonom*innen behaupten, dass Bolsonaro Brasilien in einem konjunkturellen Aufschwung übernimmt und womöglich Lorbeeren für vergangene wirtschaftspolitische Massnahmen der PT ernten wird. Für Joana ist der konjunkturelle Aufschwung jedoch kein Zeichen für die Wohlfahrt der Bevölkerung: «Wir befinden uns in einer Periode, in der vor allem Investoren beglückt werden. Tatsache ist aber, dass wir heute in Brasilien grosser Armut und Hunger gegenüberstehen.»
Das Nebeneinander von Arm und Reich
Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Brasilien enorm. Die Küstenmetropole Rio de Janeiro macht diese Tatsache auf eine schockierende Weise sichtbar. Die Wolkenkratzer der Ultrareichen mit Pool und eigenem Helikopterlandeplatz grenzen an die farbigen Favelas, welche die hügelige Landschaft zeichnen. Die Ungleichheit wird wohl unter der neuen Regierung kaum kleiner. Seit seinem Amtsantritt am 1. Januar 2019 kürzte Bolsonaro bereits die Anzahl der «Bolsa Familia»-Empfangenden. Die «Bolsa Familia» ist ein Grundeinkommen, welches den Ärmsten im Land zugutekommt, die nicht arbeiten können.
Aber auch Frauen, Homosexuelle und People of Color waren unter den Wählenden.
Leo, ein Architekt aus Belo Horizonte befürchtet, dass die Privatisierung und die Öffnung der Märkte auf Kosten der Bildung und Gesundheit gehen: «Das Schlimmste der neuen Regierung unter Bolsonaro ist die stark neoliberal geprägte Agenda. Diese Welle entstand bereits nach dem Putsch von 2016. Dazu gehört der Verkauf von brasilianischem Staatseigentum, die Öffnung der Märkte und die Privatisierung der staatlichen Unternehmen. Der Erlös aus dem neuen Ölvorkommen, wäre nach der eigentlichen Planung der PT zu 75 Prozent in die Bildung und zu 25 Prozent in die Gesundheit geflossen.» Dieses Vorhaben sei jedoch bereits unter dem Interimspräsidenten Michel Temer abgeschafft worden, ergänzt Leo. Die Ernennung von Paulo Guedes, ein Schüler Milton Friedmans, als Wirtschaftsminister unter Bolsonaro ist ein klares Zeichen einer ultraliberalen Wende.
Die evangelikale Kirche im Wahlkampf
Auch in Bezug auf das Kultur-erbe rechnet Leo mit grossen Veränderungen. «Die neue Regierung ist nicht nur stark von den Kräften des freien Marktes, sondern auch vom katholischen Fundamentalismus geprägt. Viele fundamentalistische Kirchen verleugnen die Kulturgeschichte Brasiliens und erklären diese nach ihren eigenen Vorstellungen.» Laut der britischen Tageszeitung «The Guardian» gehörten 2014 bereits 22 Prozent der Brasilianer*innen einer evangelikalen Kirche an. Heute dürften es deutlich mehr sein. «The Guardian» stellte ausserdem schon damals fest, dass Brasiliens Evangelikale zu einer bedeutenden politischen Macht werden würden. Dem schien sich Bolsonaro bewusst zu sein und fokussierte seinen Wahlkampf auch auf die Evangelikaner*innen im Land. Die traditionellen und konservativen Werte dieser Gruppen vertrat Boslonaro nicht nur während seinen Reden, sondern auch in seinem Wahlslogan.
Rassismus und die Angst vor dem sozialen Abstieg
Leos Bruder war Koordinator für die Kampagne von Bolsonaro. Auch einige seiner Neffen sind Bolsonaro- Anhänger. «Sie tolerieren es, wenn ich mit meinem Freund auf Besuch komme und sie sind auch nett, aber ihre wirklichen Werte sind homophob und rassistisch. Es war deshalb für mich keine Desillusion als sie Bolsonaro wählten.» Auch ein Teil der Familie von Leos Partner hat Bolsonaro gewählt, obwohl sie schwarz sind und einen schwulen Sohn haben. «Die Bevölkerung Brasiliens war schon immer sehr voreingenommen, stark von Klassen geprägt und nicht besonders humanitär. Mit Bolsonaro bekamen viele eine Legitimation für diese Werte, welche sie schon lange Zeit zuvor vertraten», sagt Leo und ergänzt, «gerade die Mittelklasse zeigt sich gegen aussen gerne progressiv und humanitär, doch sobald sie eine gewisse Legitimation bekommen, legen sie ihre Maske ab und zeigen ihre faschistische Seite.» Auch wenn Rassismus in Brasilien viel weniger explizit als in den Vereinigten Staaten zu sein scheint, ist er dennoch sehr verbreitet. «Viele Hausangestellte leben noch heute wie Sklaven. Erst unter der Regierung Lula da Silvas bekamen diese Menschen Rechte. Davor hatten sie weder Ferien noch geregelte Arbeitszeiten», sagt Leo. Zwei symbolische Fakten seien kennzeichnend für die Mittelklasse: Zum einen verloren sie ihr bisheriges exklusives Privileg zu studieren, weil neu auch der ärmeren Bevölkerung die Chance auf eine universitäre Ausbildung gewährt wurde. Zum anderen fühlten sie sich während der Regierung der PT durch die neuen Rechte für die Hausangestellten bedroht.
«De facto verlor die Mittelklasse nichts, doch der Unterschied zwischen Arm und Reich schien langsam kleiner zu werden. Dies führte meiner Meinung nach zum Putsch gegen die PT», meint Leo. Er hat sich auf den sozialen Medien klar für den linken Kandidaten Fernando Haddad positioniert. In seiner eigenen Familie haben sie die unterschiedlichen politischen Meinungen zuerst mit Humor genommen. Doch als einer seiner Neffen damit begonnen hat, Fake News in den Familienchat zu stellen, schrieb Leo, er solle sich besser informieren und trat aus dem Familienchat aus. «Heute sprechen wir wieder miteinander und einer meiner Neffen hat mir bereits anvertraut, dass er Angst davor hat, was gerade in diesem Land passiert.» Auch er hatte Bolsonaro gewählt.
Der Riss durch die Familie
Bei der Schauspielerin Carol sind die Wunden tiefer. Auf die Frage, was sie vom neuen Präsidenten hält, sagt sie nach langem Überlegen: «Bosta». Bosta heisst Kuhmist. Für Carol bedeutet Bolsonaro Intoleranz, Rückschritt, sowie politische, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit. 90 Prozent ihrer Familie haben Bolsonaro gewählt, darunter ihre Mutter, ihr Vater, eine Tante, mehrere Onkel und Cousins. «Das hat dazu geführt, dass die ganze Familie erschüttert wurde. Eine regelrechte emotionale Katharsis brach in unserer Familie aus. Mein Bruder sprach nicht mehr mit einem Onkel, ich nicht mehr mit einem anderen Onkel und die Beziehung meiner Eltern hat sich verändert. Die Fronten der zwei Lager haben sich enorm verhärtet.» Es ist für sie unverständlich, wie ihre eigene Familie ihren Schauspielberuf aufs Spiel setzen konnte. Während den Wahlen hatte sie grosse Angst, dass es unter der neuen Regierung nicht mehr möglich sein werde, politisches Theater zu machen. «Seither wurde mir bewusst, dass es umso wichtiger ist, gerade jetzt mit dieser Art von Theater weiterzumachen.»
Zensur im Theater
Theater wurde in Brasilien seit der Zeit der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 schon immer bis zu einem gewissen Grad zensiert. «Unsere Aufgabe ist es, Wege zu finden, diese Zensur zu umgehen. Dafür müssen wir Sprachen und Metaphern finden. Wir müssen weitermachen, egal was kommt», sagt Carol und versucht dabei mutig zu klingen.
«Sie sind nett, wenn ich mit meinem Freund zu Besuch komme, aber ihre wirklichen Werte sind homophob und rassistisch.«
Auch was die Polarisation der Gesellschaft betrifft, hat Carol Hoffnung: «Ich denke, dass die Radikalisierung und dadurch auch die Polarisation dank richtigen Informationen abnehmen wird. Ich kenne einige, die ihre Wahl schon heute bereuen.» Sie und ihr Schauspielkollege, der beim Gespräch dabei war, hoffen immer noch auf die Freilassung Lula da Silvas, welcher aufgrund von Korruptionsvorwürfen im Gefängnis sitzt. Für viele ist er bis heute der Präsident des einfachen Volkes, der sich vor allem für die ärmere Bevölkerung einsetze.
Das Militär gegen Korruption und Kriminalität
Während der Militärdiktatur kamen nebst der Zensur Repressionen und Folterungen dazu. Die linke Opposition wurde unterdrückt und Andersdenkende ermordet. Es scheint erstaunlich, dass die noch so junge Demokratie Brasiliens einen Präsidenten wählt, welcher die Zeit der Militärdiktatur verherrlicht.
«Das Militär birgt den Mythos, gegen Korruption und Kriminalität vorzugehen. Dies machte sich Bolsonaro im Wahlkampf zunutze. Er vermittelte seinen Wählern, dass er nicht Teil dieses korrupten Politiksystems sei, obwohl er selbst 30 Jahre in der Politik tätig war», meint Leo.
Ordem e progresso
Ob der neue Präsident seine Wahlversprechen für mehr Sicherheit, weniger Korruption und Kriminalität einhält, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen. Eines ist sicher: Die Wahlen 2018 haben in der brasilianischen Bevölkerung eine Polarisation ausgelöst und wohl in einigen Familien eine Narbe hinterlassen. Vor dem Wahlkampf hatte die brasilianische Bevölkerung ein geringes politisches Bewusstsein und sprach kaum von linken und rechten Positionen. Ob sein Vermächtnis im Sinne der brasilianischen Flagge neben Ordnung (ordem) auch Fortschritt (progresso) sein wird, ist eine andere Frage. «Wenn die Menschen merken, dass ihre politische Meinung, einen Einfluss auf ihr eigenes Leben und das Leben anderer hat, wäre die entstandene Narbe eine gute Lehre für die Zukunft. Vielleicht werden sich die Leute bei einem nächsten Mal nicht mehr ins eigene Fleisch schneiden», sagt Leo am Ende unseres Gesprächs und klingt dabei zuversichtlich.