Konflikte im Hinterzimmer
Musik und Truppen vor dem Bundeshaus während des Landesstreiks. (Bild: Schweizer Bundesarchiv)
Die Geschichte der Schweizer Arbeiter*innenbewegung ist von Begriffen wie Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft geprägt. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen wird meist in Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Branchenverbänden ausgetragen und nur selten in Form von Streiks auf der Strasse. Eine kleine Spurensuche nach Ursprung und Sinnhaftigkeit dieses Zustands.
Nirgends wird so selten gestreikt wie in der Schweiz. Dies zeigt eine Studie des Düsseldorfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). In den Jahren 2006 bis 2015 wurde hierzulande lediglich an zwei Arbeitstagen pro 1000 Personen und Jahr die Arbeit niedergelegt. Zum Vergleich: Derselbe Wert liegt für die Arbeitenden in Frankreich bei 123 Streiktagen. «Es liegt in unseren Genen, Probleme durch Gespräche zu lösen, statt zu feindseligen Massnahmen zu greifen», so wird Hansjörg Schmid, Sprecher des Branchenverbands Angestellte Schweiz zitiert. Ungeachtet allfälliger biologischer Prädisposition ist es zumindest unbestreitbar, dass die Schweiz keine grosse Streiktradition kennt.
Ein Streik mit Folgen
Trotzdem jährt sich am kommenden 12. November der grösste Arbeiter*innenaufstand der Schweiz zum 100. Mal. An diesem Tag im Jahr 1918 legten in einem landesweiten Generalstreik rund 250’000 Menschen die Arbeit nieder. Zu gross wurden in den Kriegsjahren die Armut und die soziale Kluft in der Gesellschaft. Die Arbeiter*innenschaft, koordiniert vom Oltner Aktionskomitee, trat mit einer breiten Palette an Forderungen auf. Einige Punkte wurden bald nach Abbruch des Streiks umgesetzt. So wurde im Herbst 1919 die erste Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzwahlsystem durchgeführt. Die SP konnte dabei ihre Mandate verdoppeln. Auch die geforderte 48-Stunden-Woche wurde im Jahr darauf Realität. Andere Anliegen wurden hingegen jahrelang auf die Wartebank verschoben: Die Einführung der AHV erfolgte 1947, das Stimm- und Wahlrecht für Frauen wurde erst 1971 Realität.
Ebenso unterschiedlich wie die Umsetzung dieser Verbesserungen entwickelte sich in der Folge die Rezeption des Landesstreiks. Während Linke und Gewerkschaften sich den Ausgang des Generalstreiks als Erfolg auf die Fahnen schrieben, wurden von bürgerlicher Seite die Ereignisse des Novembers 1918 als kommunistischer Umsturzversuch gedeutet und instrumentalisiert. Zuletzt geschah dies Anfang Jahr medienwirksam durch Christoph Blocher, der in seiner Neujahrsrede Robert Grimm, einem der Anführer des Oltner Aktionskomitees, unterstellte, einen Bürgerkrieg in der Schweiz provoziert haben zu wollen. Solche Andeutungen, ebenso wie die Darstellung des Landesstreiks als bolschewistischer Putschversuch, werden aber von führenden Historikern wie Adrian Zimmermann als «abstrus» abgetan.
Ein Friedensabkommen wird unterzeichnet
Nach dem Landesstreik 1918 erlebte die Schweiz im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts eine generelle Abnahme der Streiktätigkeit und zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden trat ein weitgehender Arbeitsfrieden in Kraft. In einem von Gewerkschaften und Arbeitgebendenverband 1937 unterzeichneten Vertrag – auch als «Friedensabkommen» bekannt – wurde diese absolute Friedenspflicht für die Metall- und Maschinenindustrie festgeschrieben. Darin verpflichteten sich die Arbeitnehmenden, allfällige Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu lösen und Konfrontationen in Form von Arbeitsniederlegungen zu unterlassen. Ab den 50er-Jahren verbreitete sich der Begriff «Sozialpartnerschaft» für die Beziehung zwischen Arbeitgebenden- und Arbeitnehmendenvertretungen.
Die Sozialpartnerschaft kann die Probleme, die wir ansprechen, nicht alleine lösen.
Die Sozialpartnerschaft brachte eine gewerkschaftliche Kompromisspolitik hervor, die von Teilen des linken Spektrums als «reformistisch» oder als «Hinterzimmerpolitik» kritisiert wird. So schreibt etwa Helena Winnall von der Juso Stadt Zürich: «Entgegen dessen, was uns die gewerkschaftliche Mythenbildung heute weismachen möchte, wurden auch im ‹Land des Konsens› die grossen -Fortschritte der Arbeiter*innenbewegung auf der Strasse erkämpft und nicht durch die Sozialpartner ausgehandelt.»
Keine flächendeckende Mindestlöhne
Eine Betrachtung des aktuellen Zustands der Arbeitsverhältnisse offenbart, dass die Schweiz im internationalen Vergleich teils hinterherhinkt. So kennt die Schweiz keinen flächendeckenden Mindestlohn, lediglich die Kantone Neuenburg und Jura haben einen solchen 2017 eingeführt. Eine Volksinitiative der Gewerkschaften für einen schweizweiten Mindestlohn wurde vor vier Jahren abgelehnt. Viele Gesamtarbeitsverträge (GAV) beinhalten Regelungen über einen branchenspezifischen Mindestlohn, allerdings ist die GAV-Abdeckung in der Schweiz eher gering, nur gut die Hälfte der Arbeitnehmenden untersteht einem GAV und nur für 1,7 von 5 Millionen Arbeitnehmenden gilt ein Mindestlohn, wie die Gewerkschaft Unia schreibt. Die Konsequenzen dieses Zustands tragen oft Frauen und beruflich schlechter Qualifizierte, die in Tieflohnbranchen ungenügend gegen Lohndumping geschützt sind. In der Europäischen Union kennen 22 von 28 Staaten einen gesetzlichen Mindestlohn. Die Sozialpartnerschaft in der Schweiz scheint von einer solchen Errungenschaft noch weit entfernt.
Als ab den 1980er-Jahren eine immer stärkere Liberalisierung der Wirtschaft auch die Schweiz erfasste, sank hierzulande der Anteil Beschäftigter, die einem Kollektivvertrag wie dem GAV unterstehen, kontinuierlich. Diese Tendenz endete erst mit der Jahrtausendwende und den flankierenden Massnahmen zum Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU. Die Tradition der Sozialpartnerschaft, die oft und ohne grosse empirische Untermauerung für die wirtschaftliche Stärke der Schweiz verantwortlich gemacht wird, hat ihr Versprechen gegenüber den Arbeitnehmenden bis heute nicht wirklich einlösen können.
Wegweisender GAV
Viele Jahre nach Abschluss des Friedensabkommens sollte es erneut die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) sein, die mit der Verhandlung über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag die Geschichte des Arbeitskampfes prägte. Nachdem sich in den vergangenen Jahrzehnten die Arbeitsbedingungen im MEM-Sektor unter dem Druck der Arbeitgebenden Stück für Stück verschlechtert hatten, stand 2013 unter angespannten Verhältnissen eine Verhandlung über einen neuen GAV der MEM-Branche vor der Tür.
Nur für 1.7 von 5 Millionen Arbeitnehmenden gilt ein Mindestlohn.
Die Vertretung der Arbeitnehmenden fand durch die Unia statt, mit über 200’000 Mitgliedern die grösste Gewerkschaft der Schweiz. Einer der Vorläuferverbände, die sich 2004 zur Unia zusammenschlossen, war die Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen (SMUV), die 1937 das oft mystifizierte, aber sicherlich wegweisende Friedensabkommen mit dem Arbeitgebendenverband der Maschinen- und Metallindustrie abgeschlossen hatte. Die Unia stieg im Sommer 2013 überraschend kampfeslustig in die Verhandlungen mit den Branchenverbänden ein. Corrado Pardini, Leiter des Sektors Industrie der Unia, wurde mit den Worten zitiert: «Wir verlangen einen neuen Sozialpakt. Schliessen wir ihn nicht ab, sind Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft tot.» Dieses Zitat findet sich, wie viele andere, in dem Buch «Heavy Metall» von Oliver Fahrni, Redaktor der Unia-Zeitung «work». Das 2014 erschienene Buch erzählt detailliert, schonungslos und oft polemisch die Entstehung des 2013 unterzeichneten MEM-GAVs. Ein Tabubruch und Geheimnisverrat. Darin werden Details aus den Verhandlungen und Protokollen veröffentlicht, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Entsprechend empört zeigte sich etwa Hans Hess, Präsident des Branchenverbandes Swissmem, der in dem Buch als schwacher und unsicherer Verhandlungspartner charakterisiert wird.
Historischer Deal oder schlechter Kompromiss?
Doch die Serie an Tabubrüchen begann nicht erst mit dieser schriftlichen Dokumentation durch Fahrni, sondern bereits am 22. September 2012. An diesem Tag demonstrierten 5000 Metaller*innen auf dem Bundesplatz für ihre wichtigsten Forderungen. Dass bereits vor den Verhandlungen eines GAV demonstriert wird, ist in der MEM ein ungewohnter Anblick. Die Tradition des Arbeitsfriedens sieht so etwas nicht vor. Es schien ein Symbol für das, was noch folgen mochte. In den Verhandlungsrunden mit den Branchenverbänden wurde die althergediente Logik auf den Kopf gestellt. Das Motto lautete: Arbeitsfrieden gibt es erst, nachdem ein akzeptabler Kompromiss gefunden wird. Dieser Kompromiss ist 2013 eine klare Forderung, die bisher noch nie im MEM-GAV stand: Mindestlöhne. Unter dem Druck der Unia mit ihrem Verhandlungsführer Pardini wird klar, dass Mindestlöhne die Voraussetzung für eine Fortführung der Sozialpartnerschaft sind. Ansonsten drohen Streiks und Unruhen. Nach langem Ringen und der Einsetzung eines Mediators durch Bundesrat Johann Schneider-Ammann unterzeichneten die beiden Seiten einen neuen GAV, der verbindliche Mindestlöhne festlegt. Allerdings musste die Unia auch Opfer bringen, wie etwa den Überzug des Stundenkontos um weitere 100 Stunden. Dies bedeutet, dass im Rahmen flexibler Arbeitszeitregelung neu ein Total von 200 Plusstunden pro Arbeitnehmer*in auf das nächste Jahr übertragen werden darf. Es sind solche Kompromisse, die seit jeher zur Sozialpartnerschaft gehören und sie als «reformistisch» angreifbar machen.
Die Verhandlungen um den MEM-GAV zeigten auf, wie sich in den letzten Jahren die Ausprägung der Sozialpartnerschaft in der Schweiz verändert hat. Die Unia prägte den Begriff der «konfliktiven Sozialpartnerschaft». Dieser steht für eine aggressivere Mobilisierung und den bewussten Einsatz von Konflikten als Druckmittel. Für Helena Winnall stellt dies aber keinen grossen Unterschied dar, wie sie erklärt: «Die Sozialpartnerschaft nutzt im Endeffekt nur der Gewerkschaftsführung, denn sie ermöglicht ihnen, die Stellung ihrer Organisation und ihren eigenen Status zu verbessern. Insofern ist konfliktive Sozialpartnerschaft dasselbe, aber mit etwas dramatischeren Formulierungen.» Pardini selbst relativiert gegenüber der bärner studizytig: «Es geht nicht darum, den Konflikt um des Konfliktes willen zu führen. Der Konflikt hat stets eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zum Ziel und ist nicht ein Selbstzweck, damit sich die Gewerkschaft profilieren kann. Wir setzen den Streik als letztes Mittel ein, oft um Verhandlungen zu erzwingen.» Seit den 1980er-Jahren hätten die Gewerkschaften aber dieses Mittel wiederentdeckt, so Pardini: «Dies, weil die Arbeitgeber nicht bereit waren, die Produktivitätssteigerung und die daraus entstehenden Gewinne an die Arbeitnehmenden weiterzugeben, in Form von Arbeitszeitverkürzung oder mehr Lohn. Im Gegenteil, die Arbeitgeber versuchten das Rad der Zeit mit schlechteren Arbeitsbedingungen, längeren Arbeitszeiten und tieferen Löhnen sogar zurückzudrehen – das haben wir erfolgreich verhindert.»
Eine Verhandlung, zwei Sieger
Entgegen der Darstellung in Fahrnis Buch «Heavy Metall», in dem er beschreibt, wie es in diesen Verhandlungen zur «gewerkschaftlichen Renaissance in der Industrie» kam, muss der 2013 entstandene GAV auch kritisch beleuchtet werden. Zum Zeitpunkt der Verhandlungen war bereits klar, dass ein Jahr später über die Mindestlohn-Initiative abgestimmt werden würde. Eine Initiative, die durch den Schweizerischen Gewerkschaftsbund und somit auch durch die Unia eingereicht wurde. Die Initiative forderte einen verbindlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde oder 4000 Franken pro Monat. Im MEM-GAV wurden vonseiten der Gewerkschaft aber Mindestlöhne akzeptiert, die mit 3300–4150 Franken teils unter den Forderungen der Initiative lagen.
Im Juli dieses Jahres trat bereits ein neuer GAV der MEM-Branche in Kraft. Dabei gelang es nicht, die 2013 als «Türöffner» bezeichneten Mindestlöhne grundsätzlich zu erhöhen. Lediglich ein automatischer Teuerungsausgleich sowie eine Erhöhung der Mindestlöhne der Zone C (Tieflohnzonen Tessin, Jura etc.) um 30 Franken jährlich wurden vereinbart. Nach Ausgang der Verhandlungen bezeichneten sich sowohl Unia als auch Swissmem als Sieger und lobten den neuen Gesamtarbeitsvertrag. «Im europaweiten Vergleich ist die Entwicklung der Arbeitsbedingungen in der Schweizer MEM-Branche einzigartig, ganz Europa deregulierte die Arbeitsbedingungen, wir konnten sie verbessern», meint Pardini zur bärner studizytig, «auch in den Verhandlungen zum GAV 2018 konnten wir wieder Verbesserungen erzielen, etwa der bessere Schutz älterer Arbeitnehmer, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Einführung einer unabhängigen Lohnkontrolle.»
Streiken als Mittel der Wahl
Ungeachtet der Diskussion um Sinn und Nutzen von Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft steht fest, dass es nächstes Jahr in der Schweiz wieder zu einem grossen Streik kommen soll. Für den 14. Juni 2019 ist ein schweizweiter Frauenstreik geplant, aktuell laufen die Vorbereitungen dazu. «Ausgehend von der Romandie haben sich in verschiedenen Städten der Schweiz Koordinationsgruppen gebildet», erklärt Simona Isler aus der Berner Gruppe. Vor einigen Tagen haben Unia und vpod bekannt gegeben, den Frauenstreik zu unterstützen.
Zumindest die Berner Gruppe gibt sich aber bewusst als freier Zusammenschluss ohne grosse Organisationen im Hintergrund. Es sei nicht so, dass man keine Unterstützung durch Parteien und Gewerkschaften möchte, sagt Isler gegenüber der bärner studizytig, «wir wollen aber bewusst niederschwellig bleiben und keine Personen abschrecken, die mit Politik normalerweise Berührungsängste haben. Denn unsere Forderungen betreffen alle Frauen in der Schweiz.» Auf die Frage, weshalb denn ein Streik das Mittel der Wahl sei, antwortet Isler: «Die Sozialpartnerschaft kann die Probleme, die wir ansprechen, nicht alleine lösen. Frauen arbeiten bezahlt und unbezahlt, etwa im Care-Bereich, und haben daher unterschiedliche Adressaten oder Gegner, an die sie ihre Forderungen richten. Wir wollen die Kritik umfassend formulieren und orientieren uns dabei am Frauenstreik 1991 unter dem Motto: ‹Wenn Frau will, steht alles still›. Der Streik soll auch eine Machtdemonstration sein.»