Kleine Gummi-Prismen, grosse Problematik
Wenn die Polizei sich bedroht fühlt, darf sie auch von (weit) weniger als 20 Metern Abstand schiessen. Wie hier bei der Anti-Rep Demo in Bern 2011. (Foto: Raphael Moser / relational.ch)
Gummischrot wird von der Schweizer Polizei immer mal wieder eingesetzt, wenn’s «brenzlig» wird. Parteien und Verbände fordern ein striktes Verbot der Munition – doch die Polizei sieht das anders.
Gummigeschoss oder Gummischrot?
In vielen medialen Texten werden «Gummigeschoss» und «Gummischrot» synonym verwendet. Dabei bezeichnen die beiden Begriffe keineswegs das Selbe, was leicht zu einer Verwirrung für die Lesenden führen kann. Mit Gummigeschoss ist nämlich eine einzelne Patrone oder ein einzelnes Geschoss gemeint, welches aus einem Mehrzweckwerfer abgefeuert wird. Gummischrot hingegen besteht aus einer Patrone gefüllt mit mehreren kleineren Gummiprismen. Diese werden wie die Gummigeschosse aus einem Mehrzweckwerfer abgefeuert. Der Mehrzweckwerfer 73, der von den meisten Polizeikorps eingesetzt wird, besteht aus einem alten Armeekarabiner, bei dem ein Teil des Laufs abgesägt und durch einen Aufsatz für den Abschuss von Gummischrot und Reizstoffen ersetzt wurde.
Eine Gummischrotpatrone umfasst 35 Schrotprojektile mit einem Gewicht von je ca. 10–18 Gramm. Die Projektile haben ausserdem eine sechseckige Prisma-Form, was je nach Aufprallart und -stelle zu grösseren Verletzungen führen kann, beispielsweise wenn die Geschosse mit der Kante auftreffen. Aufgrund dieser Problematik werden die Gummischrot-Projektile nun abgerundet, sind jedoch immer noch nicht gänzlich rund. Sie sind eingeschweisst in eine Plastikhülle, welche sich nach dem Abschuss auflöst und so die Projektile freigibt. Die Streuwirkung beträgt laut der VUA (Vereinigung unabhängiger ÄrztInnen) zwei Meter auf 20 Meter Schussdistanz, was ein Zielen für den Polizisten oder die Polizistin unmöglich macht. Gleichzeitig bewirkt diese Streuung, dass mit einem einmaligen Abfeuern mehrere Personen getroffen werden können.
Schmerzhaft am Körper, verheerend bei einem Treffer im Auge
Beat Kneubühl, Spezialist für Wundballistik, beschäftigt sich seit langem mit Gummischrot. Sein Buch «Wundballistik, Grundlagen und Anwendungen» ist eines der Hauptwerke zu unter anderem auch diesem Thema. Ausserdem führt er seit einigen Jahren eine Firma, die verschiedenste Stellen in Ballistik, Physik und Kriminalistik berät. Laut Kneubühls Aussagen ist die Verletzungsgefahr eines Geschosses vor allem von dessen Aufprallenergie abhängig. Ab 40 bis 120 Joule können gefährliche Verletzungen wie Rippenbrüche, Gehirnerschütterungen und Schäden an oberflächennahen Organen entstehen. Ab einer Aufprallenergie von 120 Joule können Geschosse schwerwiegende Verletzungen verursachen, beispielsweise Blutungen, Schädelbrüche, Nieren- und Herzrisse oder schwere Quetsch-Riss-Wunden.
«Der Schutz von Eigentum rechtfertigt nicht irreversible, lebenslange gesundheitliche Schäden.»
Zum Vergleich: Wenn eine Masse von einem Kilogramm aus einem Meter Höhe zu Boden fällt, wird eine Energiemenge von 10 Joule umgesetzt. Ein Gummischrot-Projektil hat nach 10 Metern Flug noch eine Energie von 16 Joule beziehungsweise 10 Joule nach 20 Metern, was nicht ausreichend ist, um dem Körper schwerwiegende Verletzungen zuzufügen. Die wirkliche Problematik beginnt jedoch oberhalb des Rumpfes: Ein Treffer der Augenpartie kann zu schwersten Verletzungen führen, auch aus grosser Distanz. Sogar ein Softairkügelchen mit einer Energiedichte von 0.03 J / mm2 würde reichen um die Augen irreversibel zu schädigen. Auch die Gummischrot-Projektile sind so klein, dass die volle Aufprallenergie das Auge trifft und nichts vom Knochen rundherum abgefangen werden kann. «Durch den Aufprall auf den Augapfel kommt es zu einem sogenannten stumpfen Trauma, welches entweder zu einer Prellung oder zu einem Riss führt», wie Aylin Canbek, Vorstandsmitglied der VUA berichtet. Die Verletzung werde in ihrer Gefährlichkeit oft unterschätzt. Selbst wenn die äussere Augenhülle unversehrt scheine, könnten alle Strukturen des Auges geschädigt werden.
Leichtere Traumen könnten zu Störungen der Hell- / Dunkeleinstellung oder des Nahsehens führen. «Stärkere Traumen mit Krafteinwirkung auf den hinteren Augenabschnitt führen zu Zerreissungen der Aderhaut oder des Sehnervs und somit zu schweren, lebenslangen Seheinschränkungen bis zur Erblindung», führt Canbek weiter aus. Zudem könnten in allen Fällen auch nach mehreren Jahren Langzeitschäden auftreten, zum Beispiel ein grüner oder grauer Star. Prallt das Geschoss auf die Halsschlagader, so könne es gar zu Todesfällen kommen. Deshalb fordert die VUA seit den Jugendunruhen in Zürich in den 80er-Jahren ein Verbot von Gummischrot. Damals verloren fünf Menschen ein Auge, viele andere erlitten schwere Augenverletzungen mit lebenslanger Sehbeeinträchtigung. Leider kann die VUA keine Aussagen zur jährlichen Zahl der Betroffenen von Augenverletzungen durch Gummischrot machen, da dazu von der Polizei keine Statistik geführt wird. Ausserdem schrecken viele Opfer davor zurück, sich zu melden, da sie befürchten, selbst zur Rechenschaft gezogen zu werden, beispielsweise wenn sich der Vorfall im Verlauf einer unbewilligten Demonstration ereignete. Die VUA gibt allerdings die Wahrscheinlichkeit eines Treffers am Auge bei 20 Metern Schussdistanz an: Diese liegt bei immerhin 35 Prozent, einer nicht unerheblichen Zahl. Aylin Canbek schreibt: «Unsere ärztliche Ethik sehen wir auch als politische Verantwortung, die körperliche Unversehrtheit des Individuums zu schützen und über die fatalen Folgen dieser Waffe aufzuklären. Der Schutz von Eigentum rechtfertigt nicht irreversible, lebenslange gesundheitliche Schäden.»
Anwendung von Gummimunition in anderen europäischen Ländern
In den Nachbarländern der Schweiz wird die Gummischrot-Thematik sehr unterschiedlich gehandhabt. In Deutschland beispielsweise ist in praktisch allen Bundesländern, mit Ausnahme von Sachsen und Hessen, der Einsatz von Gummimunition verboten. In Hessen ist der Gebrauch von Gummi-Projektilen allerdings dem Schusswaffengebrauch gleichgestellt und unterliegt somit strengeren Bestimmungen. In einem Bericht der wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestags wurde festgehalten, dass aufgrund der Zurechnung des Einsatzes von Gummimunition zum Schusswaffengebrauch der Einsatz gegen eine Menschenmenge stark eingeschränkt, wenn nicht sogar verboten werden sollte. Seit dem diesjährigen G20-Gipfel in Hamburg ist die Debatte um die Distanzwaffe jedoch wieder neu entfacht worden. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) fordert beispielsweise schon seit einigen Jahren, Gummischrot im Falle von gewalttätigen Demonstrationen einsetzen zu können. Die deutsche Gewerkschaft der Polizei (GdP) hingegen vertritt die Ansicht, dass Gummischrot in einem demokratischen Land nichts zu suchen habe.
«Bis jetzt wurde in der Schweiz keine Klage eines Opfers von Gummischrot gutgeheissen»
In Österreich darf laut dem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestags kein Gummischrot eingesetzt werden, in Frankreich dagegen ist Gummischrot zugelassen und wird dem Einsatz von Tasern gleichgestellt. Auch in Spanien wurde die Gummischrot-Problematik nach den Unruhen während des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums wieder diskutiert. In Katalonien wurden Gummigeschosse und Gummischrot vor einigen Jahren verboten, da mehrere Personen wegen schwerwiegenden Augenverletzungen vor Gericht gegangen sind und gewonnen haben. Während den dies-jährigen Protesten wurde allerdings doch Gummimunition eingesetzt. Dies liegt daran, dass die Guardia Civil (spanische Bundespolizei) hinzugezogen wurde, für welche das katalanische Verbot nicht gilt. Die Diskussion in Spanien ist derjenigen in der Schweiz ähnlich: Die Augenverletzungen werden stark problematisiert und waren im Endeffekt schliesslich auch der Grund für ein Verbot der Munition in Katalonien.
Kaum eine Chance vor Gericht
Die Problematik des Gummischrots wird dadurch vergrössert, dass es für Betroffene äusserst schwierig ist, gegen einen ungerechtfertigten Einsatz von Gummischrot vorzugehen. Bis jetzt wurde in der Schweiz keine Klage eines Opfers von Gummischrot gutgeheissen, obwohl manche ihr Augenlicht zu einem grossen Teil oder gänzlich verloren haben. In praktisch allen Fällen wurde auf Notwehr entschieden, in einigen anderen Fällen wurde eine aussergerichtliche Einigung gefunden. Im Falle der Notwehr darf laut Polizeigesetz ein Polizist oder eine Polizistin auch aus weniger als 20 Metern Distanz Gummischrot abfeuern, falls er oder sie sich bedroht fühlt. Da der Einsatz von Gummischrot ausserdem vorwiegend auf dem Verhältnismässigkeitsprinzip aufbaut – das heisst, der Einsatz muss geeignet, erforderlich und zumutbar sein, um die Gefahr abzuwenden (in Art. 23 des Polizeigesetzes des Kantons Bern finden sich zum Grundsatz der Verhältnismässigkeit weitere Ausführungen) –, kann er im Vornherein nicht angefochten werden. Mit anderen Worten; die Polizei kann selbstständig entscheiden, in welchen Situationen sie Gummischrot einsetzen will. Eine Anfechtung im Nachhinein bedeutet jedoch immer deutlich weniger Rechtsschutz für die Betroffenen als ein klares Verbot von vornherein.
«Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte kritisiert in einer Studie die zu wenig unabhängigen Beschwerdestellen»
Da durch die breite Streuwirkung immer mehrere Personen getroffen werden, kann das «Störerprinzip» kaum eingehalten werden. Dieses Polizeigesetz besagt, dass das polizeiliche Handeln sich in erster Linie gegen die Person, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar stört oder gefährdet, richten solle. Allerdings besagt das Berner Polizeigesetz in Art. 25, dass auch andere Personen beeinträchtigt werden dürfen als diejenige, die für die Störung verantwortlich sei, beispielsweise wenn schwerwiegende Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vorlägen. Hier ergibt sich wenig Handfestes für eine Klage. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte kritisiert in einer Studie daher die zum Teil zu wenig unabhängigen Beschwerdestellen, beziehungsweise Ermittlungsinstanzen. Auch der Menschenrechtsausschuss der UNO hat in seinem letzten Staatenbericht von 2009 die Situation in der Schweiz kritisiert und forderte eine unabhängige Beschwerdestelle für die Klärung von übermässiger Polizeigewalt in allen Kantonen.
Sicherheit für die Polizisten
Für die Schweizer Polizei gehört der Einsatz von Gummischrot zur üblichen Praxis. Die angehenden Polizisten und Polizistinnen werden daher in der Polizeiakademie in Hitzkirch auch an den Mehrzweckwerfern ausgebildet. Der Vorteil von Gummischrot für die Polizei besteht darin, dass sie sich weniger in direkten Kontakt mit beispielsweise Demonstrierenden begeben und so die Verletzungsgefahr auf Seiten der Polizei minimiert wird. Dies betont auch der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr 2017 gegenüber der NZZ. Verglichen mit der deutschen Polizei sei man so viel effektiver, auch beim Auflösen von Demonstrationen, und dies mit weniger Schaden für alle Beteiligten. Diese These ist jedoch umstritten, da es keine genauen Statistiken dafür gibt.
Was ist die Alternative?
Neben der VUA fordern auch die Jungen Grünen in Winterthur ein Verbot von Gummischrot. Was wären die Alternativen zu einem Einsatz von Gummischrot? Die Teilnahme an Demonstrationen nur noch mit Schutzbrille? Oder eine Massenschlägerei zwischen mit Schlagstöcken bewaffneten PolizistInnen und Steinen werfenden Demonstrierenden? Im gegenwärtigen gesetzlichen Rahmen hat die Polizei kaum andere Möglichkeiten als Wasserwerfer-, Tränengas- oder Pfefferspray-Einsatz oder die Konfrontation mit Schlagstöcken. Eine Alternative, die jedoch immer noch im Bereich der Schusswaffenanwendung liegt, böten vielleicht die in Basel bereits eingesetzten und bald für die ganze Schweiz vorgesehenen Gummigeschosse, also die Verwendung einzelner, grösserer Projektile. Damit könnte wenigstens das Problem des beim Gummischrot unmöglichen Zielens behoben und konkreter gegen einzelne Personen vorgegangen werden. So wird die Verletzungsgefahr des polizeilichen Waffeneinsatzes jedoch keineswegs vermieden, sondern lediglich auf eine minimierte Anzahl Personen beschränkt. Die Frage nach der Legitimität dieser Verletzungsgefahr für Zivilpersonen würde jedoch eine Grundsatzdiskussion um das Gewaltmonopol der Polizei verlangen.