Die Schweiz auf der Anklagebank: Wie Klimaseniorinnen den Staat herausfordern

21. Dezember 2024

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Inmitten der Klimajugend gibt es noch eine etwas ältere aktivistische Gruppe, welche an Streiks und Events anzutreffen ist: die Klimaseniorinnen. Dabei handelt es sich um eine Gruppe pensionierter Frauen, die sich gegen den Klimawandel, genauer gesagt gegen die Untätigkeit der Schweiz in Sachen Klimawandel, einsetzt.

Text: Antonia Lienhard
Bilder: Ilayda Tapali
Illustrationen: Victoria Habermacher

Im Rahmen einer Übung zu Alter und Diversität bei PD Dr. Francesca Falk und Prof. Dr. Katrin Karl kamen die beiden Klimaseniorinnen Pia Hollenstein und Oda U. Müller zu einem Gespräch an die Universität. Nach dem Seminar hatte unsere Autorin die Gelegenheit, sich mit den beiden Klimaseniorinnen auszutauschen und ihnen einige Fragen zu stellen.

Die Klimaseniorinnen sind ein Verein von über 3000 pensionierten Frauen aus der Schweiz, die sich aktiv für den Klimaschutz einsetzen. Hinter dem Verein steht Greenpeace, die auch die Initiative für die Klage gegen die Schweiz ergriffen hat. Greenpeace ist für die Klimaseniorinnen grundlegend, die Organisation hat die fachliche Unterstützung geliefert und unterstützt den Verein auch finanziell.

Zwei Drittel der Kosten werden von Greenpeace gedeckt, den Rest finanziert der Verein aus Spenden. «Es ist schön, ein Verein zu sein, der dem Geld nicht hinterherlaufen muss», erklärte Pia Hollenstein im Gespräch. Und das sei mit ein Grund, warum sie so viele Mitglieder hätten, denn es gebe keinen Mitgliederbeitrag.

Die Schweiz verklagen
Die Klimaseniorinnen haben die Schweiz verklagt und zwar vor allen drei Instanzen in der Schweiz und danach vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Nachdem die Klimaseniorinnen 2016 die Klimaklage beim Bund eingereicht hatten, zogen sie diese ein Jahr später weiter zum Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen. Als dies ein abweisendes Urteil beschloss, reichten sie die Beschwerde beim Bundesgericht in Lausanne ein, welche im Mai 2020 ebenfalls abgelehnt wurde.

Anschliessend kündigte der Verein 2020 die Klage vor dem EGMR an. Im April 2024 ist eine Gruppe von Seniorinnen zur Urteilseröffnung nach Strassburg gefahren und hat Geschichte geschrieben, denn mit diesem Urteil ist Klimaschutz offiziell ein Menschenrecht.

Die Klimaseniorinnen haben dieses Recht eingefordert, weil die Massnahmen der Schweiz völlig unzureichend seien. «Das Vereinsziel war, die Schweiz zu verklagen», sagte Pia Hollenstein im Seminar, denn der Klimawandel bedroht die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Seniorinnen in der Schweiz überdurchschnittlich.

«Das Vereinsziel war, die Schweiz zu verklagen»

Also zurück zum aktuellen Stand der Klage: Das Urteil des EGMR vom 9. April 2024 hat den Klimaseniorinnen fast durchwegs recht gegeben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit 16 zu 1 Stimmen entschieden, dass die Schweiz das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) verletzt hat.

Zudem entschied der Gerichtshof einstimmig, dass auch das Recht auf Zugang zu einem Gericht (Art. 6 EMRK) verletzt wurde. Mit diesem Urteil hat der EGMR der Schweiz keine Massnahmen auferlegt, sondern festgestellt, dass die Schweiz zu wenig unternimmt, um die Bevölkerung vor dem Klimawandel zu schützen.

Ausserdem kritisierte der EGMR, dass die Schweiz keine überzeugenden Gründe vorgebracht hat, weshalb sie die inhaltliche Prüfung der Beschwerde der Klimaseniorinnen für unnötig hielt. Es ist an den zuständigen Schweizer Behörden, geeignete Massnahmen zur Umsetzung des Urteils vorzuschlagen.

«Alte Damen» und Aktivismus
Der Verein der Klimaseniorinnen ist durchaus eine exklusive Gruppe: Nur Seniorinnen können Mitglied werden. Das war taktisch von Anfang an unumstritten, denn um wirklich mit der Klage erfolgreich zu sein, müssen überproportional Betroffene gemeinsam klagen.

Neben dem Alter spielte auch das Geschlecht eine Rolle. Als «alte Damen» seien sie anfangs zum Teil nicht ernst genommen worden, sagt Oda U. Müller: «Am Anfang wurden wir total belächelt.» Pia Hollenstein sieht das anders: Aus ihrer Sicht als ehemalige Nationalrätin der Grünen sei sie überrascht gewesen, dass sie ein so grosses Publikum hatten.

Auf der Webseite der Klimaseniorinnen schreiben sie auch: «Unser Weiterbestehen ist auch wichtig, um der teils heftigen Kritik am Urteil bestimmt entgegenzutreten. Wir verurteilen die verbalen Angriffe auf Frauen und Alter. Schamlos lassen sich gewisse Menschen öffentlich über uns, die Richter:innen des EGMR und das Urteil aus.»

Die beiden Frauen sind stolz darauf, nicht nur ein Zeichen im Kampf gegen den Klimawandel gesetzt zu haben, sondern ganz nebenbei auch das Bild älterer Frauen in der Gesellschaft positiv verändert zu haben. Die Medienpräsenz der Klimaseniorinnen war aussergewöhnlich hoch und auch internationale Medien wie die New York Times oder The Guardian haben über die Klimagruppe, die ihr eigenes Land verklagt hat, berichtet. Mit einem Augenzwinkern in Richtung der «bärner studizytig» meinten sie, dass sie oft auch Gespräche mit Zeitschriften führten, von denen sie gar nicht wussten, dass es sie gibt.

«Die Mitarbeit bietet eine Chance etwas mitzugestalten und aktiv gegen die Klimakrise zu kämpfen.»

Ausserdem schätzen sie den Austausch zwischen den Generationen sehr. Beide freuen sich, dass sich die Klimajugend stark macht und ihre Stimme zum Klimawandel erhebt. «Bei gemeinsamen Podiumsdiskussionen haben die Jungen oft mehr Fachwissen», sagt Pia Hollenstein. Es ist wichtig, dass alle Generationen zu Wort kommen.

Für die Frauen bietet die Mitarbeit eine Chance etwas mitzugestalten und aktiv gegen die Klimakrise zu kämpfen. Pia Hollenstein meinte, dass es für sie eine Möglichkeit gegen Ohnmacht ist und Oda U. Müller ergänzte: «Wenn ich nichts machen könnte, würde ich depressiv werden.»

Nach dem Urteil
Das Urteil ist, wie gesagt, bereits gefällt und eines ist klar: Es liefert eine Grundlage für nächste Urteile. Der Bundesrat musste bis zum 8. Oktober 2024 einen Bericht zum Urteil verfassen und Stellung nehmen. Statt wie geplant eine Medienkonferenz abzuhalten, hat er den Bericht an den Ministerrat des Europarates zwei Tage vor Ablauf der Frist abgegeben und die Klimaseniorinnen mussten ihn wie alle anderen von der Website herunterladen.

Bei all diesen Prozessen waren die Seniorinnen nicht auf sich allein gestellt, sondern wurden von Greenpeace unterstützt. Bei den Gerichtsverfahren wurden sie jeweils eng von ihrer Anwältin begleitet, die durch diesen Erfolg grosses Ansehen gewonnen hat.

Ein Land zu verklagen stellt einen erheblichen Aufwand dar, den die Klimaseniorinnen acht Jahre gekostet hat. In dieser Zeit habe das Engagement nicht nachgelassen. Seit dem Urteil gebe es sogar einen neuen, auch emotionalen Aufschwung, sagte Oda U. Müller. Sie meinte auch, dass der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Klimawandel auch präsenter geworden ist, viele waren sich dessen vorher nicht so bewusst und trotzdem hat das Bundesgericht gesagt, «so heiss ist es noch nicht».

«Nur weil die Krise global ist, heisst das nicht, dass lokal nichts mehr getan werden muss.»

Bundesrat und Parlamentsmehrheit finden, dass die Schweiz schon genug tut und dass sie ihr CO2-Budget noch nicht erreicht hat. Eine Haltung, welche die Klimaseniorinnen zutiefst empört. Denn jedes Urteil des EGMR muss umgesetzt werden. Die Klimaseniorinnen und renommierte Klimatolog*innen reichen nun eine Stellungnahme zur Bundesratsposition ein.

Die Schweiz müsste auch ein CO2-Budget erstellen und erwähnen, wie viel CO2 ihr gemäss globaler Verteilung fairerweise noch zusteht. Laut der Webseite der Klimaseniorinnen ist ein nationales CO2-Budget dann «fair», wenn es dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten entspricht, das die Schweiz im im Rahmen der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) und dem Pariser Klimaabkommens anerkannt hat.

Die Klimaseniorinnen zeigen, dass Engagement unabhängig vom Alter möglich ist. Ihr Kampf ist eine Mahnung an uns alle: Die Schweiz ist Teil einer globalisierten Welt und muss sich ihrer Stellung und der damit verbundenen Verantwortung bewusst werden. Und wie Pia Hollenstein am Schluss unseres Gesprächs sagte: «Nur weil die Krise global ist, heisst das nicht, dass lokal nichts mehr getan werden muss. Wir haben immer gesagt: Global denken, lokal handeln.»

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