Wenn dir das Leben einen Korb gibt, geh Pilze sammeln

06. Oktober 2024

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Pilze sind geheimnisvolle Lebewesen und haben weit mehr zu bieten als nur ihren Platz auf dem Teller. Von der beeindruckenden Fähigkeit, selbst Plastik abzubauen, bis hin zu ihrer einzigartigen Symbiose mit Bäumen. Doch wer sich ins Abenteuer des Pilzesammelns wagt, sollte nicht nur ausgestattet, sondern auch gut informiert sein.

Illustrationen: Joel Sivakumaran

Es ist ein wunderschöner Herbsttag in Bern. Die wärmenden Sonnenstrahlen und der kühle Wind zu dieser Jahreszeit sorgen für wohlige Temperaturen, wobei die Menschen ihre besten Herbst-Fits flexen und durch die Stadt wimmeln. Du hast die letzte Vorlesung des Tages hinter dir und entscheidest dich für einen Spaziergang durch den Bremgartenwald, um deinen Kopf zu lüften. Rotgelbe und goldbraune Blätter knistern unter deinen Schritten, hin und wieder zieht ein Hund mit Menschen an dir vorbei. Du läufst für eine Weile, bis du plötzlich stehen bleiben musst: am Wegrand, unscheinbar und doch da, hockt ein prächtiger Pilz. Was du aber nicht wissen kannst, ist, dass du schon einige Zeit über Pilze getreten bist, denn was du vor dir siehst, ist nur deren Fruchtkörper. Der eigentliche Pilz befindet sich im Boden, in Form eines dichten und verzweigten Gewebes (Myzel) aus hauchdünnen Fäden (Hyphen), die mehrere Kilometer lang sein können. Der Fruchtkörper produziert winzige Pilzsporen und verbreitet diese rasch an seine Umgebung (jedes Jahr produzieren Pilze ca. 50 Megatonnen an Sporen – das Gewicht von ca. einer halben Million Blauwale). Du kannst dir den Pilz also wie einen Baum vorstellen: Die Sporen sind die Samen, die Früchte der sichtbare Pilz, aber der eigentliche Organismus ist das Myzel, also die Blätter, Äste und Wurzelpracht.

 

Aber was sind Pilze eigentlich?

Pilze, auch Fungi genannt, sind tatsächlich näher mit uns Menschen verwandt als mit Pflanzen. In der Evolutionsgeschichte haben sich Tiere und Pilze vor etwa einer Milliarde Jahren abgespalten und bilden jeweils ein eigenes Reich. Im Gegensatz zu Pflanzen sind Fungi unabhängig von Sonnenlicht und bauen dafür organische Stoffe aus ihrer Umgebung ab, welche sie dann über die Hyphen aufnehmen. Anders als Tiere können sie sich aber auch asexuell fortpflanzen.

 

Wie viele Pilze es gibt, weiss niemand genau. In der Schweiz sind es schätzungsweise über 10’000 Arten, weltweit zwischen zwei und vier Millionen (davon produzieren nur die wenigsten Fruchtkörper, um Sporen zu verbreiten). Das ist eine unglaubliche Artenvielfalt, welche die der Pflanzen um das Sechs- bis Zehnfache übertrifft.

 

Pilze sind im wahrsten Sinne des Wortes überall.

 

Sei es im Boden des Waldes, in der Antarktis (Cryomyces antarcticus), im Inneren von Steinen in der Wüste (endolithische Pilze) oder im Weltraum (Saccharomyces cervisiae). Fungi sind an den entferntesten Orten zu Hause, aber einige sind näher und wichtiger als du denkst. So trägst du dein Leben lang stets Pilze mit dir. Damit meine ich nicht Fusspilze, sondern Fungi in unserem Darm, die zusammen mit Bakterien das Mikrobiom unseres Körpers im Gleichgewicht halten. Einige Pilze retten sogar täglich Menschenleben, wie der Schimmelpilz Penicillium notatum seit seiner Entdeckung. Andere wiederum haben es auf uns abgesehen. So ist der Kartoffelpilz Phytophthora infestans dafür verantwortlich, dass es heute eine grosse irische Diaspora in Nordamerika gibt, da er Mitte 19. Jahrhundert die Kartoffelernte in Irland zerstört hat – eine Million Menschen starben, eine weitere Million wanderte aus. Andere Pilze wiederum sind harmlos, aber wären nicht wegzudenken, denn dank ihnen geniessen wir unser tägliches Brot und Bier. Fungi sind also omnipotent und omnipräsent. Woher kommt aber ihre Superkraft?

 

Über Leben und Tod

Spiderman wurde von einer radioaktiven Spinne gebissen, Wonder Woman bekam ihre Kräfte von den griechischen Göttern, Batman hat früh viel Geld geerbt und Pilze haben einen unvergleichbar effizienten Stoffwechsel. Sie sondern spezialisierte Enzyme ab, die in der unmittelbaren Umgebung die gewünschte Nahrung abbauen, sei es Holz, Stein, Plastik, Erdöl oder andere Materialien (z.B. gedeiht Hysterangium coccineum ausschliesslich auf Wildschweinkot, der Kerosinpilz Amorphotheca resinae in Treibstofftanks). Ohne Pilze gäbe es keinen Stoff- bzw. Lebenskreislauf. Damit etwas Neues entstehen kann, muss etwas anderes vergehen und Pilze übernehmen diese Aufgabe. Allerdings sind nicht alle Pilze Destruenten. Wenn sie nicht abbauen, gehen sie Symbiosen ein oder leben als Parasiten. Sobald die Spezies Ophiocordyceps unilateralis sich in einer Holzameise eingenistet hat, übernimmt sie die Kontrolle über deren Verstand und schickt die Ameise auf den höchsten Punkt einer Pflanze, an dem sich die Ameise festbeisst und stirbt. Aus dem Kopf wächst der Fruchtkörper und lässt Sporen auf die anderen Ameisen regnen, die unter der Pflanze ihre Wege gehen – gruselig. Es gibt aber auch Ameisen und Fungi, die in Frieden zusammenleben. Wie der Name es schon sagt, zerschneiden Blattschneiderameisen Pflanzenblätter in kleine Stücke und transportieren sie zum Bau zurück, wo sie den Pilz Leucoagaricus füttern, beschützen und kultivieren. Dafür naschen sie an den Hyphen. Die berühmteste und wohl wichtigste Symbiose ist das WWW – Wood Wide Web. Die Wurzel eines einzelnen Baumes kann mit Hyphen mehrerer Pilze verschmelzen. Der Baum schafft sich eine effizientere Nährstoffaufnahme und die Pilze erhalten Zucker. Tatsächlich gäbe es keine Wälder ohne Fungi, weil Bäume über das riesige Pilznetzwerk Nährstoffe austauschen können.

 

«Wer Pilze sucht und sich nicht bückt, ist verrückt!»

Funfacts über Fungi gibt es wie Sterne am Himmel, oder wie Pilzsporen in der Luft. Jetzt ist die perfekte und letzte Zeit, um für die kalten Wintertage ein ‘Gspusi’ zu finden. Lade die Person deiner Wahl zu einem Pilzgang ein, wobei du mit deinem neu erlangten Wissen über Pilze prunken kannst. Und wenn es gut kommt, kocht ihr euch am Abend ein wohlschmeckendes Pilzgericht.

 

Jeder Pilz ist essbar, einige aber nur einmal.

 

Damit ihr nicht diese erwischt und überhaupt umweltfreundlich sammelt, hier die beste Anleitung, die ich aus Gesprächen mit mehreren Pilzsammlerlegenden und Ratgeberbüchern zusammengetragen habe:

 

Zum Pilzlen braucht ihr unbedingt ein gutes Messer, einen Pinsel, einen Korb/Stoffsack (damit die frisch gesammelten Pilze Luft bekommen und sich nicht sofort zersetzen) und ein Pilzhandbuch (auf keinen Fall irgendwelche Apps). Auch müsst ihr dem Wetter entsprechend angezogen sein und Zeckenschutz aufgetragen haben, bevor ihr (am besten in aller Frühe) in den Wald spaziert. Je grösser die Vielfalt an Bäumen, desto grösser ist die Vielfalt an Pilzen. Die meisten Speisepilze findet man in Nadel- und Laubwäldern, wie z.B. Steinpilze, Flockenstielige Hexenröhrlinge und Pfifferlinge. Wenn du einen Pilz findest, prüfst du über mehrere Merkmale, ob es ein Speisepilz ist. Kleine Pilze sind weniger gut bestimmbar, weil die Merkmale weniger gut ausgeprägt sind. Bist du dir nicht 100 % sicher, lässt du lieber die Finger davon. Ist es ein essbarer Pilz, bist du ein Glückspilz und darfst mit deinem Messer den Pilz möglichst nahe am Boden abschneiden und sorgfältig ausdrehen. Sei vorsichtig, damit du das Pilzgeflecht im Boden nicht beschädigst! Reinige mit dem Pinsel den Pilz und lege ihn in den Korb. Lege verschiedene Pilzarten in verschiedene Körbe, denn hast du einen Giftpilz dabei, musst du nicht alle Pilze entsorgen. Je nach Kanton ist das Pilzlen anders reguliert, aber auf jeden Fall nimmst du nur so viele Pilze mit, wie du brauchst. Und alles, was du in den Wald mitnimmst, bringst du wieder zurück. Denk daran, solange es dem Wald gut geht, wird es auch den Pilzen gut gehen. Es gibt bis zu 200 giftige Pilze in der Schweiz und damit du auch gesund bleibst, ist der Gang zur Pilzkontrollstelle eminent (in der Stadt Bern gibt es eine, die du unter der Woche jeden Abend besuchen kannst).

 

Zuletzt will ich sagen: Pilzlen ist ein schönes Hobby. Es kostet nichts, nur Zeit. Es lehrt dich aufmerksam zu sein und genauer hinzuschauen. Denn manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, die Freude bereiten. Wenn dieser Artikel dich nicht motiviert hat, Pilze sammeln zu gehen, dann spaziere zumindest im Wald, geniesse die letzten goldigen Herbsttage und sei dir deiner unsichtbaren, aber wundersamen, pilzigen Umwelt bewusst.

 

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