Von einem terranischen Gesandten und einer gewaltvollen Liebe

09. Oktober 2023

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Zwei Bücher aus zwei Jahrhunderten stellen sich feministischen Fragen. Das eine fragt danach, wie mensch mit einer toxischen Beziehung umgeht, während das andere Überlegungen dazu anstellt, was ‹Geschlecht› grundsätzlich ausmacht. So unterschiedlich die Themen sind, beide Romane lassen mich deren Tragweite spüren.

It Ends with Us

TW: häusliche Gewalt

Lily Bloom lernt Ryle am Abend, nachdem ihr Vater beerdigt wurde, auf einer fremden Dachterrasse kennen. Sie erzählt ihm, wie sie eine Trauerrede hätte halten sollen und dass sie dabei keine Worte aus sich herausbrachte. Nicht etwa aus Trauer, sondern weil Trauerreden laut ihr von einem Menschen gehalten werden sollten, der die verstorbene Person respektierte. «And I didn’t much respect my father», sagt Lily über ihren gewalttätigen Vater. Sie ist die Protagonistin von Colleen Hoovers Bestseller It Ends with Us (2016), der Lilys Entwicklung als Betroffene einer toxischen Beziehung beschreibt.

Das Buch ist jedoch nicht Hoovers einziger Erfolg. In gut zehn Jahren hat sie 24 Bücher geschrieben und insgesamt mehr als 20 Millionen Exemplare verkauft. Startschuss dafür war Slammed: Hoover hatte das Buch selbst (!) auf Amazon veröffentlicht und nur wenige Monate später landete es auf der New York Times-Bestsellerliste. Trotzdem habe ich in meinem literaturwissenschaftlichen Studium nie von ihr gehört, darum nun zurück zu Hoovers wohl erfolgreichstem Roman.

Lily und Ryle, ein Neurochirurg, beginnen eine Beziehung, wie man sie aus Liebesromanen oder Hollywood kennt. Reich, überdurchschnittlich schön und mit gutem Sex. Schnell wird jedoch deutlich, dass das Leben der beiden keine so flauschige Wolke ist. Lily muss durch Ryle Manipulationen und Gewalt erfahren. Nebenher wird Lilys Jugend in Form von Tagebuch-Einträgen erzählt. Sie erlebt in diesem Erzählstrang regelmässig, wie ihr Vater ihre Mutter missbraucht. Trost findet Lily damals dank ihrer Jugendliebe Atlas, einem obdachlosen Jungen. Dieser kehrt nun in ihr Leben zurück, als sie einen Weg sucht, mit ihrer Liebe für Ryle umzugehen. Verliert Lily ihren Respekt für Ryle so wie für ihren Vater?

 

«Es wimmelt von Klischees und Stereotypen.»

 

Im Buch wimmelt es – wie für das Genre new adult typisch – an Klischees und Stereotypen. So ist es immer Ryle, der Lily kontaktiert, auch wenn klar ist, dass sie viel an ihn denkt. «It’s been fifty-three days since Ryle walked out of my apartment that morning. Which means it’s been fifty-three days since I’ve heard from him.» Diese kurze Beschreibung, die am Beginn der Beziehung steht, macht die Rollen beispielhaft deutlich. Ryle belegt stets die aktive Position. Jede Initiative kommt von ihm, wie hier beim Kontaktaufnehmen. Das finde ich problematisch: Eine Frau muss gewollt werden, sie kann ihr Wollen nicht nach aussen tragen. It Ends with Us sollte also stets mit dem hintergründig blinkenden Warnlicht gelesen werden, das eine Distanz zu solchen Rollen erlaubt.

«Einsaugen kann die Story allemal.»

 

Denn einsaugen kann die Story allemal. Die schnell voranschreitende Handlung, die eingängige Sprache und – nicht zuletzt – die sexuelle Spannung kombiniert Hoover auf eine Art, dass ich das Buch kaum weglegen konnte. Und genau darin, dass sie ein solches Format für die Thematisierung von toxischen Beziehungen wählt, liegt für mich die Stärke des Romans. Ich habe das Glück, bisher selbst keine solche Beziehung erlebt zu haben. Deshalb konnte ich es bisher nicht nachfühlen, wie schwierig es ist, sich aus so einer Beziehung zu lösen. Beim Lesen von It Ends with Us habe ich aber eine Ahnung von dieser Schwierigkeit erhalten. Gerade weil keine Abstraktionen oder sprachlichen Experimente zwischen Lilys Situation und meinen Gefühlen stehen, konnte ich ihre Krise beinahe physisch erfahren.

Kurz gesagt: It Ends with Us empfehle ich zu lesen, weil der Einsaugeffekt und die Spannung sehr unterhaltsam sind und auf diese Weise unkompliziert Erfahrungen zulassen. Aber auch, weil wir einen Weg finden müssen, mit vorbelasteten Bildern wie den stereotypen Rollen umzugehen, ohne dass sie entweder einen Text völlig zerstören oder uns unrflektiert einlullen.

 

Die linke Hand der Dunkelheit

Kannst du dir vorstellen, alleine auf einen Planeten zu reisen, der so weit weg ist, dass du nicht mehr zurückkehren kannst?

Genly Ai, ein terranischer Mann, tut das in Ursula Le Guins Roman Die linke Hand der Dunkelheit (1969). Das Buch gilt als einer der erfolgreichsten Sci-Fi-Romane und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Vor allem aber zählt Le Guin zu den zentralen Autor*innen der feministischen Science-Ficiton.

Genly Ai ist ein Gesandter des Ekumen, einem Weltenbund, der den «Versuch [darstellt], das Mystische wieder mit dem Politischen zu vereinen», wie er selbst beschreibt. Das Ekumen möchte den Planeten Gethen für sich gewinnen. Genly ist der Erste des Bundes, der mit den «Gethenern» in Kontakt tritt – er ist ihr Alien. Die «Gethener» sind menschlich, unterscheiden sich aber von terranischen Menschen. Zum einen haben sie eine kleinere Statur, zum anderen sind sie «androgyn» und nur in ihrer monatlichen sexuellen Phase – der «Kemmer» – geschlechtlich binär definiert. Genlys Aufgabe ist nun, politische und persönliche Beziehungen zu knüpfen, dass sich Gethen dem Ekumen anschliesst. Auf dieser Mission wird Genly mit Verrat, Tod und Flucht konfrontiert, findet jedoch auch eine enge Freundschaft.

Grossartig an der Geschichte finde ich vor allem die Auseinandersetzung mit den androgynen Personen auf Gethen. Die Idee hängt zwar deutlich in ihrem Zeitgeist fest, da «Gethener» in ihrer sexuellen Phase für ein paar Tage entweder ein als ‹weiblich› oder als ‹männlich› definiertes Geschlecht annehmen. Binarität bleibt bestehen. Aber da ich als Leserin durch Genlys ziemlich sexistische Augen blicke – der Roman ist grösstenteils aus seiner Ich-Perspektive geschrieben –, werde ich auf meine eigene Perspektive zurückgeworfen. Z. B. beschreibt Genly Intrigen in der gethenischen Politik als «weibisch[…]», was auf dem Planeten der androgynen Personen geradezu absurd wirkt. So lässt mich Le Guin merken, wie sinnlos, aber real das Gendern von wahllosen Sachen wie Intrigen ist.

Le Guin sagt im Vorwort, das Buch sei ein «Gedankenexperiment». Und das ist es allemal. «Als Nächstes kommen die Fürsten, Bürgermeister und Abgeordneten», heisst es über einen königlichen Festzug auf Gethen. Obwohl es sich bei allen um «Gethener» handelt, also um androgyne Personen, stelle ich mir trotzdem ‹Männer› vor. Für gethenische Personen sind stets maskuline Pronomen eingesetzt – sowohl im englischen Original als auch in Karen Nölles Übersetzung, die ich gelesen habe. Die Kombination aus meinen verinnerlichten Stereotypen und der sprachlichen Markierung als ‹männlich›, hat mir wieder gezeigt, wie tief die patriarchale Norm des ‹Männlichen› sitzt. Das ist vielleicht ein anderes Gedankenexperiment, als Le Guin meint. Aber für mich ist der Roman ein sehr aktuelles und lehrreiches Vorstellungstraining.

 

«Das Buch ist ein “Gedankenexperiment”.»

 

Leider musste ich mir dieses Training etwas erkämpfen. Genly kündigt am Anfang des Buchs an: «Ich werde meinen Bericht so abfassen, als erzählte ich eine Geschichte». Diese Mischung aus Bericht und Erzählung ist zwar schlüssig für den Roman über den Gesandten, er trennte mich jedoch immer wieder vom Geschehen. Die Unmittelbarkeit der Handlung bleibt aus, wenn mehr beschrieben als erlebt wird. In Passagen mit direkter Rede gelingt es Le Guin aber, den Lesefluss mit Witz wieder anzukurbeln: «‹Gute Nacht, Ai›, sagte der Alien, und der andere Alien sagte: ‹Gute Nacht, Harth›».

Die linke Hand der Dunkelheit lohnt sich trotz zäher Beschreibungen sehr zu lesen, da Le Guin auf ca. 300 Seiten nicht nur Geschlecht neu entwirft, sondern auch eine Politik, die auf Respekt basiert, und eine Religion, die Wahrsagen ermöglicht. Wie das Ekumen vereint der Roman Politisches mit Mystischem – und weitaus mehr.

Zudem Podcast-Empfehlung für Sci-Fi-Liebende: Welcome to Night Vale

Bubble-Bemerkung:

Wer erlaubt sich ein Urteil über diese Bücher?

Ich bin Mitte Zwanzig, eine Frau, weiss und aus der Schweiz. Ich weiss ein bisschen was über Literatur aus meinem Studium und aus den Büchern, die ich lese. Im Moment sind das Midnight Chronicles von Bianca Iosivoni und Laura Kneidl, Anna Burns’ Milchmann und – wieder einmal – Virginia Woolfs A Room of One’s Own. Für mich muss Literatur nichts Bestimmtes sein, sie kann Spass machen, super intelligent sein, provozieren und langweilen. Es kommt mir nur darauf an, wie ein Text (auf mich) wirkt. Wenn Literatur eine feministische Note hat, liebe ich sie meistens. Momentan beschäftigt mich sehr, wie Patriarchat und Geschlechterrollen mich selbst beeinflussen, was durchaus meine Leseerfahrung von Le Guins und Hoovers Büchern geprägt hat.​

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