Sommermoment #20

Illustration: Lisa Linder
Eher eine Erinnerung als ein Sommermoment: Unsere Autorin reflektiert zurück auf ihre Zeit im Praktikum und wird selbst Teil eines viel grösseren Problems.
Eine Erinnerung an einen kalten Februarmorgen dieses Jahres: Ich sitze im Sprechstundenzimmer mit einem Oberarzt und einem Assistenzarzt. Eine E-Mail des leitenden Arztes landet im Posteingang. Rückmeldungen letztjähriger Blockpraktikant*innen: «Leider sind im männerdominierten Feld der Chirurgie deplatzierte Kommentare immer noch an der Tagesordnung. Das Team könnte hier noch besser sensibilisiert werden». Ich fühle sämtliche Augen im Raum auf mir. «Aber du bist nicht so sensibel, oder?». Fuck. Fangfrage. Meine Gedanken kreisen um alle meine potenziellen Antwortmöglichkeiten. Ich will «Nein» sagen, wie es offensichtlich von mir erwartet wird. Ich will mich enervieren, dass ein Kommentar einer meiner Kolleg*innen als «besonders sensibel» abgetan wird, will dafür einstehen, dass ich solche Kommentare nicht in Ordnung finde. Ich werde aber schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Es ist Woche 1, ich kenne diese Personen nicht, sie sind meine Vorgesetzten und ich habe noch 3.5 weitere Wochen hier durchzustehen. Ich verbringe jeden Tag über zehn Stunden mit ihnen. Kurz jagt es mir durch den Kopf, ob sie mich vielleicht mehr respektieren würden, wenn ich mich ihnen entgegensetzen würde und doch traue ich mich nicht. «Ich bin mit Brüdern aufgewachsen», höre ich aus meinem Mund kommen. Verdammt. Für mich und für alle meine Kolleg*innen, die in Zukunft noch hierher kommen werden, schäme ich mich. Und ich tue auch meinen Geschwistern unrecht. Sie sind in der gleichen Welt aufgewachsen wie ich – einer sexistischen. Und doch sind sie reflektierte Männer, hinterfragen vieles, geben ihr, zumindest meiner Wahrnehmung nach, Möglichstes, um ihre eigenen Vorturteile zu reflektieren und ihr Verhalten entsprechen zu modulieren. Eine verpasste Chance und eine Antwort, die Stereotypen und Sexismus propagiert – obwohl ich meine, es besser zu wissen. In diesem Moment habe ich mich mitschuldig gemacht.