Sackgasse Neoklassik

06. Oktober 2024

Von und

Was haben Gletscherschmelze, Vaterschaftsurlaub, bedingungsloses Grundeinkommen und Öl-Pipeline-Investitionen gemeinsam? Es sind alles Themengebiete, die in den Wirtschaftswissenschaften diskutiert werden (sollten). Über den Besuch der erstmals durchgeführten Vorlesung «Einführung in die Plurale Ökonomik» sowie die Ambitionen der Organisator*innen der Veranstaltung berichten wir hier.

Bilder: Lisa Linder

Graphik: Grimm, C., Kapeller, J. und Pühringer, S. (2017)

«Schaffe, schaffe, Häusle baue», wer kennt den Spruch nicht. Und die Ironie dahinter, dass es für unsere Generation ja sowieso nichts bringen wird, sich abzustrampeln. Der Platz in der Welt wird knapper, sich eine Eigentumswohnung, geschweige denn ein Haus zu kaufen, sind keine realistischen Perspektiven mehr, die uns in unseren Dreissigern erwarten.

Die Wirtschaftsform von heute basiert jedoch auf dem Credo des Leistungsprinzips, demzufolge Reichtum und Wohlstand eine Frage der Anstrengung sind. Doch zoomen wir raus, erkennen wir, dass dem vieles widerspricht. Die Schere zwischen Reich und Arm wird immer grösser, die Ungleichverteilung an Wohlstand nimmt zu, die lebenswichtigen Ressourcen auf der Welt werden immer knapper und Wetterextreme häufiger. Klimakipppunkte sind keine futuristischen Drohungen mehr, sondern Realität.

Der Verein VWelles, der sich seit 2019 mit vielen Fragen bezüglich Wirtschaftsformen, Gesellschaftsutopien und theoretischen ökonomischen Alternativen auseinandersetzt, versucht sich in einer vernetzenden und vermittelnden Rolle, um die oben geschilderten Realitäten anzugehen.

Als Teil der internationalen Bewegung «rethinking economics» setzt sich VWelles dafür ein, dass an der Uni Bern nicht mehr nur die klassische Volkswirtschaftslehre (VWL) Platz in den Hörsälen findet. Der Verein will, dass auch andere Theorien und Ansätze diskutiert und in Erwägung gezogen werden. Sie wollen sich für die Förderung von pluraler Ökonomie in Forschung und Lehre einsetzen. Wir haben mit Max und Kaja von VWelles das Gespräch gesucht.

Was ist die klassische Ökonomik und weshalb ist diese problematisch?

Bevor wir auf die Vorlesung der pluralen Ökonomien zu sprechen kommen, ist es hilfreich zu wissen, inwiefern diese sich von der klassischen Ökonomik abgrenzen bzw. worin Kaja und Max dessen Problematiken sehen. Der Begriff der klassischen Ökonomik bestehe bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, klärt uns Max auf. Heute basiert die Theorie der «Mainstream Ökonomik» – wie Max diese benennt – jedoch auf der Neoklassik, welche erst später weiterentwickelt wurde.

Mittlerweile habe hier jedoch ebenfalls ein Wechsel von theorie- und modellbasierter Forschung zur empirischen Forschung stattgefunden. Zu Deutsch: es wird sich vermehrt auf Erfahrungs- und Beobachtungsberichte gestützt. Max ergänzt, dass weiterhin eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem, was geforscht und dem, was gelehrt werde, bestehe.

Eine Theorie, wodurch sich die Neoklassik auszeichne, sei die der «Pareto-Effizienz», welche von der Annahme ausgeht «wenn jemand mehr bekommen kann, spielt es keine Rolle, wer mehr bekommt. Hauptsache es wird niemand schlechter gestellt.», was eine per se normative Annahme ist, da Ungleichheiten ignoriert werden, so Kaja. Weshalb auch die Behauptung, die Neoklassik sei nicht normativ, in sich widersprüchlich sei. Diese Normativität, wie auch weitere Unstimmigkeiten, benennt Kaja als «blinde Flecken» der Volkswirtschaftslehre, wozu auch die unbezahlte Arbeit dazugehöre.

Kaja meint: «Es ist eine sehr männliche Perspektive zu sagen, dass die Volkswirtschaft sich nur auf den Markt bezieht und nicht auf jede Arbeit, die geleistet wird». Dies liege daran, dass unbezahlte Arbeit – wie beispielsweise Care-Arbeit –, die grösstenteils von Frauen verrichtet werde, ausser Acht gelassen würde.

Neben ihrem Studium hat Kaja durch ihre Arbeit als Hilfsassistentin am CDE (Centre of Development and Environment) Einblick in die momentane Forschung zu grünem Wachstum. Sie beschäftigt sich unter anderem damit, wie das BIP-Wachstum von den CO2-Emissionen entkoppelt werden kann. Hierbei setzte die Volkswirtschaft auf die Annahme, dass eine Entkopplung rein durch Innovationen wie von selbst stattfinden werde. Dies war bisher jedoch weder der Fall, noch ist es bewiesen, dass dies überhaupt geschehen werde, erklärte uns Kaja.

«Es ist eine sehr männliche Perspektive zu sagen, dass die Volkswirtschaft sich nur auf den Markt bezieht und nicht auf jede Arbeit, die geleistet wird.»

Ökonomische Alternativen anders kennenlernen

Um der einseitigen Wissensvermittlung der VWL entgegenzusteuern, hat sich VWelles dazu entschlossen, eine eigene Vorlesung auf die Beine zu stellen. Kaja als Mitgründerin erzählte, wie alles begann: «Wir trafen uns jeden Morgen zu einem Gipfeli und dann mussten wir uns nach einem langen Hin und Her für eine Vorlesungsthematik entscheiden, schlussendlich überzeugte uns die Poly-Krise».

Die Ringvorlesung mit dem Titel «Einführung in die Plurale Ökonomik» im Frühjahrssemster 2024 ermöglichte es den Studierenden der Universität Bern, einen Einblick in verschiedene ökonomische Denkschulen zu erhalten. Ökonomische Denkschulen – noch nie gehört? Dazu gehören neben der ‘neoklassischen Ökonomik’, die ‘feministische Ökonomie’, die ‘ökologische Ökonomie’, die ‘postkeynesianische Ökonomie’ und auch die ‘politische/marxistische Ökonomik’. Die verschiedenen Denkschulen begründen sich über unterschiedliche Fokusschwerpunkte in ihrer Theorie und stellen unterschiedliche Forderungen für eine funktionierende Gesellschaft.

In der ‘feministischen Ökonomik’ stehen beispielsweise Themen wie die Care-Arbeit, Fragen nach Gleichstellung und ökonomischem Ausgleich im Zentrum. Die ‘ökologische Ökonomik’ beschäftigt sich hauptsächlich mit der Problematik der endlichen Ressourcen unseres Planeten und stellt Modelle auf, wie ein nachhaltiger und «überlebenssichernder» Umgang damit aussehen müsste.

In einem Zweiwochenrhythmus wurden Referent*innen eingeladen, die ihren jeweiligen Forschungsschwerpunkt in einer der Denkschulen verorten. Sie klärten darüber auf, wie die ihnen nahestehende Denkschule mit den vielseitigen Krisen1 auf unserem Planeten umzugehen versuchte und welche Vorschläge bisweilen ausgearbeitet wurden, um Lösungen zu finden. Die Studierenden der Vorlesung hatten die Chance, in jeder Sitzung zum Abschluss Fragen zu stellen, wobei es zu spannenden Diskussionen kam.

Die Wochen zwischen den Vorlesungen wurden den Studierenden die Möglichkeit gegeben, sich in die Lektüre zu den Denkschulen zu vertiefen und in einem freiwilligen Tutorium aktiv zu diskutieren, Fragen zu klären und gemeinsam über Lösungsoptionen nachzudenken.

Welche Ziele verfolgt die Vorlesung “Plurale Ökonomik” und weshalb sollte man sie besuchen?

Der Inhalt der Vorlesung “Einführung in die Plurale Ökonomik” entspricht genau dem, wie es der Titel bereits vorwegnimmt. Es gehe darum, die Sichtbarkeit für die verschiedenen Ökonomien zu fördern und somit eine allgemeine Einführung zu geben, so Kaja und Max. Neben der Vermittlung verschiedener ökonomischer Perspektiven betonten Kaja und Max mehrmals, dass ihnen insbesondere die Förderung von kritischen Diskussionen wichtig sei, da sie diese in ihrer eigenen Studienzeit vermissten.

Dies sind beides Aspekte, in welchen sie sich von den bisherigen Vorlesungen im VW-Studium abgrenzten. Eine weitere Absicht war es, die Sichtbarkeit von weiblich gelesenen Personen in der VWL zu fördern. Kaja meinte hierzu, dass entgegen den Behauptungen der VWL, es schwierig sei, Expertinnen für die Fachgebiete anzustellen, es ihr und ihrem Mitorganisierenden einfach gefallen sei, beinahe für jede Vorlesung eine weiblich gelesene Gastdozentin zu finden.

Nur für die Neoklassik selbst dozierte der Professor Ralph Winkler, was jedoch daran lag, dass die Vorlesung auf Deutsch gehalten werden musste. Dennoch wertete Kaja den Gastbeitrag von Herrn Winkler als sehr positiv, sie meint, dass sie das «Gefühl hatte, dass es vorher zu wenig Austausch gab» und durch diesen Beitrag von Herrn Winkler «beide Seiten sich angenähert haben» und es «gut tue, überhaupt mal über die Neoklassik zu sprechen».

Wurden die Ziele erreicht?

VWelles hofft, mit dieser Vorlesung den Blick für andere Wirtschaftsformen und Handlungsmöglichkeiten zu öffnen, da laut ihnen im Lehrplan für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bern kritische Ansätze und die Hinterfragung gängiger Wirtschaftsstrukturen klar zu kurz kommen.

«Die Vorlesung ist viel mehr auf Augenhöhe und alle Gedanken haben Platz»

 

Aus der Umfrage der bsz unter den Vorlesungsbesuchenden wurde klar, dass an der Veranstaltung besonders die offene Atmosphäre für Fragen und Partizipationsmöglichkeiten geschätzt wurde. «Die Vorlesung ist viel mehr auf Augenhöhe und alle Gedanken haben Platz.», kommentierte ein*e Teilnemehr*in der Veranstaltung.

Gründe für die Wahl der Veranstaltung waren teils das Interesse an alternativen Wirtschaftstheorien oder auch die Erwartung «einen ersten Einblick in verschiedene Dimensionen ökonomischer Realität zu gewinnen und die Angst vor Marxismus abzubauen», so die Antworten aus der Umfrage.

Viele Studierende schätzten die offenen Diskussionen direkt mit den Expert*innen. Da die Thematik jedoch mit dem Fokus auf die Denkschulen auch sehr theoretisch ausgelegt war, wurde der Verbesserungsvorschlag für ein Skript als Hilfestellung geäussert, um mehr Klarheit zu schaffen. Dazu muss gesagt sein, dass die Veranstaltung als Bachelorwahlpflichtveranstaltung für Studierende der Nachhaltigen Entwicklung angeboten wurde, diese erhielten dafür ECTS.

Studierende der Wirtschaftswissenschaften konnten sich das Fach lediglich als zusätzlichen Input zu Gemüte führen, ECTS erhielten sie dafür von ihrer Fakultät keine. Dies zeigt deutlich, dass innerhalb der Fakultät noch immer eine Skepsis gegenüber offenen und diskursiven Herangehensweisen an die Wirtschaftstheorie vorhanden ist.

Ein Wirtschaftsstudent, der die Vorlesung nichtsdestotrotz besuchte, meinte dazu: «In meinem Hauptfach wird grundsätzlich nur die neoklassische Ökonomie thematisiert. Jedoch finde ich es nicht genügend, sich einzig mit neoklassischer Ökonomie zu befassen. Meines Erachtens benötigen wir für unsere momentane Weltsituation einen umfassenderen Blick auf die Wirtschaft, um eine nachhaltige Zukunft gestalten zu können.»

Viele der teilnehmenden Studierenden gaben ausserdem an, dass ihr Vorwissen in Wirtschaftswissenschaften nur basal vorhanden sei. Insgesamt erreicht der Verein mit dieser Veranstaltung zwar eher Nicht-Wirtschaftsstudierende, doch förderten die Sitzungen bei den Anwesenden klar ein kritischeres Denken und einen offeneren Blick auf wirtschaftlich denkbare Alternativen, so der allgemeine Tenor unter den Anwesenden.

Die meisten gaben an, dass sie trotz teils nur basalem Grundwissen einigermassen gut in der Vorlesung zurechtkamen. Unterstützt wurde dies durch das von VWelles zur Verfügung gestellte Glossar zu den wirtschaftlichen Fachbegriffen. Abschliessend wurde verlangt, dass die Teilnehmenden ihr angeeignete Wissen in einem Essay eruieren und unter Beweis stellen. Ein Leistungsnachweis, der das kritische und diskursive Denken fördert und damit auf eine Kompetenz eingeht, die umso wichtiger wird, wollen wir in einer Gesellschaft mit zunehmend polarisierenden Tendenzen reflektierte Kooperation stärken.

Und jetzt?

Den 60 KSL-Anmeldungen nach zu urteilen, stiess die Vorlesung bei den Student*innen auf Anklang. Insbesondere bei denen, die aus dem Institut der nachhaltigen Entwicklung kamen, welches auch die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt hatte. Aber auch der Bund-Artikel hat Wellen geschlagen und vorwiegend positive Reaktionen hervorgerufen, wie der Kommentarspalte und privaten Benachrichtigungen nach zu urteilen ist.

Forscher*innen und weitere Personen zeigten Interesse und kündeten ihre Unterstützung bei Bedarf an. Auch mit dem Volkswirtschaftlichen Institut, welches zwar keine finanzielle Unterstützung anbot, hat sich das VWelles verabredet, um gemeinsam die Vorlesung zu evaluieren und das weitere Vorgehen zu besprechen.

Durch die 60 KSL-Anmeldungen sieht Max ein grosses Argument auf ihrer Seite und hofft auf eine Weiterführung der Vorlesung, so wie es auch in Zürich der Fall war. Mit einem Zwinkern lässt uns Max auch wissen, dass die Rekrutierung neuer Mitglieder ebenfalls eine wünschenswerte Entwicklung wäre.

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