Quo vadis, Nachtläbä?

In der Berner Kulturszene kriselt es, unter anderem weil die Jungen anscheinend nicht mehr feiern wollen. Um herauszufinden, wieso denn nicht, habe ich mit Studierenden über ihre Abende gesprochen. Haben wir einfach alle gemerkt, wie gemütlich es zu Hause doch sein kann?
Die Ausgangslage
Im Verlauf der letzten Monate kam es immer wieder zu Schlagzeilen, die klar machten, dass es ein Problem in der Berner Kulturszene gibt. So schloss letztes Jahr die Brasserie Lorraine und konnte den Betrieb nur dank einem Crowdfunding jüngst wieder aufnehmen. Das Kapitel beim Bollwerk ist seit ein paar Wochen «in transformation» und selbst die Berner Reitschule – ein Urgestein der Berner Kulturlandschaft – schloss im Januar ihr Tor für zwei Wochen, zum ersten Mal seit 2016.
Die aktuellen Herausforderungen betreffen aber nicht nur «linksalternative» Orte. Auch das Le Ciel, das doch eher einen unpolitischen Charakter hat, stellte den Betrieb Ende Februar ein, um einem Pop-Up Platz zu machen.
Herausforderungen und Wandel
Gerade das Beispiel Le Ciel zeigt auf, dass es sich hier nicht nur um ein Problem von Lokalen mit politischem Anspruch handelt. Von den Medien, den Betreibenden und der Stadt werden unterschiedliche Aspekte betont, die zu den aktuellen Herausforderungen führten. Von Seiten der Betreibenden werden die Zunahme von Drogen, Deal und Gewalt genannt sowie eine Veränderung im Ausgehverhalten von Jugendlichen seit Corona. Gerade dieser letzte Punkt wurde auch in verschiedenen Artikeln immer wieder diskutiert. Unsere Generation scheint generell weniger auszugehen und wenn, dann haben wir sehr hohe Ansprüche an das Programmangebot. Die ständige Verfügbarkeit von Musik aller Art und schnell aufkommende und wieder verschwindenden Trends stellen auch die Organisator*innen von Festivals, wie dem Berner Gurtenfestival, immer wieder auf die Probe. Einer der wenigen Orte, der keine grösseren Probleme hat, ist der Gaskessel. Dieser sticht allerdings durch seine Niederschwelligkeit hervor. Das Jugendzentrum ist als Verein organisiert und richtet sich vor allem an ein jüngeres Publikum: Bei vielen Events und auch bei der Mitarbeit ist das Mindestalter lediglich 16 Jahre.
Was ist denn los bei den Jungen?
Allgemein gesprochen scheinen die Jungen also lieber zuhause zu bleiben, als bis in die frühen Morgenstunden zu feiern. Und wenn wir uns dann trotzdem mal in ein Lokal begeben, dann haben wir anscheinend so hohe Anforderungen, dass die Organisator*innen regelmässig Nervenzusammenbrüche erleiden. Musiktrends kommen und gehen so schnell, dass es extrem schwierig ist herauszufinden, was wir denn momentan gerade nice finden. Aber meistens sind wir ja ohnehin viel zu beschäftigt mit unserem leistungsorientierten Leben, das sich aus Gym, frühen Schlafenszeiten, gesunder Ernährung und natürlich Alkoholabstinenz zusammensetzt. So lauten zumindest die Vermutungen der BZs und NZZs dieser Welt. Nun gut, wenn man «einfach nicht so recht weiss, was die Jungen überhaupt wollen…» kann man ja mal kurz nachfragen: Liebe Studis, lebt ihr noch? Seid ihr noch im Koma von den letzten Prüfungen? Geht ihr noch in den Ausgang? Wo denn? Und was ist euch wichtig? Und was fehlt euch im Berner Nachtleben?
Die Antworten der Menschen des Redaktionsteams liessen mich bereits vermuten, dass es sich nicht einfach um ein Problem mangelnder Grundmotivation handelt. Vielmehr wird beklagt, dass es schlicht zu teuer sei und man wirklich gut planen müsse, um überhaupt herauszufinden, wo was läuft (Fussnote: Berner Nachtläbe der Hauptstadt und die Berner Kulturagenda können helfen). Denn wenn man einfach spontan ausgehen will, passiert es nicht selten, dass man ausgerechnet einen jener Abende erwischt, an denen wirklich gar nichts läuft. «In Bern ist einfach nichts los. Wenn wir in den Ausgang gehen, dann in Zürich oder Fribourg», antwortete ein Studi auf die Frage, ob er in Bern in den Ausgang geht. Zugegeben kann man vom Berner Nachtleben nicht das gleiche erwarten wie von Zürich oder Basel, aber immerhin das Level von Fribourg könnten wir doch halten, oder nicht? Genügend Clubs, Bars und andere Kulturlokale hätten wir ja theoretisch. Zuzüglich all der Pop-Ups, die in den Sommermonaten der Stadt die Pflege des öffentlichen Raums abnehmen.
Voll vernünftig
Es ist ja nicht so, dass wir jedes Wochenende nur auf dem Sofa verbringen. Aber die Vorteile von privaten Events sind uns spätestens seit Corona bewusst. Es ist deutlich günstiger, meist wärmer, weniger laut, man muss nicht aufpassen, dass einem die Tasche leer geräumt wird und der Safer Space scheint fast naturgegeben, da man die meisten Personen schon irgendwie kennt.
«Ich gehe vor allem an private Partys. Orte, an denen ich meine Jacke einfach in eine Ecke werfen kann. Wo einfach nur wholesome people sind», meinte eine Person. Hinzu kommt, dass diese Abende meist nicht erst gegen Mitternacht losgehen und man am nächsten Morgen sogar wieder fit ist für den Nebenjob oder das Treffen mit der Lerngruppe. Kleiner Kater hin oder her.
Es ist schon mal beruhigend, dass wir nicht alle komplett vereinsamt sind. Es scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein: «Wenn ich mich heute mit Personen treffe, dann hat man sich meist schon einige Zeit nicht gesehen und ist erstmal mit catching up beschäftigt. Und im Club kann man halt nicht stundenlang reden», sagte eine weitere Person. Ja, die Tanzfläche ist für diese Art von Interaktion wohl wirklich nicht der richtige Ort. Der grosse Vorteil, wenn man solche stundenlangen Gespräche nicht in einer Bar führt, ist auch, dass es einfach deutlich günstiger ist. Für uns alle ist Ausgang – wenn wir denn partizipieren – wohl eher einer der grösseren Budgetposten. Unser Portemonnaie, anders als jenes der Kulturschaffenden, dankt also dafür, dass wir eher mal bei jemandem zu Hause bleiben. Sei es nun für eine Party, ein gemütliches Beisammensein oder ein Krimidinner.
So gesehen wirkt es ein wenig, als seien wir einfach alle älter geworden. Viele Personen, die ich gefragt habe, wieso sie weniger ausgehen als früher, antworteten schlicht etwas in die Richtung von: «Aus dem Alter bin ich raus.» Die ganze Nacht durchzufeiern ist anscheinend eher etwas für 16-Jährige. Von dem Student*innenleben, das lange damit konnotiert war, dass man von Mittwoch bis Sonntag eigentlich gleich durchfeierte, scheinen wir heute weit entfernt zu sein. «Als ich noch Alkohol getrunken habe, war es auch irgendwie einfacher. Man war eh so im eigenen Film, dass der Abend ganz von allein etwas Magisches hatte.»
Dass wir die Uni tatsächlich halbwegs ernst nehmen, liegt unter anderem daran, dass die Umstellung auf das Bologna-System zu einer Verschulung der universitären Bildung geführt hat. Sprich: Wir schreiben mehr Prüfungen und sind nicht mehr so frei in der Ausgestaltung unseres Studiums. Das, kombiniert mit dem bewussteren Umgang mit Alkohol, führt offensichtlich zu einigen Problemen in der an Studis gerichteten Partyindustrie. «Früher sagte ich nur ungern, dass ich nicht wirklich in den Ausgang gehe. Heute glaube ich, hat auch niemand mehr die Erwartung, dass man jedes Wochenende Party macht.» Der zunehmende Fokus auf die eigene Gesundheit und der Rückgang des Alkoholkonsums haben irgendwie dazu geführt, dass nächtelanges Feiern geradezu verpönt ist. Gut für uns, unseren Lebenslauf und unsere Leber, schlecht für die Kulturszene.
Digital
Der Vollständigkeit halber muss ich hier noch auf eine weitere pandemiebedingte Veränderung unserer Art, Kultur zu konsumieren, eingehen. Heutzutage sind allerlei Theaterproduktionen, Podiumsgespräche und Konzerte gratis in digitaler Form verfügbar. Obwohl es in erster Linie eine positive Entwicklung ist, wenn die Kultur unabhängig von Ort und Budget für alle zugänglicher ist, bedeutet sie auch eine enorme Zunahme an Konkurrenz für bestehende «offline» Angebote. Wo bekommt man im wirklichen Leben ein Konzert, dann eine Theaterinszenierung und abschliessend eine Stand-up Poetry Show geboten? Und das ganze gratis, mit der Möglichkeit jederzeit einfach abzuschalten ohne sich (sehr unangenehm) durch volle Sitzreihen zum Ausgang drängeln zu müssen?
«Ich glaube schon, dass man die Gratiskultur des Internets merkt. Gerade Musik hat sehr ihren politischen Charakter verloren. Sie ist heute viel mehr zu einem einfachen Konsumgut geworden.» Selbst wenn diese Art von Kritik keineswegs neu ist, spielt diese Veränderung eine zentrale Rolle in den heutigen Entwicklungen. Wir müssen nicht mehr vor die Tür, um uns mit neuen und spannenden Inhalten zu beschäftigen. «Ich glaube die Langweile, die Menschen früher dazu gezwungen hat, allein in eine Bar zu gehen, kenne ich gar nicht mehr», sagte mir eine Person während der Recherche. Wir müssen also weder für die Inhalte vor die Tür, noch um uns selbst zu entkommen.
Comfort Zone
Wenn nicht um des Inhalts willen, dann gehen wir doch zumindest für die Erfahrung in den Ausgang. Das dann aber am liebsten mit Freund*innen und weniger, um neue Leute kennenzulernen. Blöd nur, wenn man die einzige unvernünftige Person in der Gruppe ist und die anderen dann doch alle zu beschäftigt sind mit Lernen, Gym oder der Beziehung. Die Hemmung, in dieser Situation allein an ein Konzert oder an eine Party zu gehen (von Bars ganz zu schweigen) ist leicht zu verstehen. Es gibt ja auch genug Gründe, wieso es besser wäre, zuhause zu bleiben. «Wenn du dann allein an einem Konzert bist und dich umschaust, fällt dir auch sofort auf, dass alle anderen in Gruppen unterwegs sind.» Wir haben uns sehr daran gewöhnt, immer Gleichgesinnte um uns herum zu haben, sei es in der digitalen oder in der analogen Welt und allein fühlt man sich auch gleich viel weniger sicher.
Nehmen wir an, wir haben uns gegen elf Uhr trotz allem noch vom Sofa hochgekämpft und vielleicht sogar noch eine weitere Person motiviert, uns in den Ausgang zu begleiten. Mit etwas Glück ist tatsächlich irgendwo etwas los und an der Abendkasse sind noch Tickets verfügbar. Nur, will man jetzt echt die 35.- für das Ticket ausgeben? (Umgerechnet sind das schliesslich mindestens drei Mahlzeiten…) Vorausgesetzt natürlich, dass man nicht gleich abgewiesen wird, weil es drinnen schon voll ist.
«Die Menschen wollen schon in den Ausgang, es fehlt einfach dieser eine Ort, zu dem man gehen kann.» Während sich noch vor ein paar Jahren alle Abgewiesenen, Unentschlossenen und die, die schon wieder pleite waren, auf dem Vorplatz der Reitschule sammelten, kam dies in letzter Zeit immer seltener vor. Abgesehen davon, dass das in diesem Januar aufgrund der zweiwöchigen Schliessung der Reitschule gar nicht möglich war, war auf dem Vorplatz schon seit längerem eine Veränderung spürbar. Seinen Status als Ort, an dem man im Zweifelsfall auch einfach mal hingeht, hat er schon vor einiger Zeit verloren. «Früher war mir doch egal, was bei der Reitschule läuft. Ich ging hin, weil ich wusste, dass dort eh alle sind.» Womit wir wieder am Anfang wären: dem Problem, dass das Publikum lieber zuhause bleibt.
Nicht nur Bern
Mit diesen Problemen hat nicht nur die Berner Kulturszene zu kämpfen. Auch in anderen Städten sehen sich Lokale mit schwindenden Publikumszahlen konfrontiert. Besonders die linksalternativen Orte wie die Rote Fabrik in Zürich oder das Frison in Fribourg werden dadurch vor existentielle Fragen gestellt. Die Orte, die während der Jugendbewegung in den 80ern und 90ern erobert wurden, verloren über die Zeit die Eigenschaft, Freiräume für Junge zu bieten. Die ersten Generationen, die sich dort früher die Nächte um die Ohren geschlagen haben, gehen jetzt bald in Pension. Es wäre an uns, nachzurücken und diese Freiräume wieder zu beleben und unsere Utopien in ihnen zu verwirklichen. Vorausgesetzt natürlich, dass es uns nicht doch lieber ist, die Kulturlandschaft den konsum- und gewinnorientierten Pop-Ups zu überlassen.
Keinen Grund zu feiern
Nun ja, ein gewisses Mass an Kulturpessimismus lässt sich wohl in jeder Generation finden. Also nur noch das eine: Feierlichkeiten finden sich in allen menschlichen Gesellschaften. Wir sind soziale Wesen und der Homo Sapiens ist nur deshalb so weit gekommen, weil er in Gruppen so gut funktioniert. Das bedeutet aber auch, dass wir auf den Kontakt mit realen Menschen im realen Raum angewiesen sind. Gerade in düsteren Zeiten können sie uns Halt geben und etwas, auf das wir uns freuen können. Feiern erfüllt wichtige Aufgaben in einer Gesellschaft. Durch den Austausch mit Personen ausserhalb der eigenen Gruppe werden der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Toleranz gefördert. Auf individueller Ebene hilft es gegen Einsamkeit und durch all die positiven Emotionen, die beim Tanzen ausgeschüttet werden auch gegen Depressionen und Ängste. Es spricht also einiges dafür, sich wieder ab und zu in ungewisse Nächte zu wagen.
Text: Lara Camenzind
Illustration: Pierina Westermann