Mehr als Worte
Die Schreibwerkstatt von bunt_lieben ist ein kreativer Raum für queerfeministische Geschichten. Hier entstehen Texte, die Sichtbarkeit schaffen und Klischees über Beziehungsformen, Sex und Romantik aufbrechen – für mehr Akzeptanz und Vielfalt.
«BDSM: Im Konsens gemein sii»; «Aromantik: Liebe ≠ Romantik» – das sind zwei der Sticker, die auf dem Tisch liegen, als wir an einem Samstagmorgen in die Cafeteria der Woker Mensa kommen. Auf allen Aufklebern sind bunte Bonbons zu sehen. Es ist das Logo des Vereins bunt_lieben, der heute eine Schreibwerkstatt veranstaltet. Die Pride-Flaggen, die den Raum zieren, machen schnell klar, dass die Farben der Bonbons bewusst gewählt sind. Nach und nach treffen die Teilnehmer*innen ein, holen sich gesponserten Kaffee und veganes Gebäck von der Bakery Bakery und klappen ihre Laptops auf. Heute nehmen sie sich ein paar Stunden Zeit, um persönliche Erfahrungen zu queerfeministischen Themen in Worte zu fassen.
Von KI bis «Gay Panic»: Themenvielfalt in der Schreibwerkstatt
Die Schreibwerkstatt ist viel mehr als ein Treffpunkt für Schreibbegeisterte. «Sie ist ein Raum, um Vielfalt sichtbar zu machen und persönliche Erfahrungen zu teilen», erklärt Anina Jaussi. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins bunt_lieben. «Menschen mit unterschiedlichsten Perspektiven finden hier eine Plattform», so Anina. «Jene, die ihre Lebensrealität erzählen möchten, jene, die lieber zuhören und nachfragen und jene, die das Gehörte schriftlich festhalten.»
Als wir von der «bärner studizytig» Kontakt mit dem Verein aufnahmen, um über seine Arbeit und den Schreibtreff zu berichten, wurden wir direkt eingeladen, selbst teilzunehmen. So sind wir an diesem Samstagmorgen nicht nur neugierig, sondern auch etwas nervös: Können wir denn auch wirklich etwas beitragen? Kennen wir uns genug aus? Doch diese Zweifel verfliegen schnell. Nach einem lockeren Ankommen und der Begrüssung durch den Vorstand geht es gleich los. Neuankömmlinge werden herzlich empfangen und es wird betont, dass niemand vor unbekannten Begriffen zurückschrecken muss. Die bunt_lieben-Community legt grossen Wert auf ein Umfeld, in dem alle auf Augenhöhe diskutieren können. Die Themen der Schreibgruppen entstehen aus den Interessen der Teilnehmenden oder bauen auf vorangegangenen Workshops auf. So beschäftigt sich eine Gruppe etwa mit der Frage, wie sich Beziehungen mit künstlicher Intelligenz auf bestehende Partnerschaften auswirken könnten, während eine andere Gruppe über «Gay Panic» diskutiert – mit diesem Begriff wird die Panik bezeichnet, die entstehen kann, wenn man sich zu Personen des gleichen Geschlechts hingezogen fühlt.
«Menschen mit unterschiedlichsten Perspektiven finden hier eine Plattform. Jene, die ihre Lebensrealität erzählen möchten, jene, die lieber zuhören und nachfragen und jene, die das Gehörte aufschreiben.»
Positive Narrative für alternative Beziehungen
«Die Themen in der Schreibwerkstatt sind vielfältig», erzählt Anina. «Oft geht es um nicht-monogame Beziehungsmodelle.» Dabei räumt die Werkstatt mit Klischees auf, die alternative Beziehungskonzepte häufig negativ darstellen. «So viele Narrative in Filmen und Büchern funktionieren über das Muster: zwei Menschen mögen sich, dann kommt eine dritte Person und alles wird zum Drama», erklärt sie. Die Schreibwerkstatt setzt diesem Bild positive Narrative entgegen und zeigt, dass solche Beziehungsformen mit Kommunikation und reflektiertem Umgang funktionieren können – solange alle Beteiligten einverstanden sind. Das Aufbrechen tief verankerter gesellschaftlicher Muster ist eine Herausforderung. Besonders eindrücklich war für Anina die Arbeit an einem Beitrag zu den «Stolpersteinen der Nicht-Monogamie». Dabei wurde ihr bewusst, «von wie vielen erlernten Gedankengängen wir uns lösen mussten – und immer noch dabei sind uns zu lösen –, um diese Beziehungsform zu leben.»
In der Cafeteria geht es nach angeregten Diskussionen nun in die produktive Phase. In dieser entstehen aus den gesammelten Ideen Info-Posts für Social Media. Ein Beitrag ist nie eine Einzelarbeit – er wird im Team erstellt, geprüft, ergänzt und mit Quellen versehen, um eine breite und fundierte Sichtweise zu garantieren. «Uns ist es wichtig, betroffenen Menschen das Wort zu geben, statt über sie zu sprechen. Auch darum ist die Schreibwerkstatt so wertvoll», erklärt Anina. Bei bunt_lieben wird eine respektvolle Diskussionskultur gelebt, die sich auch in der Schreibwerkstatt widerspiegelt. «Wir fragen nach, wenn wir etwas nicht verstehen und weisen respektvoll auf Fehler hin. Fehler zu machen ist in Ordnung, solange eine Korrektur angenommen werden kann.» Auch ausserhalb der Vereinsarbeit sind die Werte des Vereins für Anina zentral. «Für mich ist das Engagement im Verein nicht eine Nebenbeschäftigung, die ich ein paar Stunden in der Woche mache und dann ablege», sagt sie. Vielmehr sieht sie es als Lebenseinstellung und Möglichkeit, überall im Alltag Veränderungen zu bewirken.
«Uns ist es wichtig, betroffenen Menschen das Wort zu geben, statt über sie zu sprechen.»
Von der Lesegruppe zum Podcast: Die Entstehung von bunt_lieben
«Ursprünglich war der erste bunt_lieben-Anlass als einmaliger Sonderanlass einer Lesegruppe gedacht», berichtet Anina. Doch der Zuspruch war gross und bald wurde klar: Solche Erzählräume sind notwendig. Aus dem Vorleseabend entstand ein Workshop, in dem queere Menschen ihre Geschichten schrieben und vortrugen. «Da queere Geschichten oft schwer zu finden sind, beschlossen wir, dass queere Menschen diese selbst schreiben und vorlesen.» 2021 entstand schliesslich der Verein bunt_lieben. Heute zählt er 130 Mitglieder und setzt sich für die Entstigmatisierung von Polyamorie, BDSM und queeren Sexualitäten ein. Die Schreibwerkstatt ist ein fester Bestandteil dieser Arbeit. Die Texte werden auf Instagram veröffentlicht, um ein breites Publikum zu erreichen. Da politischem Aktivismus oft Steine in den Weg gelegt werden, möchte der Verein in Zukunft nicht von einer einzigen Plattform abhängig sein. Deshalb baut er derzeit einen Podcast als zweites Standbein auf. Das Podcast-Team wird die erste Folge dem Flirten widmen.
Während der Schreibwerkstatt sammeln sie Stimmen zu diesem Thema. In der Diskussion entstehen dabei Fragen wie: Was ist für uns Flirten und was nicht? Bevorzugen wir das Flirten in persona, schriftlich oder mit Emojis? Flirten wir eher mit Freund*innen oder unbekannten Menschen? Und welche Rolle spielen Neurodiversität und Queerness beim Flirten?
Mit Wissenschaft und Dialog zu mehr Sichtbarkeit
Am 14. Februar 2025 feiert ebenfalls ein neues Format Premiere: «Wir organisieren gerade ein Panel zum Austausch über laufende Projekte zum Thema Non-Monogamie», erzählt Anina. bunt_lieben will mit diesem Event die gesellschaftliche Verankerung verschiedener Beziehungskonzepte stärken und Akteur*innen im DACH-Raum miteinander vernetzen. Zentral für den Verein ist auch die enge Verbindung zur Wissenschaft. Viele Mitglieder studieren oder arbeiten an der Universität Bern oder an anderen Hochschulen. Dieser akademische Hintergrund prägt die Arbeit des Vereins bis heute – sie basiert auf fundiertem Wissen und ist evidenzbasiert. Neben Dialog und Aufklärung setzt sich der Verein aktiv für gesellschaftliche Veränderungen ein. Die Forderungen umfassen einen unbürokratischen Prozess zur rechtlichen Absicherung von Mehrfachbeziehungen, die Entwicklung flexibler rechtlicher Beziehungsmodelle, die den sich wandelnden Lebensumständen der Beteiligten gerecht werden, den einfachen Zugang zu wissenschaftlichen Forschungsergebnissen über Beziehungen sowie eine positive Darstellung verschiedener Beziehungsmodelle in den Medien.
Der Abschluss eines inspirierenden Vormittags
Es ist Mittag und die Schreibwerkstatt neigt sich dem Ende zu. Die letzten Sätze werden formuliert, die obere Etage der Woker Mensa leert sich langsam. Doch die Energie des Vormittags bleibt spürbar. Mittlerweile findet die Schreibwerkstatt fast monatlich statt – oft auch online, um Teilnehmenden aus dem gesamten deutschsprachigen Raum die Teilnahme zu ermöglichen. Wer den Verein unterstützen möchte, kann dies durch eine Mitgliedschaft tun. Die Beiträge sind einkommensbasiert und niedrigschwellig gehalten, um vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu engagieren. Anina betont: «Es hilft uns sehr, wenn wir eine hohe Mitgliederanzahl vorweisen können». So wird jede Stimme stärker und der Verein rückt seinem Ziel näher, mehr Raum für bunt liebende Menschen und ihre Geschichten zu schaffen.
«Polyamorie ist kein Achievement», «Slutshaming» – das sind nur zwei von vielen Posts, die bunt_lieben in den letzten Jahren veröffentlicht hat. Besuche die Website von bunt_lieben oder ihren Instagram-Kanal und schau dir die mit viel Engagement erstellten Posts an.
https://www.buntlieben.ch/aktuelles/
Text: Katja Wey
Bilder: Laura Godel und bunt_lieben
Illustrationen: Lara Camenzind