Haaatschüü
Dienstleistungen der Ökosysteme haben einen unvorstellbar grossen Wert
Bäume und Wiesen blühen wunderschön in den verschiedensten Farben und Formen. Damit einher geht Jahr um Jahr die Pollensaison und macht somit vielen (gerade den Städter*innen) wieder einmal in unangenehmer Weise die Vielfalt der Natur bewusst. Doch diese Vielfalt ist gefährdet und der Mensch ist zu grossem Teil selbst dafür verantwortlich.
Text: Mara Schaffner
Fotos: Mara Schaffner
Illustrationen: Victoria abermacher und Mara Schaffner
Klimakrise, Energieknappheit, Naturkatastrophen, Wasserknappheit… Neben all diesen Krisen gerät die Biodiversität manchmal etwas in Vergessenheit. Doch auch hier steuern wir auf eine Katastrophe zu. Mit 150 Arten, die täglich aussterben, ist das sechste Artensterben bereits voll im Gange. Das grösste seit 66 Millionen Jahren. Wieso kann es mir, dir, uns nicht egal sein, wenn es nur noch eine Bienenart gibt anstatt deren 10, 100, 1000? Was geht uns die Vielfalt der Natur an?
Es gibt eine einfache Antwort: Weil unser aller Leben davon abhängt!
Biodiversität – So What?
«Biodiversität ist das auf der Erde existierende Leben in seiner gesamten Vielfalt. Sie ist damit Grundlage und Potenzial sämtlicher Lebensprozesse und Ökosystemleistungen auf unserem Planeten.» 1 Das Wort setzt sich aus zwei Begriffen alter Sprachen zusammen, bio (griechisch) = Leben und diversitas (lateinisch) = Verschiedenheit. Zusammengebracht wurde der Begriff jedoch erst in den 1980er Jahren vom US National Research Council. Der Begriff umfasst nicht nur die Vielfalt der einzelnen Arten auf diesem Planeten, sondern meint die Vielfältigkeit auf drei Ebenen.
1) Es gibt zum einen die Stufe der Lebensräume (Ökosysteme) wie z.B. Wälder, Gewässer und Wüsten. Darin leben die verschiedenen Arten (Biozönose), welche die zweite Stufe beinhaltet.
2) Eine weitere Stufe ist die klassische Artenvielfalt – das heisst, wie viele Arten von Tieren, Pflanzen, Pilzen und Bakterien es auf dieser Welt gibt.
3) Die letzte Stufe bezeichnet die genetische Diversität, die ebenfalls erhalten bleiben sollte. Denn nur die genetische Vielfalt garantiert, dass sich Arten an Veränderungen der Umwelt wie Krankheitserreger oder physikalische Veränderungen anpassen und so ihr Überleben sichern können.
Dieses Prinzip der Diversifizierung zeigt sich in den unterschiedlichsten Bereichen. Um das Ganze auf ein weniger abstraktes Niveau zu bringen, folgt hier ein Alltagsbeispiel, welches den BWLern unter euch sicherlich bekannt vorkommt.
Stell dir vor, die Biodiversität ist das Vermögen der Erde. Um zu verhindern, einen grossen Verlust zu erleiden, investieren verantwortungsbewusste und risikoaverse Anleger*innen ihr Vermögen möglichst divers. Es wäre äusserst riskant, sein gesamtes Vermögen in nur eine Art Aktie zu investieren. Was, wenn diese einen herben Wertverlust erleidet, oder das Unternehmen Bankrott geht? Deswegen haben die meisten Aktien von verschiedenen Firmen, Obligationen und ein einfaches Kapital, welches auf der Bank liegt.
Wieso schützen?
Genau so verhält es sich auch bei der biologischen Vielfalt. Die Biodiversität – das Vermögen – soll möglichst divers sein, um unvorhersehbaren Ereignissen wie Naturkatastrophen oder z.B. dem Klimawandel etwas entgegensetzen zu können. Eine Art überlebt die neue Situation vielleicht nicht und stirbt aus, doch eine andere überlebt und erfüllt weiterhin ihren Auftrag im Ökosystem und ermöglicht eine gewisse Stabilität. Dass 100 Arten und nicht nur deren eine vorkommt, also die gesamte Vielfalt, kann man sich als Versicherung für das Überleben des gesamten Ökosystems und damit auch für unsere Existenz vorstellen. Denn jede Art hat ihre eigene Funktion.
Schützen sollten wir sie auch, da die monetären Kosten, welche den Verlust von Biodiversität verursacht und verursachen wird, kaum abzuschätzen und zu bewältigen sein werden. Der Wert der Dienstleistungen, welche uns die biologische Vielfalt zur Verfügung stellt, ist sehr hoch und nicht ersetzbar. Dazu gehören beispielsweise die Bestäubung von Blütenpflanzen durch Bienen, der Erhalt der Bodenfruchtbarkeit, die Regulierung des Klimas und Wasserhaushalts, die Schädlingsbekämpfung und die Verhinderung von Bodenerosion oder Desertifikation.
Verschiedenen Schätzungen zufolge leisten Ökosysteme global Dienste im Wert von bis zu 125 Milliarden US$2. Einmal zerstörte Biodiversität lässt sich nur sehr langsam und mit sehr grossem Aufwand und hohen Kosten aufpäppeln. Technische Lösungen (sofern es sie gibt) sind oft ebenfalls mit hohen Kosten verbunden.
Was ist das Problem?
Die Biodiversität geht stark zurück. Wir befinden uns mitten im sechsten Massensterben und anders als in den fünf zuvor sind es nicht äussere Einflüsse wie Meteoriten oder Vulkanausbrüche, sondern wir. Wir, die Menschheit. Unsere Art zu leben beeinträchtigt nach und nach immer mehr andere Erdbewohner*innen. Deren Verlust kommt uns bei 8 Millionen Arten zuerst vielleicht geringfügig vor und wird erst einmal gar nicht bemerkt. Denn es kann sein, dass immer noch dieselben Arten gefunden werden wie vor 50 Jahren, jedoch die Anzahl der Individuen stetig sinkt. Sobald diese ein kritisches Level erreicht hat, ist das Aussterben absehbar und praktisch nicht mehr verhinderbar. Es sind eine Million Arten vom Aussterben bedroht – also 1/8 der Arten. Es sind nicht nur der grosse Panda in Asien, sondern auch zahlreiche Arten in unseren Breitengraden, in unserer Nachbarschaft. Wie zum Beispiel der Fischotter (vom Aussterben bedroht) oder die Turteltaube (stark gefährdet).
Durch die Ausdehnung von Siedlungsraum werden andere Arten zusehends eingeengt. Der Mensch beansprucht eine grosse Fläche der Erde für sich und beeinflusst noch viel mehr, wie z.B. die Ozeane, die zwar kaum bewohnt werden, jedoch stark von menschlichen Handlungen beeinflusst sind. Eindeutig sieht man dies an Lebensräumen, die bis vor «Kurzem» vom Menschen unberührt waren. Beispielsweise Neuseeland, welches erst im 13. Jahrhundert besiedelt wurde. Innert weniger Jahre waren jedoch viele der grossen Tiere wie flügellose Riesenvögel (Mao), Seelöwen und Robben komplett verschwunden. Dies wohlgemerkt lange bevor die europäischen Imperialherren mit ihren Schiffen und Kanonen kamen.
Die Ausbreitung der Art Mensch führt zu diversen Problemen: Wir nehmen immer mehr Raum ein, wo sich die Natur zuvor entfalten konnte. Je kleiner ein Biotop, desto grösser die Chance, dass dessen Bewohner*innen nicht überleben können. So brauchen zum Beispiel Moore eine gewisse Grösse, da sie sonst durch die intensive Wassernutzung von umliegenden Landwirtschaftsflächen entwässert werden und eingehen.
Die Zerstückelung der Landschaft stellt ein weiteres Problem dar. Durch den Bau von Verkehrswegen z.B. werden natürliche Lebensräume auf kleine Inseln reduziert. Denn wenn Populationen in einem Lebensraum sich nicht mehr mit anderen Artgenossen austauschen können, stellt dies ein grosses Risiko für die genetische Verarmung dar und führt über kurz oder lang zu deren Aussterben.
Das zugrunde liegende Problem ist die fortschreitende Entfremdung der Menschen von der Natur. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, stammen doch praktisch unsere gesamten Lebensmittel aus der Natur; und 90 % der Medikamente, die wir nutzen, basieren auf pflanzlichen Wirkstoffen. Diese Entfremdung hat reale Auswirkung. Denn, wenn der Mensch sich weniger mit der Natur identifiziert, ist auch die Problematik des Massensterbens weniger präsent. Solche Menschen sind auch in der Politik vertreten.
Laut Urs Tester von Pro Natura ist das Problem zwar bekannt, wird jedoch zu wenig ernst genommen:
«National- und Ständerat haben 2023 intensiv über den Zustand der Biodiversität diskutiert. Dies im Zusammenhang mit der Biodiversitätsinitiative der Umweltorganisationen und dem indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates. Sie haben den Fakt zur Kenntnis genommen, dass es um die Biodiversität in der Schweiz nicht gut steht. Sie haben sich entschieden, nichts zu tun. Im Gegenteil, sie haben entschieden, Massnahmen zur Förderung der Biodiversität sogar rückgängig zu machen. So wird es beispielsweise nicht wie angekündigt 3.5% Biodiversitätsförderflächen in Ackerbaugebieten geben.»
«National- und Ständerat haben 2023 intensiv über den Zustand der Biodiversität diskutiert. Dies im Zusammenhang mit der Biodiversitätsinitiative der Umweltorganisationen und dem indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates. Sie haben den Fakt zur Kenntnis genommen, dass es um die Biodiversität in der Schweiz nicht gut steht. Sie haben sich entschieden, nichts zu tun. Im Gegenteil, sie haben entschieden, Massnahmen zur Förderung der Biodiversität sogar rückgängig zu machen. So wird es beispielsweise nicht wie angekündigt 3.5% Biodiversitätsförderflächen in Ackerbaugebieten geben.»
Doch gerade in der Politik wird Biodiversität oft gegen klimaneutrale Energiegewinnung aufgewogen. Eine Diskussion, die es so gar nicht geben dürfte, denn wie oben erwähnt, hängt sowohl das Klima als auch die Biodiversität stark voneinander ab und beeinflussen sich gegenseitig. Es sollten stattdessen Lösungen gesucht werden, die sowohl die Biodiversität als auch klimaneutrale Energiegewinnung fördern.
Gibt es Lösungen?
Lösungsansätze für eine Verbesserung oder mindestens Entschleunigung des Biodiversitätsverlusts gäbe es genug. Sowohl die Berücksichtigung von Schutzzonen bei der Koordination und Raumplanung als auch Anreize durch Direktzahlungen an Landwirt*innen für eine ökologische Gestaltung der Bewirtschaftung. Am effektivsten aber wäre es, die Menschen wieder näher an die Natur zu bringen, Urs Tester von Pro Natura:
«Wir Menschen müssen unsere Einstellung zur Natur ändern. Es ist wichtig, dass wir die Natur wertschätzen und bereit sind ihr Raum zu geben. Wenn wir diese Bereitschaft haben, wird es uns leichter fallen, unser Verhalten zu Gunsten eines harmonischen Zusammenlebens von Mensch und Natur zu ändern»
Selbst wenn es zu mehr Verbundenheit mit der Natur kommen würde, braucht es Lösungen für schon bestehende Probleme. Um Lösungen auf den Weg zu bringen und dem Biodiversitätsverlust entgegenzuwirken, braucht es weitere Forschung. Diese zu bewerkstelligen ist nicht ganz einfach, da die Finanzierung solcher Projekte nicht selbstverständlich ist, meint Jean-Yves Humbert von der Universität Bern bezüglich SNF-Forschungsgeldern:
«…Because as soon as it is applied, it means it is locally and context dependent. Corollary, results might not be relevant in another country and surely not in another biome which is often a criteria to get a research grant.»
Handeln geht auch lokal
Auch in Bern gibt es Projekte, die sich der Biodiversität annehmen. Eines wurde beispielsweise vom Amt Stadtgrün Bern ins Leben gerufen, um mehr Natur in den städtischen Siedlungsraum zu bringen und Biodiversität zu fördern. Denn Natur und Stadt soll kein Widerspruch sein. So werden speziell Gärten, Balkone und – für alle Studis in Wohnungen ohne Balkon besonders relevant – Fenstersimse, die sich speziell für die Biodiversität einsetzen, mit einem Preis gekürt. Ausserdem gibt es diverse Projekte, die den Wohnraum mit der Natur in Verbindung bringen und so auch Lebensräume für andere Arten als den Menschen sein sollen. In diesem Sinne sind wir nicht eine Dreier-WG mit Küche und Bad, sondern eine Dreier-WG mit Küche, Bad und Bienenhotel.
Auch unser Konsumverhalten trägt viel dazu bei, ob die Biodiversität gefördert werden kann oder nicht. Gerade auch bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen soll daher auf die Herkunft geachtet werden, betont auch der Schweizer Bauernverband:
«Die Bevölkerung hat einen grossen heben in der Hand. Je mehr besonders nachhaltig produzierte Lebensmittel sie kauft, desto grösser ist der positive Effekt auf die Biodiversität…»
Es zeigt sich also: Auch wenn die alljährlichen Pollenallergie-Schübe keine nette Erinnerung daran sind, dass auch wir mit der Natur verbunden sind und uns nicht rausnehmen können, die Natur, die Biodiversität ist die zentrale Lebensgrundlage, die wir schützen müssen – ob nun aus umweltethischem oder egoistischem Motiv. Denn wir sind nicht alleine auf dieser Welt. Der Homo Sapiens ist nur eine von mindestens 8 Millionen Arten, die es auf dieser Erde gibt. Es ist also an der Zeit sich Gedanken zu machen, wie viel Platz wir für uns in Anspruch nehmen sollen und wie wir uns angemessen gegenüber den anderen Erdbewohner*innen verhalten. Denn auch die Tablette gegen den «Heurühmen» basiert auf pflanzlichen Wirkstoffen…