Femmage an die feministische Literatur

07. Oktober 2024

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Dieser Essay stellt drei Werke in Verbindung, die von, für und über weiblich sozialisierte Menschen geschrieben wurden und erklärt, warum das wichtig ist.

Bild und Illustration: Mara Hofer und Laura Godel

 

An den Wänden unseres Klassenzimmers im Gymnasium hingen Portraits bedeutender Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Es hing dort auch ein Bild einer Frau: Ingeborg Bachmann. Der Rest waren Männer. Das hat mich damals kaum gestört. Ich war an der Literatur interessiert, weniger an den Menschen dahinter. Wie beides zusammenhängt und was es heisst, fast ausschliesslich von Männern verfasste Texte zu lesen, habe ich mir damals nicht überlegt. Ich war fasziniert von den Klassikern und der komisch anmutenden, veralteten Sprache und den vergangenen Lebensrealitäten. Ich begeisterte mich für Gedichte und die Arten, wie man mit der Sprache spielen kann, für die Vielfalt an Darstellungsmöglichkeiten der Welt, im Balanceakt zwischen Realität und Fiktion. Rückblickend überrascht es mich, wie wenig wir im Gymnasium darüber gesprochen haben, dass die meisten Klassiker von Männern geschrieben wurden und was das heisst: nämlich dass ein Teil der Realität nicht abgebildet ist. Erst später habe ich durch die Lektüre von feministischen Texten begonnen darüber nachzudenken, was es für einen Unterschied macht, wer hinter diesen Werken stand und warum. Darüber, wer überhaupt die Möglichkeit hat(te), zu schreiben. Es ist kein neues Thema. In ihrem Essay «A Room of One’s Own» schreibt Virginia Woolf bereits 1928 darüber, weshalb es viel weniger Literatur von Frauen* gibt und was es heisst, als Frau zu schreiben und was es bräuchte, damit (mehr) Frauen schreiben können.

 

Frauen und Literatur

Frauen und Literatur: Das hängt vor allem so zusammen, dass über Frauen geschrieben wird, stellt Woolf fest. Was wäre, wenn Shakespeare ebenso talentierte Schwestern gehabt hätte, fragt sich Woolf. Und kommt zum Schluss: Shakespeares Schwestern hätten heiraten müssen und wäre nicht gefördert worden, weil man an Frauen und Männer unterschiedliche Erwartungen stellte. Sie wäre nicht nur nicht ermutigt worden, zu schreiben, sondern aktiv daran gehindert. Dass Frauen weniger schreiben, folgert Woolf, hängt vielmehr damit zusammen, dass sie die Möglichkeit nicht haben, als dass sie es nicht wollten oder könnten. Nebst gesellschaftlicher Akzeptanz bräuchten sie ein Zimmer, um ungestört arbeiten zu können und Geld. Schreiben setzt intellektuelle Freiheit voraus und diese bedingt materielle Sicherheit.

 

Schreiben setzt intellektuelle Freiheit voraus und diese bedingt materielle Sicherheit.

 

Knappe 50 Jahre später griff Verena Stefan – die übrigens dasselbe Gymnasium besuchte, wie ich – die Überlegungen von Virginia Woolf auf. Ihr Roman «Häutungen» prägte damals als «Bibel der Frauenbewegung» die zweite feministische Welle. Es war die Zeit, in der plötzlich immer mehr Frauen schrieben und sich zusammenschlossen. Und dabei auch die Normen, worüber geschrieben wird, herausforderten. Im Prolog schreibt Stefan:

«Der Unterricht war klassisch. Danach, nach 1868, rief die Linke den Tod der bürgerlichen Literatur aus. […] Und gemeinsam mit anderen Frauen stellte ich fest, wie ausgehungert wir waren, in welcher Mangelsituation wir lebten. Wir wollten vorkommen, als Subjekte, nicht als die Beschriebenen aus männlicher Sicht. Wir wollten wissen, dass Virginia Woolf schon 1928 überlegt hatte, was es für die moderne Literatur bedeutete, wenn in einem Buch zu lesen wäre: Chloe liebte Olivia. Oder dass in einem Roman von Doris Lessing die Protagonistin darüber nachdachte, ob eine menstruierende Frau in einem Buch vorkommen dürfe oder nicht.»

Verena Stefan sucht in «Häutungen» Ausflucht aus patriarchalen Geschlechterrollen. Sie will schreiben, nicht nur einfach so, sondern als Frau. Über den Mythos der Liebe und das Frausein und das Freisein als Frau. Doch wie soll das überhaupt gehen, mit Begriffen, die nicht dafür vorgesehen sind, fragt sie sich. Wenn sie über Intimität schreibt, beschliesst sie deshalb wissenschaftliche Wörter zu verwenden. Alle gängigen Ausdrücke – wie bohren, stechen, reinjagen etc. – sind ihr zu brutal und frauenverachtend. Stefan macht sich Gedanken zu Herrschaftsverhältnissen im Privaten:

«Sie fragten nicht, ob ich mitkommen wollte. Es war klar, dass ich wie immer als Samuels freundin im raum gesessen und nichts zum gespräch beigetragen hätte. Mit mir schlief er. Sprechen denken diskutieren erforschen – das geschah mit anderen. Die alte trennung war nicht aufgehoben.»

Für ihre Erfahrungen als Frau findet Stefan eine neue Sprache, eine andere Sprache, eine eigene Sprache – bis auf Namen und Satzanfänge schreibt sie alles klein. Und auch über ihren Erfolg und die folgende Depression schreibt sie: darüber, was es mit einer macht, von der Öffentlichkeit bewertet, verschlungen, verdaut und wieder ausgestossen zu werden. Und aus diesen Erfahrungen heraus schliesst sie: «Es scheint, jede Schriftstellerin braucht heute nicht nur ein Zimmer für sich allein, sondern viele brauchen einen Raum zusammen.» Einen Schutzraum, einen Raum, um sich auszutauschen.

 

Ein Raum zusammen

Das fand ich einen spannenden Gedanken. Daran habe ich gedacht, als ich kürzlich den Kollektivroman «wir kommen» las, der in Woolfs und Stefans Tradition der feministischen Literatur steht, aber etwas komplett Neues ist: nämlich ein gemeinsamer Raum. 18 Autor*innen sind darin miteinander in Dialog getreten, haben einander Fragen gestellt, Erlebnisse erzählt und Dinge ausdiskutiert. Es geht um (sexualisierte) Gewalt, Sexualität, Liebe und das Verhältnis zum eigenen Körper. Im Zentrum die Frage: Was ist weibliches Begehren – und wie schreibt man darüber?

Lustig, locker. Direkt. Nüchtern und ernüchternd. Roh. Und anonym. Anhand von Eigenheiten im Schreibstil kann man erahnen, dass es sich bei diesem und jenem Textausschnitt um ein Produkt derselben Person handelt. Man ist sich aber nie sicher, wer am Schluss was geschrieben hat. Das ist spannend, finde ich. Und auch verständlich. Es bietet einen Schutzraum. Ein anonymer Kollektivroman ist heute vielleicht das Pendant dazu, dass Frauen früher unter Pseudonym veröffentlichten, um ernst genommen zu werden. Anonym zu schreiben, macht es möglich, ehrlich(er) zu sein. Denn die Anonymität schützt auch vor der Öffentlichkeit. Schon nur das Beispiel von Verena Stefan zeigt, dass die öffentliche (Be)Wertung von Texten einen grossen Einfluss auf Autor*innen haben kann. Und wenn man über private Dinge schreibt, geht das zusätzlich nah.

Die Entscheidung provoziert aber auch. Der Kollektivroman wurde am 14. Mai 2024 im Literaturclub von SRF besprochen. Die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Elke Heidenreich fand, die Texte in dem Buch seien keine Literatur. Und dass darüber anonym geschrieben wird, versteht Heidenreich erst recht nicht. Vor allem aber nicht, dass über solche Themen geschrieben wird. Das allein zeigt, wie wichtig solche Texte heute (immer noch) sind. Sie greifen Tabu-Themen auf, die im klassischen Literatur-Kanon kaum vorkommen und deshalb einen schweren Stand haben. Und sie machen nachdenklich darüber, wie wir zu anderen Menschen in Beziehung treten. Was für Wörter, was für eine Sprache wir verwenden und welche Muster wir wiederholen.

Und vielleicht spielt es am Ende auch nicht so eine grosse Rolle, wer die einzelnen Personen sind, die die verschiedenen Texte im Kollektivroman geschrieben haben. Denn sie erzählen in erster Linie von ihren Erfahrungen als weiblich sozialisierte Menschen, von Erfahrungen, die auch andere machen. Die Schreibenden sind deshalb in gewisser Weise austauschbar – sie sind wir alle*. Und das ist auch etwas, was gute Literatur ausmacht: Dass man sich in sie hineinversetzen kann.

 


*Das Wort «Frau» kommt in diesem Text vor, wenn ich Inhalt paraphrasiere, in dem dieses Wort verwendet wird. Ich verstehe Geschlecht als soziales Konstrukt. Deshalb verwende ich weiter unten den Ausdruck «weiblich sozialisierte Menschen». 

*Menschen, die weiblich sozialisiert aufgewachsen sind.

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