Eine Lobeshymne auf den Frühling

09. März 2025

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Lieber Frühling

Heute Morgen habe ich das Fenster geöffnet und ganz plötzlich warst du da. Einfach so, ganz selbstverständlich, als wäre nicht ein Jahr vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie eine alte Freundin hast du mich empfangen, mit offenen Armen. Ich weiss, dass du jedes Jahr wiederkommen wirst, und dennoch fühlt es sich jeden Februar so an, als würde der Winter nie enden. Bis ich das Fenster öffne und höre, dass sie mit dir zurückgekehrt sind: die Amsel, die Kohlmeise und die Taube im Baum vor meinem Fenster.

Ich mag alle Jahreszeiten, sage ich und denke, aber den Frühling mag ich ein klein wenig lieber. Ich bin froh, an einem Ort mit vier Jahreszeiten zu leben. Wenn etwas Beständigkeit hat, dann ist es der Lauf des Jahres. Egal, was kommen mag, der Frühling wird immer wieder da sein und mit dir neues Licht, neues Grün an den Bäumen, neue Möglichkeiten: Zeit für einen Neuanfang. Neujahrsvorsätze gelten für mich nicht im Januar, sondern erst ab März. In der Kälte des Winters kann die Natur nicht neu beginnen, warum sollte ich es dann tun?

Zugegeben, ich romantisiere gerne, doch was gibt es schöneres, als das erste Mal ohne Schal aus dem Haus zu können, die ersten Sommersprossen im Gesicht, die ersten Schneeglöckchen, die sich wie tapfere kleine Kriegerinnen aus den Schneeresten am Strassenrand kämpfen? Beim Käfele endlich wieder draussen zu sitzen, ohne sich die Finger abzufrieren, endlich wieder die Jeansjacke aus dem Schrank zu holen, endlich wieder Farbe auf den Wangen und im Garten und in der Obstauslage.

Es ist Frühling, mach das Fenster auf! Es ist Frühling, lass die Sonne in dein Zimmer!

Es ist Frühling, alles wird gut.

Die Welt fühlt sich wieder an wie ein Gedicht von Mary Oliver und ich bin endlich wieder ich. Lieber Frühling, hat dir schon einmal jemand gesagt, wie wunderbar du bist? Ich will es immer und immer wieder sagen, bis die Worte sich in meinem Kopf im Kreis drehen. Bis die Leute um mich herum es nicht mehr hören können, wie froh ich darüber bin, dass du wieder da bist. Ich bin ein Frühlingskind, was soll ich machen?

Ich mag dich so gern und ich hoffe, du weisst, wie gut du nicht nur den Tieren und Pflanzen, sondern auch uns Menschen tust (nur den Heuschnupfen, den könntest du sein lassen). So viele übersehen dich, in ihrer freudigen Erwartung auf den freien heissen Sommer mit seinen langen Nächten und Tagen, doch mir bist du viel lieber. Ich atme schon jetzt mit jeder Minute auf, die der Tag länger wird.

Danke, dass es dich gibt!

Ich umarme dich zurück,
Tabea

 

Text: Tabea Geissmann

Illustration: Lisa Linder​

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