Du bist du, ich bin ich: Über Vereinfachungen und Komplexitäten
Identitätskrise, Identitätsfindung oder Identitätspolitik: Wie wir andere und uns selbst wahrnehmen, ist ein Trendthema. Ab wann entstehen jedoch Stereotypen und Vorurteile, wieso nutzen wir diese überhaupt und wie können wir uns von diesen Denkmustern emanzipieren? Diesen Fragen gehen unsere Autorinnen auf den Grund.
Bilder: Ilayda Tapali
Illustrationen: Pierina Westermann
«Alle werden immer egoistischer!», sagte mein Onkel am Familienfest. Eine Aussage, die man als junge Person öfter hört, wobei der vorwurfsvolle Unterton nicht zu überhören ist. Doch stimmt es wirklich, dass wir egoistischer und individualistischer werden?
Das kapitalistische Märchen, das die Entfremdung vorspielt, lässt einen glauben, dass Menschen – zumindest im Westen – immer mehr dazu neigen, sich nur noch um «ihren eigenen Garten» zu kümmern. Andererseits rücken Begriffe wie «Identitätspolitik» zunehmend in den Vordergrund. Diese Politik beschäftigt sich mit der Identität von Gruppen und Individuen, wobei die Anerkennung marginalisierter Gruppen und die Bekämpfung von Diskriminierung im Mittelpunkt stehen. Das Gruppengefühl wird durch eine gemeinsame Identität gestärkt.
Ein grosses Problem ist, dass hier zum Teil vereinheitlichende, homogenisierende Prozesse stattfinden, die Stereotype (re)produzieren. Wir alle kennen Stereotype und nutzen sie; emotionale Frauen, chillige Berner, konservative Alte. Diese gehören noch zu den harmloseren. Für marginalisierte Gruppen wird die Etikettierung oft deutlich negativer, mit Begriffen wie dumm, unfähig oder sogar kriminell.
Aus psychologischer Sicht brauchen Menschen Stereotypen vor allem, um die vielen Wahrnehmungen zu reduzieren und so den Alltag einfacher zu verarbeiten. Manchmal helfen uns diese Verallgemeinerungen, da wir damit unbekannte Personen schneller einschätzen können. Dabei können aber individuelle Unterschiede verloren gehen. Ein wichtiges Konzept ist das «Stereotype Content Model». Dieses Modell beschreibt, wie Menschen Stereotype entlang zweier Dimensionen wahrnehmen: der Absicht und der Fähigkeit, diese Absicht umzusetzen. Die Einschätzung erfolgt dabei in vier Kategorien, die bestimmen, welche Emotionen und Reaktionen eine Gruppe oder Person auslösen.
Die erste Kategorie ist die der sympathisch-fähigen: dazu zählen Vorbilder oder Freunde. Die Kategorie sympathisch-unfähig umfasst beispielsweise das traditionelle Rollenbild einer Hausfrau oder ältere Menschen. Reiche Menschen oder die politische Elite fallen in die Gruppe der unsympathisch-fähigen, während Obdachlose oder Kriminelle typische Beispiele für die Kategorie unsympathisch-unfähig sind. Welcher Kategorie wir jemanden zuordnen, bestimmt massgeblich, mit welchen Gefühlen wir dann auf diese Person reagieren.
Stereotype sind Denkmuster, Vorurteile die daraus resultierenden Gefühle und Bewertungen und Diskriminierung zeigt sich im Verhalten. Sympathische, fähige Menschen lösen in uns Stolz und Bewunderung aus, während Personen in der unsympathischen, unfähigen Kategorie die Gefühle Ekel und Wut hervorrufen. Gegenüber sympathischen aber unfähigen Menschen ist man empathisch oder bemitleidend eingestellt und Unsympathische, Fähige wecken in uns Neid oder Missgunst. Diese Kategorisierung von Gefühlen wird im «Stereotype Content Model» gebraucht und ist im echten Leben natürlich nicht immer so anwendbar.
Diskriminierung, welche aus diesen Gefühlen entsteht, kann verschiedene Formen annehmen. Bei direkter Diskriminierung basieren Massnahmen oder Entscheidungen auf explizit diskriminierenden Ungleichbehandlungen, zum Beispiel wenn eine Person aufgrund ihrer nationalen Herkunft nicht angestellt wird.
Indirekte Diskriminierung ist hingegen weniger offensichtlich. Sie liegt vor, wenn Regelungen zwar neutral formuliert sind, aber in der konkreten Anwendung regelmässig bestimmte Personengruppen benachteiligt werden. Zum Beispiel wenn in einem Unternehmen für Teilzeitarbeitende keine Beförderungsmöglichkeiten bestehen und die Teilzeitarbeit vor allem von Frauen ausgeführt wird. Diese Art von Diskriminierung ist schwierig aufzudecken, kann jedoch statistisch belegt werden.
Strukturelle Diskriminierung beschreibt die Benachteiligung marginalisierter Gruppen, welche auf der Organisation der Gesellschaft basiert. Privilegien einzelner Gruppen, die oft auf patriarchalischen, postkolonialen oder homophoben Strukturen beruhen und spezifische Menschen diskriminieren und ausbeuten, werden als gegeben und normal angesehen. Diese Strukturen sind nicht einfach zu erkennen, da sie oft historisch gewachsen sind und von der Gesellschaft entweder nicht wahrgenommen oder als nicht diskriminierend erkannt werden. Menschen mit Behinderungen werden im Arbeitsmarkt beispielsweise durch fehlende Barrierefreiheit und Assistenzleistungen strukturell benachteiligt.
Gesellschaftliche Vorurteile können wie eine selbst erfüllende Prophezeiung wirken.
Stereotypen sind oft nicht wahr oder zumindest nicht vollständig und auf alle zutreffend. Allerdings können gesellschaftliche Vorurteile wie eine selbst erfüllende Prophezeiung wirken. Eine Studie in den USA untersuchte den Stereotyp «Jungs sind in Mathe besser als Mädchen». Es konnte gezeigt werden, dass Mädchen zwar zu den gleichen Leistungen fähig waren wie die Jungen, aber sich deutlich weniger zutrauten, wenn die Erwartungen an ihre Leistung tief waren. Diese Gedanken verursachen Stress und mindern dadurch die notwendige Energie, um die Arbeit tatsächlich zu bewältigen. Stereotypen können Menschen daran hindern, ihre Fähigkeiten voll auszuschöpfen.
Was kann man selbst dagegen tun? Bis zu einem gewissen Grad ist es normal, dass man gewissen Denkmustern und Kategorisierungen verfällt – auch unbewusst. Denn wie schon erwähnt, ist unser Gehirn auch biologisch dazu strukturiert, unser Leben einfacher zu machen, indem wir Informationen schnell einordnen, an gewissen Orten speichern und direkt wieder abrufen können. Dennoch wäre es von Vorteil, wenn wir uns bewusst werden, wann genau und weshalb wir überhaupt in dieses Denken verfallen und was wir aktiv dagegen tun können.
Wir besuchten einen Workshop des Vereins National Coalition Building Institute, dieser setzt sich ein für den Abbau von Vorurteilen, von Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art sowie für Gewaltprävention und konstruktive Konfliktlösung. In ihrem Workshop haben wir genau solche unbewussten sowie auch bewussten Vorurteile, Stereotypen und Identitäten thematisiert, aufgedeckt und spielerisch erkundet. Ein Versuch, solchen kategorisierenden Mustern immer weniger zu verfallen oder sich ihnen wenigstens bewusst zu werden.
Stereotypen können Menschen daran hindern, ihre Fähigkeiten voll auszuschöpfen.
Im Workshop reflektierten wir, was wir mit welchen Personen oder Gruppen verbinden. Schnell wurde uns klar, dass dies nicht eine leichte Aufgabe war. Es ist unangenehm, sich einzugestehen, was für Denkmuster wir in uns tragen. Diese Denkmuster sind gesellschaftliche Prägungen und widerspiegeln oft nicht das eigene Wertesystem. Aber umso wichtiger ist es, diese anzuerkennen und sie somit zu entkräften.
Vorurteile werden oft zum Problem, wenn man sich nicht bewusst ist, wo und wann sie hervorkommen. Wir haben uns gefragt, wie weit unsere Konzepte gehen und wie sie funktionieren. Was bedeutet zum Beispiel Alter für mich? Was assoziiere ich in meinem Wissenskonzept zu diesem Begriff? Mir fallen Wörter ein wie «Weisheit», «Schwäche», «Rentner», «Erfahrung» oder «Langsamkeit». Manche Begriffe sind positiv, andere negativ und einige spiegeln vielleicht Stereotype wider, die man unbewusst mit älteren Menschen verbindet.
Nach der Übung könnte man sich fragen: Warum verbinde ich «Langsamkeit» mit Alter? Gilt das für alle älteren Menschen, die ich kenne? Ist «Schwäche» wirklich typisch oder nur ein Vorurteil, das ich übernommen habe? Was bedeutet «Weisheit» für mich und warum assoziiere ich sie mit Alter? Wenn man diese Begriffe mit jemandem diskutiert, kann man weitere Perspektiven dazu gewinnen. Vielleicht kennt die andere Person ältere Menschen, die sportlicher sind als viele Jüngere, oder sie hat ganz andere Assoziationen zum Thema.
Solche Reflexionen helfen, stereotype Bilder bewusster wahrzunehmen und zu hinterfragen. Es kann vorkommen, dass Stereotype in manchen Fällen auf Einzelpersonen zutreffen, aber sie sollten niemals verallgemeinert werden. Eine andere Vorgehensweise zur Perspektiverweiterung ist der direkte Kontakt zu anderen Menschen und ihren Erfahrungen mit Vorurteilen, Identitäten und Stereotypen. Der Austausch über solche Themen ermöglicht es, neue Sichtweisen kennenzulernen und die eigenen Vorstellungen zu hinterfragen.
Besonders hilfreich sind dabei Workshops oder Veranstaltungen, die ausserhalb des eigenen sozialen Umfelds stattfinden. Solche Begegnungen machen es einfacher, stereotype Annahmen zu überprüfen und abzubauen, weil sie oft ein vielschichtigeres und realistischeres Bild vermitteln als das, was Stereotype nahelegen. Ein Beispiel: Eine Person, die in einer eher homogenen Umgebung aufgewachsen ist, könnte unbewusst glauben, dass Menschen aus einer bestimmten Kultur weniger Wert auf Bildung legen als andere. Solche Annahmen entstehen oft durch einseitige Darstellungen in den Medien oder anderen Quellen aus unserem Alltag. Wenn diese Person aber an einem interkulturellen Kochabend teilnimmt, trifft sie dort vielleicht ein Elternteil, das viel über die akademischen Ziele und Erfolge seiner Kinder erzählt.
Letztlich liegt es an jedem und jeder Einzelnen, durch Reflexion und Dialog stereotype Denkmuster zu durchbrechen und damit sowohl eine offenere und gerechtere Gesellschaft als auch die eigene persönliche Haltung zu fördern.
Solche Begegnungen schaffen ein differenziertes Bild und verdeutlichen, wie wenig solche Stereotype der Realität entsprechen. Ein bewusster Umgang mit diesen Denkmustern ist der erste Schritt, um sie zu erkennen und abzubauen. Letztlich liegt es an jedem und jeder Einzelnen, durch Reflexion und Dialog stereotype Denkmuster zu durchbrechen und damit sowohl eine offenere und gerechtere Gesellschaft als auch die eigene persönliche Haltung zu fördern.