«All unsere Arbeit basiert auf unseren Vorkämpfer* innen»
Das Programm des Feministischen Hochschulkollektivs Bern auf der Grossen Schanze war laut, bunt und fröhlich. Doch die Reden auf der Bühne sorgten für Gänsehaut und die Gespräche an den Informationsständen hatten Tiefgang.
Es ist kurz nach zehn Uhr dreissig, als ich mir im Berner Hauptbahnhof einen Weg durch das Getümmel zu den Aufzügen bahne. Auf der Suche nach der Farbe Violett lasse ich meinen Blick über die Menschen schweifen. Dicht vor mir geht eine grosse Frau. Ein beiger Mantel schmiegt sich an ihren Körper. Neben mir geht eine ältere Frau, ihr Haar silberfarben, ihre Jacke ebenso. An ihrer Hand versucht ein Mädchen, mit ihr Schritt zu halten. Es trägt eine pastellgelbe Regenjacke, ein willkommener Farbtupfer in dem grauen Menschenstrom an diesem regnerischen Freitag. Doch von Violett keine Spur. Während ich in den Aufzug steige und auf die Vier drücke, frage ich mich, ob ich mich im Datum geirrt habe. Gerade als sich die Tür zu schliessen beginnt, schiebt sich ein violetter Ärmel in die Kabine. Also doch noch. Der Ärmel gehört zu einer Frau mittleren Alters, die ihrerseits zu einer Gruppe von Frauen gehört; alle bestens gelaunt und von Kopf bis Fuss in Violett. Jetzt fühle ich mich in meiner knapp als lila durchgehenden Jacke underdressed. Immerhin weiss ich jetzt, dass ich mich nicht im Datum geirrt habe. Es ist Freitag, der 14. Juni – schweizweiter feministischer Streiktag. Ich bin auf dem Weg zur Grossen Schanze, wo das Feministische Hochschulkollektiv Bern den ganzen Tag ein dem Streik gewidmetes Programm durchführt.
Als ich auf den Mittelpavillon des Hauptgebäudes der Universität Bern zugehe, mischt sich ein vertrauter Duft in die kühle Morgenluft: Kaffee. Verursacher*innen des Duftes sind Elena und Emil, die fleissig mit dem Verteilen von Gipfeli und dem Ausschenken von Kaffee beschäftigt sind.
Farbenfroher Bastelspass
Nach einer kleinen Stärkung stürze ich mich in die kunterbunte Welt, in die sich der Vorplatz des Hauptgebäudes über Nacht verwandelt hat. Unter den Linden wird gebastelt, geredet und gelacht. Ich staune, was sich das Feministische Hochschulkollektiv alles hat einfallen lassen. An einem Stand werden Taschen und T-Shirts mit Linol bedruckt, an einem weiteren werden Buttons hergestellt und an einem Dritten gibt es Schmuck zu kaufen. Weiter hinten werden Plakate und Transparente für den Umzug von heute Abend vorbereitet.
Auch die Verzierung des eigenen Körpers kommt nicht zu kurz. Für Make-Up, Nagellack und glitzernde Zahnsteinchen ist gesorgt. Sogar ein neuer Haarschnitt liegt drinnen: Geraldine Scherler zaubert ihren Klient*innen vor Ort neue Frisuren auf den Kopf. Sie bietet zudem in ihrem Salon JULO als patentierte Anwältin Rechtsberatungen an.
Wer eine endgültigere Veränderung braucht als eine neue Frisur, kann sich an einem weiteren Stand ein Tattoo stechen lassen.
Fehlende Sichtbarkeit
Als ich fürs Erste genug von Glitzer und Pailetten habe, gehe ich zum Stand von Checkpoint Bern, einer Gruppierung, die sich für die sexuelle Gesundheit von queeren Personen einsetzt. Matthias und Carolin informieren hier den ganzen Tag über die sexuelle Gesundheit. Die beiden sehen dieses Thema als einen wichtigen Bestandteil feministischer Anliegen. Matthias findet es besonders wünschenswert, dass eine Destigmatisierung von sexuell übertragbaren Krankheiten stattfindet: «Je mehr über die Sexualität gesprochen wird, desto eher besteht auch eine gute sexuelle Gesundheit.» Carolin wünscht sich vor allem mehr Sichtbarkeit von queeren Menschen im Gesundheitssystem. Sie möchte besonders Frauen und queere Menschen dazu ermutigen, selbstbestimmt mit der sexuellen Gesundheit umzugehen und auch bewusst Entscheidungen diesbezüglich zu treffen.
Mehr Sichtbarkeit von Frauen im Gesundheitswesen wünschen sich auch Elisabeth, Olivia und Fabienne, die ich am nächsten Stand treffe. Sie sind Mitglieder von CLASH Bern, einem Verein, der sich gegen Sexismus und Belästigung im Spital- und Unialltag einsetzt. Der Verein gewann letztes Jahr den Prix Lux der Universität Bern. Die SUB-Seiten der bsz berichteten.
Auch im Jahr 2024 sei noch immer stark spürbar, dass die Forschung und Lehre in der Medizin hauptsächlich an Männern ausgerichtet sei, sagt Fabienne. «Die Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern im medizinischen Umfeld ist noch lange nicht erreicht.»
Elisabeth fügt hinzu, dass Frauen in Fallbeispielen oft schlecht oder unvorteilhaft dargestellt werden. Zum Beispiel seien es immer die Frauen, die lediglich hysterisch seien.
Die drei Medizinstudentinnen erzählen mir, dass sie im Gegensatz zu ihren männlichen Kommilitonen in ihrem Uni- und Arbeitsalltag ständig gefragt werden, wie ihre Familienplanung aussehe. Im Anschluss werden sie dann ungefragt darauf hingewiesen, dass das eine oder andere Familienmodell aber nicht mit dem einen oder anderen medizinischen Fachgebiet vereinbar sei. «Und leider haben diese Menschen sogar recht», fügt Elisabeth hinzu. «Frauen müssen sich ihr Fachgebiet tatsächlich nach ihren privaten Wünschen und nicht primär nach ihren Interessen auswählen.» Auch die Care-Arbeit werde im Spitalalltag nach wie vor nicht anerkannt und wer aufsteigen wolle, könne nun mal keine Care-Arbeit leisten.
Queere Bücher und unabhängige Medien
Ein grosser Tisch voller bunter Bücher in allen Formen und Farben zieht als nächstes meine Aufmerksamkeit auf sich. Hinter den Büchern entdecke ich Milena. Sie arbeitet zusammen mit Patrick in der Buchhandlung QueerBooks, die ihren Standort in der Herrengasse in Bern hat und oft Büchertische an Events bedient. Bücher seien ein geeignetes Mittel, um feministische und queere Anliegen zu transportieren, erklärt Milena. Zudem wollen Menschen Bücher lesen, in denen sie sich selbst erkennen. Deshalb sei es wichtig, dass queere Personen und Frauen Autor*innen und vor allem Protagonist*innen von Büchern seien. Wenn solche Bücher dann einen Buchpreis gewinnen, erlangen feministische und queere Anliegen Aufmerksamkeit weit bis in Kreise hinein, die sich sonst nicht mit diesen Themen befassen.
Repräsentativität ist auch ein Kernanliegen von Merita Shabani, der stellvertretenden Chefredakteurin von Baba News, die ich am nächsten Stand kennenlerne. Es sei wichtig, dass Anliegen aller Frauen in Medien und der öffentlichen Diskussion mitgedacht werden, betont sie. «Frauen mit Migrationshintergrund sind oft von unterschiedlichen Diskriminierungsformen gleichzeitig betroffen», so Shabani. Medien müssen sich dieser Intersektionalität bewusst sein und sie aufgreifen. Shabani erklärt mir, dass antirassistische und feministische Arbeit viel gemeinsam haben. Baba News habe es sich zur Aufgabe gemacht, unabhängigen Journalismus zu betreiben und damit Diskriminierung aller Art entgegenzuwirken.
Kurz nach dem 14. Juni gibt Baba News einen Content-Stopp bekannt. Es fehle dem Medium an finanziellen Mitteln. Member zu generieren sei momentan die nachhaltigste Finanzierungsquelle, so baba news auf ihrer Webseite. Nichtsdestotrotz seien sie mit Hochdruck daran, neue Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen und auszuschöpfen.
Ein «safer space» für alle
Neben der Hauptbühne entdecke ich zwei Personen in leuchtend violetten Westen. Ihrer Rolle am heutigen Tag wollte ich schon eine Weile auf den Grund gehen. Nora und Marc erklären mir, dass sie zum Awareness-Team gehören. Ihre Aufgabe sei es, sicherzustellen, dass sich alle Besuchenden wohl fühlen. Es solle ein «safer space» entstehen, erzählen sie mir. Die gesellschaftliche Stimmung bezüglich der Rechte von Frauen und queeren Menschen sei aufgeladen, gibt Marc zu bedenken. Daher sei die Anwesenheit des Awareness-Teams an einem solchen Anlass wichtig.
Zum konkreten Vorgehen im Ernstfall erklärt Nora, die Deutungshoheit der Situation liege stets bei der betroffenen Person, die sich an das Awareness-Team wende. Das Awareness-Team sei gerade nicht unparteiisch, sondern stets auf der Seite der erfahrenden Person.
Auf den Ausschank von Alkohol hat das Organisationskomitee (OK) bewusst verzichtet, um Auseinandersetzungen vorzubeugen. Für den Fall, dass sich eine Person trotzdem daneben benimmt und beispielsweise Gewalt anwendet, bekommt das Awareness-Team Unterstützung von Taktvoll, einem Sicherheitsdienst.
Langsam wird mir bewusst, wie sorgfältig das Feministische Hochschulkollektiv den heutigen Tag geplant hat. Alle Eventualitäten sind abgedeckt, denn nebst dem Awareness-Team und dem Sicherheitsdienst sind auch Sanitäter*innen vor Ort und es gibt einen Rückzugsraum für Personen, denen es nicht gut geht. Alle Reden werden von einer Gebärdensprachdolmetscherin simultan übersetzt und auch Übersetzungen auf Französisch und Englisch sind vorhanden.
SUB steht hinter Forderungen
Nach den vielen spannenden Gesprächen tut sich auch auf der Bühne etwas. Das Feministische Hochschulkollektiv stellt, vertreten durch Ariana, Christina und Elena, seine Forderungen an die Bernischen Hochschulen vor.
Grob umfassen diese [1]:
1) Vereinbarkeit: Die Hochschulen sollen Massnahmen für inklusive Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Studium, Care-, Lohn- und Freiwilligenarbeit schaffen.
2) Chancengleichheit und Barrierefreiheit: Menschen ohne akademischen Hintergrund, rassifizierte Menschen, Menschen mit Migrationserfahrung, religiöse Minderheiten, queere Menschen, Menschen mit wenig finanziellen Mitteln, Menschen mit psychischer oder physischer Beeinträchtigung und neurodivergenten Menschen soll Zugang zu und Chancengleichheit an Hochschulen gewährt werden. Zudem sollen Hochschulen inklusive Infrastruktur für marginalisierte Gruppen bereitstellen.
3) Gleichstellung: Hochschulen sollen TINFA*-Personen [2] in der Wissenschaft fördern, beispielsweise mit einer TINFA*-Quote von 50 Prozent bei den Professuren und Dozenturen und einer angemessenen Vertretung in Führungspositionen.
4) Hochschulen frei von Diskriminierung und Belästigung: Die Hochschulen sollen umfassende Massnahmen für eine Hochschule frei von Ableismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, Queer-Feindlichkeit, Rassismus, Sexismus, sexualisierter Gewalt und sämtlichen weiteren Diskriminierungsformen treffen.
5) Diskriminierungsfreie Sprache: An den Hochschulen soll eine konsequent geschlechtergerechte, antirassistische, nicht-ableistische Sprache verwendet werden.
6) Anerkennung der Intersektionalität: Hochschulen sollen anerkennen, dass Menschen gleichzeitig von verschiedenen Diskriminierungskategorien betroffen sein können. Zudem sollen die Hochschulen den respektvollen und wertschätzenden Umgang mit allen Menschen garantieren. Intersektionale Grundsätze sollen in Lehre, Forschung, Wissenschaftskommunikation und Politikberatung berücksichtigt werden.
Die SUB stellt sich vollumfänglich hinter diese Forderungen, wie sie in einer Medienmitteilung Ende Mai bekannt gegeben hat.
Die Forderungen des Kollektivs werden später an Hugues Abriel, Vizerektor Forschung und Innovation der Universität Bern, übergeben. Dieser bringt vor, die Forderungen seien bereits weitgehend in Guidelines und Leitfäden der Universität übernommen worden. Schliesslich gibt er aber doch zu, dass es bis zur Umsetzung der Forderungen in die Praxis noch ein langer Weg sei.
Es folgt eine kraftvolle Rede von Anukriti Dixit, einer fortgeschrittenen Postdoktorandin am interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern. Die renommierte Wissenschaftlerin betont insbesondere die Wichtigkeit der Berücksichtigung von Intersektionalität.
Gute Musik und weise Worte
Nach den bewegenden Reden, die mehr als einmal für Gänsehaut sorgten, freue ich mich darauf, bei guter Musik ein wenig die Seele baumeln zu lassen. Und ich werde nicht enttäuscht: Nikko und empress piru sorgen für gute Stimmung. Der leichte Regen, der allmählich einsetzt, tut der schönen Atmosphäre keinen Abbruch.
Im Anschluss sorgen Slam Poetry-Auftritte für Unterhaltung. Der eine oder andere trockene Scherz ist zwar dabei, das Lachen bleibt mir angesichts der ernsten Thematik dann aber doch im Hals stecken.
Den krönenden Abschluss des Programms auf der Grossen Schanze machen Pia Portmann und Valentina Achermann. Die beiden reden über ihre Vergangenheit als SUB-Vorständinnen, über die Bedeutungen von Freund*innenschaften und über die Anerkennung der Leistungen ihrer Vorgängerinnen. «All unsere Arbeit basiert auf unseren Vorkämpfer*innen», so Achermann, Berner Stadtratspräsidentin (SP). Ihre Dankbarkeit für die Beziehungen zu ihren Mitmenschen drücken die beiden in der Form einer Liebeserklärung aus, die auf Jubel und Zustimmung aus dem Publikum stösst: «Wir lieben die Freundin, die uns nach einem Übergriff versichert, dass es nicht unsere Schuld war. Wir lieben die Therapeutin, die uns darin bestärkt, für unsere Grenzen einzustehen. Wir lieben das Familienmitglied, das uns zum Schwangerschaftsabbruch begleitet und uns die Hand hält», und so weiter. Die Liste ist endlos.
Nach der Rede der beiden ehemaligen SUB-Vorständinnen strömen die Besucher*innen in Richtung Schützenmatte, zum Treffpunkt für den Umzug des feministischen Streiks. Nach 18 Uhr ziehen tausende Menschen durch Berns Strassen und fordern gleiche Rechte für alle. Ein schöner Abschluss eines rundum gelungenen Tages.
Positive Bilanz trotz Regen
Einige Tage später treffe ich mich mit Mara, um die Geschehnisse des 14. Juni einzuordnen. Mara ist zusammen mit drei anderen Personen Teil des OK des Programms des Feministischen Hochschulkollektives auf der Grossen Schanze. Insgesamt waren zwischen zehn und fünfzehn Personen an der Organisation und Umsetzung dieses Tages aktiv beteiligt. Der Aufwand, der im Vorfeld eines solchen Events anfalle, sei enorm, erzählt Mara. Allein damit, alle Bewilligungen einzuholen, habe das OK Stunden verbracht.
«Mit dem Programm und der Organisation bin ich sehr zufrieden. Nur, dass es immer wieder geregnet hat, war nach all dem Aufwand eine Enttäuschung», sagt Mara, als ich sie nach ihrer Bilanz der Veranstaltung frage.
Ob es diesen Tag nächstes Jahr in der gleichen Form wieder geben wird, sei noch nicht klar. Das Feministische Hochschulkollektiv bleibe aber bestehen, denn feministische Anliegen sollten nicht nur breit in der Bevölkerung diskutiert werden, sondern auch spezifisch in den einzelnen Organisationen und Institutionen, wie zum Beispiel an Hochschulen.
Zu tun gibt es an den Berner Hochschulen hinsichtlich Gleichstellung noch jede Menge, findet Mara. «In der Wissenschaft besteht ein riesiger Wettbewerb. Fällt eine Frau aus familiären Gründen eine Zeit lang aus, ist sie gegenüber ihren männlichen Kollegen direkt im Nachteil», gibt Mara zu bedenken.
Zudem stören Mara die infrastrukturellen Mängel, welche der Gleichstellung nonbinärer Personen an der Universität Bern entgegenstünden. So werde beispielsweise die Geschlechtsidentität auf der Legitimationskarte nur binär erfasst und es fehle weitgehend an genderneutralen Toiletten. Auch die Gleichstellung anderer marginalisierter Personen sei noch lange nicht erreicht.
[1] Die Forderungen im Detail findest du auf www.sub.unibe.ch.
[2] TINFA* steht für trans, intergeschlechtliche, nichtbinäre Menschen, Frauen und agender Personen. Das Sternchen schliesst zudem alle Menschen mit ein, die sich nicht mit den genannten Begriffen ausserhalb des binären Geschlechtssystems identifizieren.
text und bilder: noëlle schneider
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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #37 September 2024
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