Stille Wasser sind deep

In Elif Shafaks neuestem Roman vermischen sich drei Schicksale auf unerwartete Weise und offenbaren währenddessen die unterschiedlichsten Formen von Wasser, was sich bei Weitem nicht nur auf die Aggregatzustände beschränkt.
Eine Buchrezension.
Die Idee, verschiedene Leben miteinander zu verflechten und daraus eine Geschichte zu machen, ist nicht neu. Wer den Film Cloud Atlas gesehen und das Game GTA V gespielt hat, wird dieses Prinzip bereits kennen. Jedoch wurde dies vorher selten auf solch eine gekonnte und vielseitige Art umgesetzt wie im neusten Roman von Elif Shafak. «Am Himmel die Flüsse» (Original: There are Rivers in the Sky) ist eine einmalige Gelegenheit, sich von einer Geschichte mitreisen zu lassen.
Auch die Lebensgeschichte von Elif Shafak ist bemerkenswert. Sie ist eine britisch-türkische Autorin, die bereits immensen Erfolg hatte und sich in London niedergelassen hat. Obwohl sie die Türkei immer noch tief im Herzen trägt, hat sie dieses Exil freiwillig gewählt, da sie fürchtet, dort nicht frei schreiben zu können. Auch die Themen in ihrem neuesten Buch (wie Bisexualität, Kritik an der türkischen Regierung etc.) würden wohl sehr kritisch beäugt werden. Dies zwingt Elif Shafak nun ausserhalb der Türkei gegen den Strom zu schwimmen und ihre Meinung zu vertreten.
Mehrdeutigkeiten sind keine Seltenheit in ihren literarischen Werken. Wenn Elif Shafak also von «fliegenden Flüssen» schreibt, meint sie damit nicht nur die unsichtbaren, gigantischen Wassermassen, die im Amazonas in Form von Wasserdampf durch die Luft strömen. Der Begriff geht für sie weit über dieses Naturspektakel hinaus.
Wasser als Leitmotiv
Das zentrale Element in ihrem Buch ist Wasser. Es fliesst in Form verschiedener Anspielungen und Metaphern in die Geschichte ein. Es prägt, ermöglicht, erschwert, streift und beeinflusst die Leben der Romanfiguren, wie es das auch mit jedem anderen Leben auf dieser Erde macht. Shafak setzt Wasser als verbindendes Element in Szene: Ein einzelner Wassertropfen, der durch den Strom der Zeit fliesst, kommt im Verlauf der Geschichte mit den Leben der drei Hauptfiguren in Kontakt und schafft so eine Verbindung zwischen Wegen, die sowohl zeitlich als auch geographisch voneinander getrennt zu sein scheinen. Immer und immer wieder wird das Motiv des Wassers aufgegriffen. Ganz nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Arthur, Zaleekhah und Narin
Der erste Lebensweg ist der von Arthur. Er wird im 19. Jahrhundert an der Themse in die Londoner Unterschicht geboren. Wasser begleitet ihn von Anfang an: Eine vom Himmel fallende Schneeflocke mischt sich in die erste Muttermilch, die er trinkt. Von diesem Moment an schmeckt Schnee für ihn wie Muttermilch.
Im Verlauf der Geschichte findet Arthur seinen Weg zu einer Ausgrabungsstätte einer uralten Stadt: Ninive. Es ist seine unermüdliche Suche nach einer schriftlichen Überlieferung der Sintflut, die ihn ins Zweistromland führt. Dort begegnet er während seinen Ausgrabungen den Jesiden und lernt sie lieben.
Parallel dazu begleiten wir ca. 150 Jahre später Zaleekhah nach ihrer Trennung von ihrem Mann in ihrem neuen Leben auf einem Hausboot auf der Themse. Zaleekhah ist eine Hydrologin, die von der Idee fasziniert ist, dass Wasser ein Gedächtnis hat. Jedoch führen ihre Scheidung und latente Suizidgedanken dazu, dass sie sich auf das Hausboot zurückzieht und ihr Forscherdrang in den Hintergrund rückt.
Das dritte Schicksal in Shafaks Buch, das mit dem von Arthur und Zaleekhah verwoben wird, ist das der acht-jährigen Jesidin Narin, die 2014 in der Türkei mit ihrer Grossmutter wohnt und aufgrund einer Krankheit befürchten muss, bald taub zu werden.
Ihre Grossmutter prägt Narins Leben massgeblich. Denn die sogenannte Rutengängerin behauptet, dass die beiden Flüsse Euphrat und Tigris zu ihr sprechen und ihr Geheimnisse offenbaren würden.
Gelungenes und weniger Gelungenes
Diese drei in unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten stattfindenden Leben verbindet Shafak so, dass sich eine kohärente Geschichte daraus ergibt. Das Wasser als Mittel, diese Kohärenz herzustellen, wird dabei kunstvoll und vielseitig dargestellt. Über Tränen, unterirdische Flüsse in London und Fruchtwasser kommt das Buch immer wieder auf die Quelle allen Lebens zurück und stellt so auch eine Hommage an das Element Wasser dar. Es werden sowohl lebenspendende Wasserflaschen als auch die tödliche Gewalt von Flutwasser thematisiert. Diese kreative Art, H2O in den verschiedensten Facetten wiederzugeben überzeugt und offenbart, wie sehr sich Elif Shafak mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Hervorragende Textstellen gibt es im Überfluss. Zum Beispiel diejenige, in der Arthurs Ankunft in Konstantinopel beschrieben wird:
«Eine Welle brandet an den Kai und spritzt Arthurs Gesicht nass. Ihn überfällt die Erinnerung an einen eisigen Tag, der so lange vergangen ist, dass es auch nur ein Traum gewesen sein könnte, an den Geschmack von Schnee auf seiner Zunge, an das goldblonde Haar seiner Mutter vor dem trübgrauen Himmel. Die Vision – denn es fühlt sich an wie eine Vision – verschwindet ebenso schnell, wie sie gekommen ist. Arthur wischt sich übers Gesicht und läuft dem Gepäckträger nach. Er weiss es natürlich nicht, doch der salzige Willkommensgruss in Konstantinopel an diesem Nachmittag des Jahres 1872 und die Schneeflocke, die 1840 in London in seinem Säuglingsmund schmolz, sind ein und dasselbe.»
Hier wird die verbindende Bedeutung von Wasser sehr schön versinnbildlicht und zeigt den Lesenden, wie weit es eine kleine Schneeflocke bringen kann. Man freut sich beim Lesen immer wieder darauf, das Wasser in verschiedenen Formen anzutreffen, als würde man einen guten Freund wiedersehen. Diese Art und Weise, Wasser als reisendes Element wahrzunehmen, war mir neu und hat mich beeindruckt. Dies verleiht dem Buch eine mystische Stimmung, die auch immer wieder von Narins Grossmutter verkörpert wird.
Leider münden manche Passagen aber auch in wenig sagenden und künstlich wirkenden Dialogen, die nur für die Lesenden interessant scheinen und die Gesprächspartner*innen in der Geschichte gelangweilt haben müssen. Besonders auffällig wird dies in einem Gespräch zwischen Narins Vater und dessen Bruder über sich und die Geschichte der Jesiden. Beiden sind alle Eckpunkte bekannt, aber sie erzählen sich dennoch ihre halbe Lebensgeschichte und heben die Schwierigkeiten ihres Lebens als Jesiden hervor. Hier hätte man das Prinzip «Show, don’t tell» stärker einbringen können. Auch die Handlung von Zaleekhahs Geschichte, die sich während ihrer Scheidung in eine Frau verliebt, lässt sich bereits ab dem ersten Treffen der zwei Frauen voraussehen, kommt dann wenig überraschend und enttäuscht deshalb ein wenig. Wenn man einfache Geschichten mag, die sich langsam entwickeln und die Lesenden sicher an ein bekanntes Ziel bringen, ist dieser Handlungsstrang genau das Richtige. Für alle anderen eher weniger. Trotzdem vermag es Elif Shafak durch gekonnte Erzählkunst die Lesenden dazu zu bringen, über diese Stolpersteine hinwegzusehen. Ihren drei Hauptfiguren haucht sie Leben ein und zieht die Lesenden damit in ihren Bann.
Das Buch liest sich sehr flüssig und jede Romanfigur kommt abwechselnd und in einem angenehmen Rhythmus zu Wort. Elif Shafak findet eine gute Balance zwischen Dialogen und Beschreibungen, ohne die Leselust zu beeinträchtigen. Sobald wir etwas Interessantes über ein Leben erfahren, springen wir schon wieder zum nächsten und bleiben auf diese Art motiviert weiterzulesen. Die Symbolik von Wasser ist mystisch, magisch und schwer einzuordnen. Es würde dem Ganzen auch nicht gerecht, die Bedeutung von Wasser mit einem einzigen Wort beschreiben zu wollen. Jeder Lebensweg der Romanfiguren ist einzigartig, wobei derjenige von Arthur jedoch am interessantesten wirkt, wohl auch da er sich von London bis nach Ninive, vom Buchdrucker bis zum Archäologen, von der Geburt bis zum Tod erstreckt.
Das Buch endet mit den treffenden Worten: «Könnten wir die Erde mit den Augen eines Kindes betrachten, das unschuldig staunend aufblickt, könnten wir die Flüsse am Himmel sehen. Mächtige Ströme, die nie versiegen.» Und so bleibt einem nicht viel mehr übrig, als zu hoffen, dass auch ihr literarisches Talent ein Strom ist, der nie versiegt.
Text: Jannick Teixeira
Illustrationen: Lisa Linder