Vorurteile entknoten

21. Dezember 2023

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An einem stinknormalen Znacht bei Freunden stiess unsere Autorin auf Begeisterte der Shibari-Praktik und fragte sich: Wie entknotet man eigene Vorurteile und wo findet man Antworten auf Fragen zu dieser fesselnden kinky Vorliebe? Sie traf Leute der Szene und lernte etwas über die wichtigsten Regeln und das Gefühl von Seilen auf der nackten Haut.

 

Text: Lisa Linder
Fotos: Kuroki / Lisa Linder / Jonas Straub / Laura Zihlmann

 

Peitschen, Handschellen, Seile und schwarzes Leder – woran denkst du?

Um einen Western geht es hier jedenfalls nicht. Und eigentlich interessiert auch nur eines der genannten Accessoires: die Seile. Sie sind das zentrale Werkzeug der Shibari-Praktiker*innen. Die Fesselkunst Shibari hat japanische Wurzeln und eine gewaltvolle und gleichzeitig soziologisch spannende Geschichte. Doch fangen wir ganz vorne an…

Die japanische Seilkunst, die als Shibari bekannt ist, war ursprünglich eine Fesselkunst japanischer Krieger. In den 1960er Jahren wurden diese Fesseltechniken als Kunstform wiederentdeckt und fanden in japanischen Underground-Clubs Einzug in Erotikshows.

Letztens sass ich bei einer Freundin zum «Znacht» und eine der Eingeladenen sprach sehr offen über ihr neu entdecktes Hobby: Leute mit Seilen auf kunstvolle Weise zu fesseln. Dabei hänge sie auch ab und an in eher unkonventionellen Positionen von der Decke.

So erfuhr ich von Shibari, dieser japanischen Seilkunst, die einigen von euch vielleicht als «kinky»-Praktik bekannt ist. Doch wie «kinky» ist die Praktik wirklich und was steckt noch dahinter? Nach einigem Rumfragen und Nachhaken fand ich zwei Leute, die mir einen Einblick in die Welt der Berner Shibari-Community geben konnten, Kuroki und Amber.

Die Community
Kuroki und Amber haben sich auf Fetlife kennengelernt, einer Webseite für Fetisch-Begeisterte. Dort fände man alle möglichen Vorlieben, hat ein Profil mit Künstler*innennamen, beschreibt seine Interessen und kann chatten, erklärt mir Amber. Sie vereinbarten eine erste Begegnung und aus der gemeinsamen Faszination für die Fesselkunst entstand eine Freundschaft.

Doch natürlich bestehe bei Internetbekanntschaften immer ein gewisses Risiko, meint Amber. Das Risiko, dass sich die Person hinter dem Künstler*innennamen als anders denn erwartet entpuppt. Dafür gibt es den Stammtisch1. Dort diskutiert man nicht etwa (nur) über den letzten FC-Match und die Wahlen, sondern man trifft sich dort insbesondere, um die Menschen der Community in echt kennenzulernen.

Die BDSM-Stammtischkultur sei sehr wichtig, erklärt Amber, gerade für Personen, die noch unsicher sind und sich noch nicht lange ihrer «kinky»-Seite bewusst seien. Für sie sei es eine sichere Möglichkeit, mit erfahrenen Leuten aus der Szene in Kontakt zu kommen.

Es wird über Erfahrungen gesprochen, auch über negative. Bei Unsicherheiten oder auch Vorbehalten gegenüber den «Partys» können sich Neuzugänger*innen Tipps geben lassen. Die Partys seien ebenfalls eine Möglichkeit mit Leuten, die den gleichen Fetisch hätten, in Kontakt zu kommen und einen Abend zu verbringen. Ob man dort wirklich Leute kennenlerne, die man dann auch ausserhalb treffen würde, sei unterschiedlich, so Amber.

Es ist ein einzigartiges Gefühl gefesselt zu werden, aber auch zu fesseln.

 

Die Vorliebe für das Seil
Die “kinky” Community in Bern ist noch ziemlich jung und sowohl in Bern, wie auch schweizweit, eher klein. Mittlerweile thematisieren zwar Veranstaltungen wie die “Porny Days” in Zürich kinky Vorlieben (ein Shibari-Workshop war geplant, wurde aber abgesagt), doch für einen ersten Kontakt mit der Praktik gab es vor ein paar Jahren noch kaum Möglichkeiten. Amber hat ihre Faszination für das Fesseln in New York entdeckt: «Ich war an so einem Workshop zu BDSM und dachte mir, ‹Das hat ja nichts mit mir zu tun, aber ok, ich schau mal rein› und dann war das plötzlich sehr spannend.

Ein Mann hat eine Frau mit einem Seil gefesselt und ich dachte mir ‹jaja, jetzt kommt so dieses klare Submissive vs. Domina-Spiel› aber dann konnte die Frau das ganz anders geniessen, als ich es erwartet hätte, das brachte mich zum Nachdenken.» Kuroki dagegen war schon immer fasziniert von der japanischen Kultur und hatte früh für sich entdeckt, dass BDSM verschiedene Ebenen haben kann. Er habe viel ausprobiert, aber das Seil habe er schliesslich besonders für sich entdeckt.

Klar, es könne einerseits ein Hilfsmittel für eine BDSM-Praktik sein, um Leute zu fesseln und dann mit ihnen Sex zu haben, das müsse es aber nicht sein. Ihn fasziniere wirklich die Kunst des Fesselns, die richtigen Knoten an den richtigen Stellen zu binden und das Gefühl allein, dass es bei einem selbst, aber auch bei deinem Gegenüber auslösen kann, wenn gefesselt wird.

Es ist fast wie ine Rausch, danach fühlt man sihc komplett gelöst und spürt den ganzen Körper neu.

 

Dieses einzigartige Gefühl beschreibt auch Amber als den besonderen Kick der Seile: «Das Gefühl des Seils auf der Haut ist das eine, aber dann auch dieses «Sich-einfach-loslassen»-können.» Die Umarmung der Seile, beschreibt sie es weiter, sei etwas, dass man sich selbst, aber auch anderen schenken könne, und fordere Vertrauen. Gibt man sich jemandem so hin, dass diese Person dich in den kompliziertesten Positionen fesseln kann, sei das eine grosse Vertrauensfrage.

Es sei ein Spiel zwischen viel Gefühl, Vertrauen und der gleichzeitigen Ungewissheit, was als nächstes mit einem passieren wird. Für Kuroki ist das Schöne daran auch der Druck, den man im eigenen Inneren spürt und das Loslassen-müssen, die Kontrolle abgeben in diesem «Subspace», diesem rauschähnlichen Zustand des Bewusstseins.

Sowohl Kuroki als auch Amber beschreiben mir gegenüber die Einzigartigkeit des «Kicks», den es einem geben kann, so völlig «in den Seilen zu hängen» (aber eben auf eine gute Art). Für einige sei es fast wie ein Rausch, man fühle sich danach gelöst und spüre seinen Körper anders. Um diesen Rausch dann auch richtig einordnen zu können, hilft es sicherlich, eine Community zu haben und sich auszutauschen.

Die richtige Technik
Richtig zu fesseln ist in Bezug auf sicherheitstechnische, medizinische und gesundheitliche Aspekte sehr wichtig bei diesem «kinky»-Pleasure. Zuerst müsse es immer einen Sicherheitsknoten geben, einen Knoten, der sich nicht anziehen lässt und festsitzt, erklärt mir Kuroki.

Dies ist besonders wichtig, da beim fortlaufenden Fesseln das Seil unter Spannung gesetzt wird und daher der Grundknoten so sitzen muss, dass er dem/der Gefesselten nichts abschnüren kann. Auch sei es wichtig, immer eine Sicherheitsschere dabei zu haben, mit einer runden Spitze, um beim notfallmässigen Aufschneiden niemanden zu verletzen. Patterns, also Knotenmuster, gäbe es insgesamt viele verschiedene.

Eine Sicherheitsschere mit runder Spitze muss immer dabei sein

 

Es brauche jedoch einiges an Übung, jemanden spannend und auch ästhetisch zu fesseln. Dabei sei es sehr wichtig, Körperstellen bewusst zu umgehen, an denen bestimmte zentrale Nervenstränge abgeschnürt werden könnten. Dies könne im schlimmsten Fall zu temporären oder permanenten Nervenverletzungen führen.

Eine typische Verletzung eines Nervs sei die sogenannte “Fallhand”, wobei die Hand nicht mehr richtig gesteuert werden kann und ein Taubheitsgefühl vorherrscht. Wenn so eine Verletzung auftritt, die je nachdem sogar nach der «Entfesselung» noch für mehrere Tage anhalten könnte, sei das «eine eher ungute Erfahrung».

Gerade um solche Fauxpas zu vermeiden, sei ein Austausch wichtig, finden Kuroki und Amber. Über die vergangenen Jahre haben die beiden daher einen «Safe Space» aufgebaut. Einen Ort, an dem Shibari-Techniken geübt und ausgetauscht werden können. An diesem Ort gäbe es die Möglichkeit, zu zweit oder auch allein zu einem Jam zu kommen und das Fesseln zu üben, einander Techniken zu zeigen und Ratschläge zu bekommen.

Mittlerweile finden die Treffen fast wöchentlich statt und stiessen auf viel Interesse in der Community, meint Kuroki. Die Jams werden in einem Telegramm-Chat ausgeschrieben, in den nur Leute eingeladen werden, die im Voraus bereits persönlich mit Kuroki Kontakt aufgenommen haben. Er will damit vermeiden, dass es eine zu anonyme und eventuell schwierige Stimmung bei den Jams geben könnte. Kuroki verweist dabei auf die wohl wichtigste Regel bei der modernen Shibari-Kunst,
nämlich die Einhaltung von gegenseitigem «consent» zwischen der fesselnden und der gefesselten Person.

Es braucht nicht nur Seile sondern auch Platz.

 

Binden, schnüren, üben
Wer die wiederentdeckte Kunst heute lernen will, wird über Instagram Videos oder YouTube Videos schnell auf erste Bilder und “Anleitungen” finden. Sich aber nur auf diese Weise darüber zu informieren, könnte kritisch sein, da, wie oben genannt, wichtige Vorsichtsmassnahmen oft kaum thematisiert werden – die Ästhetik steht bei diesen Videos im Vordergrund.

Um sich wirklich mit der Praktik auseinanderzusetzen, brauche es weiter nicht nur Seile, sondern auch Platz. «Am einfachsten ist es, wenn man um die andere Person herumgehen kann», erklärt mir Kuroki. Als Seilmaterial eignen sich Jute- und Hanfseile fast am besten, sie seien am natürlichsten auf der Haut. Damit sie weich und beweglicher werden, könne man die Seile vor dem Gebrauch auch mit Jojoba-Öl einreiben und durch die regelmässige Nutzung würden sie schliesslich auch angenehmer auf der Haut.

Ausserdem sei es sehr wichtig, nicht schon von Anfang an zu viel zu erwarten, so Amber. Das Fesseln brauche Übung, meint sie, und von einer Suspension (Aufhängung an einem Metallring an der Decke) sei bei einem ersten Mal klar abzuraten. Wichtig sei immer eine offene und klare Kommunikation – auch ein «Safe Word» sei dabei nicht unüblich. Mit zunehmender Erfahrung bekomme man ein Gefühl dafür, welche Fesselung für die gefesselte Person im Moment passend sei und könne sich spontan für ein Pattern entscheiden, fügt Amber hinzu.

Einer der grössten Fehler sei es aber, «über den eigenen Fähigkeiten» fesseln zu wollen, und damit die andere Person und sich selbst zu überfordern. Sowohl Kuroki und Amber sind der Meinung, dass man beim Shibari viel über sich selbst und seinen eigenen Körper lernt, sich besser spürt aber auch fremde Bedürfnisse lesen lernt. Die Seilkunst hat viele Aspekte, welcher davon einen am meisten anspricht, muss jede*r für sich entscheiden.

Steigende Popularität fordert bewussten Umgang
Die Fesselkunst aus Japan wird heute nicht mehr nur als “kinky” Praktik verstanden, sondern findet auch Eingang als Performance-Instrument von zeitgenössischen Künstler*innen. Felix Ruckert, ein deutscher Choreograph, der verschiedene Tanzperformances mit Seilen, aber auch Ketten, realisiert, spielt mit der Gratwanderung zwischen physikalischen Möglichkeiten und Herausforderungen von Hängefiguren, die eher an die skrupelhafte Geschichte der Fesselkunst erinnern.

In seiner Arbeit wird die Seilkunst in ihren dunklen Tönen präsentiert, dies ist so aber nicht der Tenor bei der Szene in Bern, die sich mehr an den aktuellen japanischen Grossmeistern orientiert, die Shibari heute noch betreiben und weiterentwickeln. Im Kontrast zur Kunst von Felix Ruckert steht Marika Leïla Roux alias Gorgone. Ihre künstlerischen Fotografien von Fesselungen betonen Ästhetik von Seil und Mensch im Zusammenspiel. Sie lässt in ihren Videos die zuvor beschriebene erlebbare Schwerelosigkeit im Shibari erahnen. Einen noch ganz anderen Weg geht Hajime Kinoko, Shibari Lehrer und Fotograf, der mit Seilen und Knoten ganze Gebäude umspannt. Seine Werke verweisen auf die Kraft der Patterns wobei nicht nur Menschen, sondern auch Objekte gefesselt und anschliessend für kunstvolle Fotos inszeniert werden.

Diese künstlerischen Auffassungen von Shibari seien spannend und hätten durchaus ihren Reiz, meint Kuroki. Wer sich für das Fesseln interessiert, sollte sich jedoch vor einem ersten Jam gut mit sich selbst und dem eigenen Körper auseinandersetzen. Kuroki und Amber empfehlen dafür beide die Webseite ropehelp auf der viele Informationen zur Fesseltechnik und dem Umgang mit psychologischen Effekten des Fesselns aufgeführt werden.

 

RopuNawa und seine Fesselpartnerin Isith, zwei bekannte Namen in der Szene, die ebenfalls eigene Jams anbieten, seit Jahren fesseln und ihr Wissen weitergeben, fassen dort auf einer Liste praktische Fragen zusammen. Es wird empfohlen, sich diese Fragen vor einer ersten Fesselung zu stellen.

Wie klar ist man in der eigenen Kommunikation und welche Erwartungen hat man an die andere Person? Was für ein Erlebnis soll es sein? Zwischen Yoga und körperlicher Grenzerfahrung scheint alles möglich. Man müsse sich bewusst sein, dass unerwartete Emotionen wie Angst, Trauer, Scham aber auch Geborgenheit und Lust ausgelöst werden können.

Die Webseite The Rope Bottom Guide bietet ausserdem eine schriftliche Anleitung als PDF zu verschiedenen Patterns, die mit ästhetischen Fotos illustriert und auf verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Dieses Anfänger*innenbuch bietet mit Hinweisen zur bilateralen Absprache zwischen fesselnder und gefesselter Person, den Umgang mit Stress und sogar Tipps zum Aufwärmen und Dehnen eine gute Übersicht.

Bei der Recherche und ebenso im Interview wurde klar: Die Szene ist klein, man kennt sich und trotzdem wird Anonymität gewahrt. Insgesamt scheint es ein grosses Bedürfnis der Szene zu sein, die Fesselkunst und alles, was sie erleben lässt, für Interessierte zugänglich zu machen. Für eine gute erste Begegnung mit Shibari braucht es folglich lediglich ein Juteseil, vielleicht den Besuch an einem Stammtisch und die Offenheit für eine neue Erfahrung, die sogar ein Hobby werden kann.

 

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