Vergiss mein nicht.
Vergessen und vergessen zu werden: Eine Angst, welche viele von uns in sich tragen. Was geschieht, wenn ein Mensch sich plötzlich nicht einmal mehr an die wichtigsten Dinge erinnern kann? Unsere Autorin erzählt aus ihrer Perspektive, wie sie Demenz in ihrem Umfeld wahrnimmt und was den Angehörigen im Umgang damit helfen kann.
Opapa
«Ist das nicht etwa Alina?» verschmitztes Lächeln und hochgezogene Augenbrauen als Antwort: «Ja, Opapa, das bin ich.» Spielt er mit seinem altbekannten Sarkasmus, oder ist es wirklich eine Absicherung? Oder vielleicht ist es beides zusammen, denn er merkt ja selbst, dass «irgendetwas da oben nicht mehr stimmt» und klopft sich alles andere als sanft an den Kopf.
Mein Grossvater, Opapa, wie ich ihn nenne, hat vor einiger Zeit eine Demenz-Diagnose der Memory Clinic erhalten. Die Ursache: Alzheimer. Wie bei den meisten Demenzpatient*innen. Er musste den Führerschein mit Widerwillen abgeben, aber so richtig bekamen wir Verwandten es erst zu spüren, als er umfiel und im Spital landete. Da bemerkten die Fachpersonen, dass sich die Demenz unter verschiedenen Symptomen zeigte, und er wurde vorübergehend in die Geriatrie gebracht. Er erhole sich schon wieder und könne bald wieder nachhause, sagte mein Omami. Und dann passierte es wieder. Gleiches Prozedere, anderes Wohnheim: Schäflisberg. Und wieder. Notkerianum. Und wieder.
Die Absicht dieses Artikels ist, ein persönliches Verständnis für die Krankheit Demenz zu schaffen. Früher oder später werden alle Menschen Kontakt mit einer Person mit Demenz haben. Deshalb ist es umso wichtiger: Wie gehen wir damit um? Was können betroffene Menschen fühlen, denken und wie viel können sie noch mitbekommen? Wie sprechen Angehörige über sie, wie sprechen Angehörige mit ihnen? Manches Verhalten kann vielleicht leichter verstanden werden, wenn eine Empathie zur Situation der erkrankten Person offenliegt. Ich möchte Beispiele der Krankheit wiedergeben; dazu motivieren, die Perspektive zu wechseln. Und Verständnis zu zeigen. Demenz ist eine Krankheit, mit der allen ein Hindernis im Leben geschaffen wird, ob angehörig oder betroffen; also lösen wir die Schwierigkeiten zusammen, anstatt einander die Schuld dafür zu geben.
Leicht:
Alles, was ich will, ist noch so zu sein wie sie war. Leichtfüssig durchs Leben. Mein vergangenes Ich als Ideal laufe ihr hinterher. Aber tief in mir spüre ich; nie werde ich sie erreichen. Es ist da ein Unterschied zwischen der alten Alina und mir. Ich kann ihn nicht in Worte fassen; aber er ist da. Leise sitzt sie neben mir in meinem Kopf und macht sich NICHT bemerkbar. Aber in jedem müde werden vom Denken, jedem Irrtum, jedem Verwirrt sein macht sie mir Vorwürfe, die Alina von damals. Allein durch ihre Präsenz. Sie ist so wunderbar. Aber niemand bemerkt, dass ich nicht sie bin. Und das ist auch gut so. In ihrem Körper bin ich zum Glück gut getarnt. Niemand wird mich entdecken. Ich tu so, als wär ich sie. Und niemand wird’s merken.
Die Welt nicht verstehen
Vor fünf Jahren hatte ich einen Verkehrsunfall. Ein schweres Schädelhirntrauma verfrachtete mich nach einem Koma ins Rehabilitationszentrum, dem ich ein halbes Jahr ‘Zuhause’ sagte. Nebst vielen anderen Verlusten, war meine Denkfähigkeit eingeschränkt: Erinnerung, Sprache, Konzentration, Aufmerksamkeit. Das alles erzähle ich, weil ich mich in dieser Zeit sehr verbunden zu meinem Opapa fühlte. Er erlebte schon da eine ähnliche Realität wie ich. Wir sprachen oft über das Gefühl, die Welt nicht zu verstehen. Wie Opapa jetzt, musste ich damals eine Vielzahl von Tests durchführen, deren Resultate mein Gehirn darstellen sollten. Und wie bei ihm wurde mein Denken von Ärzt*innen besser verstanden als von mir. Deshalb erlaube ich mir, verschiedene Phasen der Demenz mit meiner erlebten Realität zu vergleichen. In den Abschnitten, die in der ersten Person geschrieben sind, gehe ich auf drei Schwierigkeitsgrade einer möglichen Krankheit ein. In der Medizin wird generell zwischen drei Phasen einer typischen Demenzkrankheit unterschieden: Die leichte, mittelschwere und schwere Demenz. Alle Menschen mit Demenzerkrankung durchlaufen grob diese Phasen, wobei sie sehr unterschiedlich lange dauern. Bei einigen sind die drei klar erkennbar, bei anderen fühlen sie sich eher wie 7 Phasen an, ohne klare Grenzen. Ich schreibe hier, wie ich drei Phasen mit ähnlichen Symptomen erlebt habe, und bringe diese in Relation mit der Demenzkrankheit. Nur war bei mir die Abfolge glücklicherweise andersherum.
Die Fachsicht auf Demenz:
Die «eine Demenz» gibt es nicht
Demenz ist ein sehr weiter Begriff. Das bestätigen mir die Aktivierungsfachperson Annemarie Gerber vom Kompetenzzentrum Demenz Domicil Bethlehemacker und Thomas Blum, Oberarzt in der Memory Clinic Bern des Unispitals Insel. Blum erklärt mir, dass Demenz an zwei wesentlichen Faktoren erkannt werden kann. Einerseits ist eine Demenzkrankheit ersichtlich, wenn jemand den Alltag nicht mehr bewältigen kann: vergisst, wo die Kaffeemaschine ist oder sich plötzlich in einem Parkhaus wiederfindet, ohne zu wissen, wie man hingelangt ist. Andererseits verschlechtert sich die geistige Leistungsfähigkeit stetig. Das Newtonsche Pendel (Grafik) ist ein neurobiologisches Modell und beschreibt ganz grundlegend, wie die elektrischen Impulse im Netzwerk der Neuronen gestört sind.
Wie kann es passieren, dass eine Information verloren geht? Ein Anfangsneuron im Kopf von meinem Grossvater hat beispielsweise die Information, dass mein Gesicht zu meinem Namen passt, dass er dieses Gesicht kennt und es sogar mit ihm verwandt ist. Das Ziel, mich zu erkennen, funktioniert neuronal vereinfacht so: Diese Information wird über ganz viele Zwischenneurone vom Anfangsneuron ans Endneuron weitergeleitet. Wenn die Information beim Endneuron ankommt, kann er mich erkennen und weiss, dass ich seine Enkelin bin. Wenn ein Zwischenneuron merkt, dass sein Gspänli, dem es die Information normalerweise zustellt, nicht da ist, bleibt die Information stecken. Also weiss Opapa auf den ersten Blick nicht, wer ich bin; ich sehe aber trotzdem bekannt aus.
Klar, das Endneuron hat ja die Information nicht erhalten. Diese Informationen sind elektrische und/oder chemische Impulse und sind viel brachialer, als ‘die Enkelin erkennen’. Das wäre schon ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Impulse. Wie kann es aber passieren, dass das Gspänli im Hirn auf einmal verschwindet und so die Informationskette unterbricht? Das kann viele biologische Ursachen haben: Proteine, die den Gang verstopfen, durch Viren zerstörte Neuronen oder wenn der Druck im Kopf sich erhöht und dadurch Neuronen absterben. Die Wirkmechanismen unterscheiden sich stark und sind für die Forschung immer noch ein Mysterium; auf neuropsychologischer Ebene können sie unterschiedlich auftreten. Die Alzheimer-Demenz kommt am häufigsten vor, während dem die frontotemporale Demenz eher selten ist. Zudem gibt es auch Fälle, in denen die Demenz aufgrund von Alkohol, Infektionen oder Zeckenstichen verursacht wurde; manche sind vererbbar, andere nicht. Oft kommt auch eine Mischung der Ursachen vor.
Fachsicht auf Demenz in der Leichten Phase:
Depression oder Demenz?
«Die Herausforderung für die meisten Menschen mit Demenz ist am Anfang der Krankheit, wenn sie merken, dass sie vergesslicher werden»
So Rosmarie Gerber. Stellen Sie sich vor, Sie fragen nach dem Weg zu einem Parkhaus, wo Sie Ihr Auto abgestellt haben. Ihr ganzes Umfeld erzählt Ihnen aber, dass dieses Parkhaus vor 3 Jahren abgebrannt sei. Solche Simulationsübungen habe sie auch schon durchgeführt, um sich besser in die Situation einer Person mit Demenz zu versetzen, erzählte mir Gerber. Am Anfang sei die Skepsis hoch: Hat die Aussenwelt recht oder Sie? Sind Sie vielleicht von Demenz betroffen? Dabei sind Sie sich doch so sicher gewesen. Spätestens wenn ein Gespräch mit Ärzt*innen Ihnen und Ihren Liebsten versichert, dass Sie an einer Krankheit leiden, sind Sie dazu gezwungen, den Tatsachen ins Auge zu blicken.
Die Anfangsphase einer Demenz äußert sich oft wie eine Depression. Appetitlosigkeit, Phasen der Traurigkeit, Kraftlosigkeit und weitere Symptome geben auch der Aussenwelt erstmals einen Hinweis, dass etwas nicht stimmt. Eine Differenzialdiagnose hilft herauszufinden, um welche Krankheit es sich genau handelt. Der klinische Demenzbegriff setzt Einschränkungen im Alltag voraus. Deshalb ist z.B. leichte Vergesslichkeit noch kein Symptom für Demenz, im Fachjargon nennt sich das eine leichte kognitive Störung. Anfangs kamen meinem Opapa spezifische Dinge, wie der Autor von “Huckleberry Finn” nicht mehr in den Sinn; diese Art von Vergesslichkeit hatte keinen grossen Einfluss auf sein Leben. Wenn sie eine Person einschränkt, kann Vergesslichkeit aber als Symptom einer Demenz beschrieben werden. Mein Opapa vergass beispielsweise mehr und mehr Wochentage oder wo er gerade war.
Rosmarie Gerber rät, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun und Erlebnisse zu teilen, kann Betroffenen und Angehörigen helfen.
Mittelschwer:
Meine Neuropsychologin wartet schon auf mich, mir ist es ein wenig unangenehm. Setz dich doch bitte hin, es macht gar nichts, dass du den Termin vergessen hast. – Okay. Ein weiterer Grund, der sie in ihrem Glauben, ich sei verrückt, unterstützt. Eigentlich habe ich den Tagesplan gar nicht vergessen, er hat eher mich vergessen. Ja, ich kann doch nichts dafür, wenn die Physio davor ausfällt und der Plan sich einfach kurzfristig ändert. Der Plan hat sich verändert, nicht mein Gedächtnis. Es ist doch alles beim Alten, ihr macht einfach einen Zirkus aus den kleinsten Dingen. Einen Termin zu vergessen, das passiert doch allen mal – Was könntest du denn für eine Strategie entwickeln, dass dir das nicht mehr passiert? – ich weiss nicht, das behalte ich eben im Kopf – du könntest es dir beispielsweise aufschreiben, in einem Terminkalender – immer diese Strategien. Ich komme schon klar, ihr unterschätzt mich total. Eigentlich bin ich noch zu ganz vielem fähig.
Fachsicht auf Demenz in der Mittelschweren Phase
Thomas Blum sagt mir, dass es ca. im zweiten Stadium der Demenzkrankheit mit vielen Patient*innen darum geht, Strategien und Übungen zu finden, um die Defizite im Alltag bestmöglich zu kompensieren. Aber auch das ist sehr individuell. Bei Alzheimer ist meistens eine Speicher- und Abrufstörung vorhanden. Das heisst, auch wenn ich meinen Opapa daran erinnere, dass ich tatsächlich Alina bin, wird diese Information bei ihm irgendwann nicht mehr da sein. Er wird sich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern. Vergiss mein nicht.
Schwierig ist für uns, das Umfeld von Opapa, zu realisieren, dass er sich verändert, aber immer noch gleich aussieht. Wir müssen versuchen, die Veränderungen des neuen Opapas nicht mit dem alten Opapa zu vergleichen. In der Grafik gesprochen: Wir sehen nur den immergleichen Schatten, aber das Original verändert sich, ohne dass es sichtbar ist. Wir müssen uns klarmachen, dass sich die Situation geändert hat und das Wichtigste ist, dass es Opapa gut geht.
Diagnose und der Schritt ins Altersheim
Es sei sehr wichtig, genug früh eine Diagnose zu bekommen, dann könne man selbst und das Umfeld beginnen, sich vorzubereiten, erklärt mir Thomas Blum. «Oft beginnen Patient*innen sich ein Netzwerk zu bilden, andere wiederum wollen ihre Nächsten nicht belasten.» Dazu bietet die Memory Clinic Bern Beratungen an, die auf Anamnese und Tests beruhen. Die betroffene Person und ihr Umfeld beantworten Fragen zum Gesundheitszustand und die kognitiven Fähigkeiten werden durch neuropsychologische Tests abgebildet. Je nach Ursache gibt es verschiedene Profile mit spezifischeren Fragestellungen. Aufgrund derer kann festgestellt werden, welche Domänen betroffen sind (z.B. Sprache, Vorstellungsvermögen, Aufmerksamkeit oder Ausführbarkeit).
Für eine Diagnose reicht das, denn die meisten Menschen seien in dieser Phase noch grösstenteils zurechnungsfähig. In der Schweiz gehört es zum Standard, MRT-Untersuchungen durchzuführen. Thomas Blum meint: «MRT-Untersuchungen stellen Bilder des Gehirns dar und geben aufschlussreichere Hinweise, in welche Richtung die Zukunft der Person mit Demenz gehen könnte.» Damit kann auch herausgefunden werden, ob die Demenzkrankheit vererbbar ist. Falls dann die Ursache immer noch unklar ist, können Spezialuntersuchungen durchgeführt werden. Die Memory Clinic Bern hat aber weitaus mehr Angebote, die vor allem von Personen genutzt werden, die noch zuhause leben können. Dazu gehören die ambulanten Tagesstätten, in denen Gedächtnistraining gemacht wird und therapeutische Gespräche geführt werden.
Die Frage, wann der richtige Zeitpunkt für den Umzug in ein Altersheim ist, fordert vor allem das Umfeld einer Person mit Demenz stark. Meine Freundin, die ebenfalls Aktivierungsfachperson in Ausbildung ist, erzählt mir von einer Patientin, die oft umgezogen ist. Deshalb sei auch der Umzug ins Heim für sie und ihre Verwandten kein grosser Schritt gewesen. Bei anderen, wie meinem Opapa, ist es anders. Er und meine Grossmutter leben seit mehr als 50 Jahren in einem Einfamilienhaus. Der Umzug ins Altersheim heisst, wenn auch vor allem für Omami, den letzten Schritt vor dem Tod zu tun. Dann werde er sie endgültig verlassen. Das tut weh. Und noch mehr, wenn er sie im Heim immer wieder bittet, ihn jetzt nach Hause mitzunehmen. Vergiss mein nicht.
«Im Altersheim wollen viele wieder nach Hause; wobei nicht immer ganz klar ist, was genau das heisst. Meinen sie das frühere Zuhause oder meinen sie ein Heimatgefühl?»
meint Rosmarie Gerber, «denn für viele ist das Zimmer im Wohnheim eine Art Zuhause.» Auch die Angehörigen kann es erleichtern, den pflegerischen Teil einer betroffenen Person abzugeben. Irgendwann wird es sehr anstrengend, eine Person zu Hause zu pflegen. «Viele Beziehungen verändern sich, wenn die betroffene Person in ein Heim zieht. Sie werden ähnlicher wie früher, weil der pflegerische Aspekt abgegeben wird und somit die Doppelaufgabe der Angehörigen verschwindet.» Für das Umfeld ist am wichtigsten, sich Unterstützung zu holen und auf sich selbst zu achten; es ist wichtig, dass es dir auch gut geht.
Schwer:
Ich setze mich in meinem Bett auf. Draussen wird es langsam dunkel – oder wird es hell? Keine Ahnung. Langsam blinzle ich, müde. Wieso bin ich nochmals hier? Ich habe keine Ahnung. Wo bin ich eigentlich? Ich habe wirklich keine Ahnung. Es ist still. Irgendwie friedlich. Eine Gestalt steht im hellen Gang mir zugerichtet. Ich kann sie nicht erkennen. Sie macht ein paar Schritte auf mich zu bis – das ist Elisa! Ich schwinge meine Beine aus dem Bett. Ich will dich umarmen, ganz fest drücken. Nie mehr loslassen. Ich will schreien vor Freude. Dir sagen, wie lieb ich dich habe und wie sehr ich dich vermisse. Elisa fängt mich auf, bevor ich ganz zusammensacke. Stimmt, das ist die Realität. Ich kann nicht gehen, ich kann nicht sprechen. Irgendwas mit meinem Gehirn. Mühselig setzt du mich aufs Bett, du bist stark. Du schaust besorgt, erschrocken. Wieso denn? Ist doch nichts passiert. Ich freue mich so unglaublich, dass du da bist, sei nicht traurig. Lach mit mir!
Fachsicht auf Demenz in der Schweren Phase:
Ernst genommene Emotionen und Situationskomik
Die oben genannte Situation hat nicht viel mit meiner Realität zu tun. Es ist zwar ein Ereignis, dass ich im Nachhinein erzählt bekommen habe, aber erinnern kann ich mich nicht aus erster Hand daran. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich so etwas wie klare Gedanken damals haben konnte. Aber was sicher ist, sind die starken Gefühle gegenüber Situationen, an die ich mich noch erinnern kann; wie reagieren meine Liebsten darauf, mich zu sehen? Als Person mit Demenz sei es vor allem wichtig, ernst genommen zu werden, auch wenn das Gegenüber den Inhalt der Gefühlsausbrüche nicht genau kennt, erzählt mir Gerber. Vor allem bei schwerer Demenz, wenn Kommunikation mit Worten nicht möglich ist, kann es die betroffene Person entspannen, zu hören «dir sit ganz fest trurig». Der genaue Inhalt, der eine Person beschäftigt, sei beinahe sekundär. Dass jemand die Emotionen sieht und benennen kann, bringe schon viel Erleichterung in die Situation.
«Es gibt Momente, in denen ich einer Person mit Wortfindungsstörungen zuhöre. Und wenn sie dabei merkt, dass sie ernst genommen wird, ist es das Wichtigste.»
Der Umgang des Umfelds mit Menschen mit Demenz ist essenziell – immer nur darauf hinzuweisen, was jetzt nicht mehr gut funktioniert, ist nicht förderlich. Das Umfeld kann, wenn es sich nur auf die negativen Dinge fokussiert, die Krankheit und die Symptome sogar verstärken. Im Gegenteil kann ein positiver Umgang Menschen mit Demenz sehr erleichtern, indem sie eine gelassene Situation wahrnehmen. Mein Opapa hatte eine Phase im Altersheim Notkerianum, als er Rhythmen klopfte. Wenn er einmal angefangen hatte, war er nicht mehr zu stoppen. Einigen Angehörigen war das sehr unangenehm; ich schmunzelte ab der skurrilen Situation von meinem von Elan gesteuerten Grossvater und Verwandten, die ihn unbemerkt zum Aufhören bringen wollten. Diese Freude bestätigt mir auch Rosmarie Gerber:
«Es gibt oft eine Situationskomik mit Menschen mit Demenz – sie haben eine Art Narrenfreiheit. Die Regeln und Normen, die von der Gesellschaft vorgegeben sind, treten in einer Demenz in den Hintergrund. Das geniesse ich sehr, weil es extrem befreiend ist.»
Je mehr die Krankheit fortschreite, desto eher können auch viele ihrer Patient*innen an etwas Neuem ihre Freude finden, weil sie die Krankheit vergessen und mehr im Moment leben. Gleichzeitig komme es speziell bei der Alzheimer-Demenz oft vor, dass Betroffene in die Vergangenheit
zurück versinken. Einige nehmen die Welt wieder als Kinder wahr, wie eine Patientin von Rosmarie Gerber. Sie wurde oft sehr nervös, da sie dachte, sie müsse bald in die Schule und dort müsse sie lesen: «Aber ich kann doch gar nicht gut sehen!» Bei ihr helfe oft eine Erklärung und sie sehe dann selbst ein, dass sie jetzt 89 Jahre alt ist und nicht mehr zur Schule muss.
Omami
Ich führte viele Gespräche mit meinem Omami, sagte ihr immer wieder, wie wichtig es sei, «dass es dir auch gut geht». Sie erzählte mir von der Doppelmoral, die sie in sich trägt: Wenn Opapa ‘einen guten Tag’ habe und sie strotze vor Freude und Liebe zu ihm, komme danach ‘ein schlechter’ und sie sei gefangen in der bedrückenden Erinnerung des Alters, in dem sie sich befindet. Nur geht das Ganze wie beim Roulette, sie weiss nie was kommt. Vor etwa einem Monat fällte sie den Entscheid, meinen Opapa nicht mehr allein mit Hilfe der Spitex pflegen zu können. Sie entschied sich, getrennt von ihm zu leben und ihm ein endgültiges Altersheim zu finden. Sie entschied sich für ihr eigenes Wohlergehen. Für einen Abschied. Für eine neue Etappe im Leben. Aber ihm das persönlich zu sagen, das sei zu schmerzvoll. Vergiss mein nicht.