Kompass UniBE – Eine neue Praxis der «Integration»?
Dieses Jahr lanciert die Uni Bern das neue Kompass-Projekt und öffnet damit den tertiären Bildungsweg für geflüchtete Menschen. Der Enterhaken der Bildungsgerechtigkeit ist geworfen. Doch das Projekt hängt am kantonalen Faden.
Stell dir vor, du studierst. Oder du hast studiert. Du bist Lehrer*in, ein Beruf, den du wichtig findest und der dir Sinn gibt. Du arbeitest vielleicht schon zwei, drei Jahre in einem Beruf. Plötzlich bricht die Welt, die du kennst, zusammen, und du musst dein Leben woanders aufbauen. Du musst nicht nur eine neue Sprache lernen, du musst wieder bei null anfangen. Denn das Einzige, was anerkannt wird, ist dein gymnasialer Abschluss. Würdest du wieder studieren wollen? Oder wärst du bereit, etwas anderes mit Kindern zu machen, zum Beispiel als Betreuer*in?
Wir werden auf die Frage zurückkommen.
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Genau ein Jahr ist es her, dass wir uns mit den zahlreichen Hindernissen beschäftigten, welchen Geflüchteten den Weg zu Hochschulen versperren. Heute schreiben wir das Jahr 2023 und das Hochschulvorbereitungsprogramm Kompass UniBE öffnet sein Anmeldefenster für das kommende Herbstsemester. Geflüchtete, die teilnehmen werden, belegen Sprachkurse, um Englisch und insbesondere Deutsch auf Niveau C1 zu lernen, welches für ein Bachelorstudium vorausgesetzt wird. Es gibt Lerntechnik- und Methodenkurse, eine individuelle Beratung und Begleitung im Zulassungsprozess … Dinge, die es 2022 zwar schon gab, aber nur für ukrainische Geflüchtete. Nun gilt es für alle. Teilnehmende Personen werden mit Hand und Fuss auf eine Studiumsaufnahme im Folgejahr vorbereitet. Damit ist die Uni Bern nach der Uni Genf und der Uni Zürich die dritte Universität in der Schweiz, welche geflüchteten Menschen einen Vorbereitungskurs als Türöffner zu einem Studium anbietet.
In Vorbereitungskursen wie diesen steckt das Potential, die schweizerische «Integrationsarbeit»1 grundlegend zu verändern. Doch um den Revolutionscharakter von Kompass UniBE zu verstehen, bedarf es ein wenig Hintergrundwissen (stay tight!). Seit 2016 gibt es den Offenen Hörsaal, der Studierenden mit Fluchthintergrund erlaubt, ihre Nase in ein Studium an der Uni Bern reinzustecken, welches sie aufgrund verschiedener Hürden und Zulassungsbedingungen jedoch meist nicht antreten. Diese Zulassungsbedingungen sind: Deutschkenntnisse auf Level C1, die richtige Vor-Ausbildung (nicht zu viel und nicht zu wenig), das richtige Alter (nicht zu alt) und die Einschätzung der integrationserbringenden Institution, dass sich ein Studium für die Person lohnt (Wir haben uns genauer damit in der bsz-Ausgabe #27 & #22 beschäftigt). Dass Geflüchtete selten studieren, liegt aber nicht nur an den Zulassungsbedingungen. Womit wir beim Thema Integration wären.
Im Flyer der Integrationsagenda steht: «Dank einer systematischen Potenzialabklärung wird jede Person so gefördert, dass es ihr, der Wirtschaft und der Gesellschaft am meisten bringt.» Anja Otth, Job-Coach beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) im Kanton Bern und zuständig für die Förderung von Hochqualifizierten, erklärt, wie eine Potentialabklärung funktioniert: «In einem Erstgespräch werden berufliche Hintergründe und Arbeitserfahrung erfragt, so wie berufliche Ziele abgeklärt.» Ist die Person auf ein Gymnasium gegangen? Oder hat sie ein Studium angefangen? Sind Diplome und Transkripte vorhanden?» Die Berufs- und Studienberatung BIZ sowie die Fachstelle HEKS MosaiQ würden für die Potentialabklärung beigezogen, um die Realisierbarkeit der beruflichen Ziele abzuschätzen. Wenn die betreute Person Deutschkurse auf Niveau B1 machen wolle, gebe es bestimmte Bedingungen. «Ist ein Hochschulstudium realistisch? Darum geht’s», sagt sie und fügt hinzu: «Wenn jemand die B1-Prüfung nicht schafft, sagen wir, dass ein Studium zu herausfordernd ist und raten zu einem anderen Weg.»
Das Amt für Integration und Soziales des Kantons Bern nennt den «möglichst schnellen Eintritt in den Arbeitsmarkt» als eines der drei wichtigsten Ziele der Berner Integrationsagenda. «Bei Erwachsenen steht die möglichst rasche Integration in den Arbeitsmarkt und das Erlernen einer der Amtssprachen im Zentrum», wird ergänzt. Eine potentialorientierte Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt wird nicht erwähnt.
Die Konsequenz ist eine Finanzstruktur, die Schnelligkeit fördert (respektive fordert). Sabine Zurschmitten, die sich als Co-Projektleiterin von «Perspektiven – Studium» seit 2020 für den Hochschulzugang von geflüchteten Menschen einsetzt, erklärt: «Das Problem im Kanton Bern ist, dass die Integrationspauschalen an regionale Partnerorganisationen wie das SRK oder die ORS (Organisation for Refugee Services) nur ausgezahlt werden, wenn die Geflüchteten gewisse Leistungen erbracht haben.» Die Integrationspauschalen, das staatliche Geld das pro geflüchtete Person zur Verfügung steht, erhalten die Organisationen nach Erreichung bestimmter «Etappenziele»: Wenn die betreute Person ein Sprachdiplom erhalten hat, wenn sie ihren ersten Arbeitsvertrag unterschrieben hat, oder wenn sie die Lehre abschliesst. «Für die integrationserbringende Institution», sagt Zurschmitten, «gibt es im erfolgsbasierten Abgeltungssystems, wie es im Kanton Bern praktiziert wird, null Anreize, den tertiären Bildungsweg zu unterstützen.» Anja Otth schreibt vor unserem Interview, sie könne über ihre persönliche Haltung zur Neustrukturierung des Asyl- und Flüchtlingsbereichs im Kanton Bern keine Aussagen machen.
Ironischerweise wäre es ökonomisch gesehen eigentlich sinnvoll, Menschen ihrem Potential entsprechend zu fördern. «Viele Geflüchtete kommen aus Ländern mit gut entwickelten Bildungssystemen auf der Tertiärstufe. Ihr Potenzial nicht auszuschöpfen und sie in Bereiche zu pushen, die sie unglücklich machen, ist nicht nachhaltig, auch nicht im ökonomischen Sinne», sagt Sabine Zurschmitten. Ob es sinnvoll ist, Menschen zu einer Arbeit jenseits ihrer Fähigkeiten, Interessen und Ziele zu bewegen, ist natürlich nicht nur eine technische, sondern auch eine ethische Frage. Was aber jenseits einer Diskussion über Gut und Recht bleibt, sind die Zahlen: 20’138 geflüchtete Menschen – 59% von allen erwerbsfähigen Geflüchteten, die in der Schweiz wohnen – sind arbeitslos (Stand Dezember 2022). 1’644 Franken pro Monat kostet die Sozialhilfe für geflüchtete Menschen, die im Kanton Bern wohnen (Pauschalansätze ab 1. Januar 2023). Rund 677 Franken davon stehen für die Miete und die Krankenkasse zur Verfügung, wobei die Kosten für Sozialhilfe und Betreuung mehr als die Hälfte der Pauschalansätze ausmachen. Sollte der tertiäre Bildungsweg tatsächlich eine Alternative zur Arbeitslosigkeit sein, so könnte er sich bereits zweieinhalb Jahre nach dem Studium rentieren, wenn die Person eine Arbeit findet.²
Und wahrscheinlich tut er das tatsächlich. «Der Arbeitsmarkt fordert zunehmend hohe Qualifikationen», sagt Daniel Schönmann, Vorsteher des Amts für Hochschulen der Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern. Es gebe heute mehr Menschen im mittleren und hohen Altersbereich. Bildsprachlich gesagt: Die Alterspyramide hätte sich schon längst in eine Birne verwandelt. Und in der Bildung sei das Bild ähnlich: «Die Nachfrage nach Arbeiten, die man nach kurzer Anlehre machen kann, nimmt ab und die Nachfrage nach Tätigkeiten mit längeren Ausbildungen nimmt zu. Wenn wir den Arbeitsmarkt anschauen, sind es heute die Menschen, die wenig anpassbare Qualifikationen mitbringen, die Schwierigkeiten haben.»
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April 2022: Ein Postulat mit dem Namen «Kompetenzen von Geflüchteten erfassen und nutzen» wird im Nationalrat eingereicht. 29. September 2022: Der Nationalrat nimmt es an. Die Forderung nach einem Bericht zur Datenlage des Bildungspotentials und Bildungsstandes geflüchteter Menschen fällt somit auf fruchtbaren Boden.
Seitdem scheint nicht viel passiert zu sein. Noch immer ist unklar, welches Bundesamt die Federführung bei der Berichterstattung haben soll, und somit erst recht, wie hoch die Anzahl Geflüchteter ist, die Interesse und Potential für ein Studium mitbringen. Die Dunkelziffer ist eine angezogene Handbremse. Vielleicht sind Geflüchtete ja gar nicht nennenswert am tertiären Bildungsweg interessiert? Oder ist der Bedarf vielleicht so gross, dass ihn die Bildungsinstitutionen nicht decken können? Egal wie man es wendet, es scheint ein Grund zum Stillstand.
Auch die geflüchteter Hochschulabgänger*innen bleibt eine Dunkelziffer. Zwei Zahlen gibt es jedoch schon: 1247 Geflüchtete haben zwischen dem Frühlingssemester 2016 und 2022 an einem von 13 erfassten Hochschulprojekten wie dem Offenen Hörsaal Bern oder «Horizon académique» in Genf teilgenommen und 250 von ihnen konnten sich anschliessend für ein Studium immatrikulieren.
Und dann gibt es noch zwei weitere Zahlen: 20 & 40. So viele Plätze wird es im ersten und zweiten Pilotjahr von Kompass UniBE geben. Ann-Seline Fankhauser denkt, dass es kein Problem sein wird, diese Plätze zu füllen. «Wir haben jetzt bereits, ohne nennenswert Werbung zu machen, regelmässig Anfragen. Besonders von Ukrainer*innen, aber auch Partnerorganisationen im Asylbereich melden sich mit potentiellen Kandidat*innen.»
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…stell dir vor, du hast studiert. Du arbeitest vielleicht schon zwei, drei Jahre in einem Beruf, doch das Einzige, was anerkannt wird, ist dein Gymnasialabschluss. Würdest du wieder studieren wollen?
Bei der lautstarken Diskussion, ob geflüchteten Menschen ein Studium finanziert werden sollte, geht vergessen: Viele Menschen bringen einen Erfahrungs- und Bildungsrucksack mit sich. Dafür Anerkennung – und ergo eine Arbeitsstelle – zu erhalten, ist jedoch schwierig. «Ich begleite viele Personen aus der Türkei, die als Lehrpersonen gearbeitet haben», sagt Anja Otth. «Die Anforderungen sind sehr hoch, sprachlich wird im Beruf ein C1- oder C2-Zertifikat vorausgesetzt.» Auch im Bereich Medizin sei es sehr herausfordernd, Betriebe zu finden, welche ärztliche Fachpersonen für Assistenzstellen annehmen, da es Kontingente für Personen aus Drittstaaten gebe. «Mit jemandem suche ich schon seit einem Jahr», sagt Anja Otth. Dementsprechend werden Neuorientierungen nahegelegt: «Oft ist der Kitabereich, oder die Kinderbetreuung auch attraktiv für die geflüchteten Lehrer*innen, oder zumindest geeignet, um die Sprache zu lernen. Oder wir schauen, dass sie über die Sozialpädagogik, eine Lehre oder eine höhere Fachhochschule den Einstieg in das Berufsleben finden.»
In der Theorie klingt das anders: «Das Ziel der Bildungspolitik ist, dass, wenn das Potential vorhanden ist, die Wohnbevölkerung dieses Potential auch realisieren kann», sagt Daniel Schönmann. «Personen, die eine Wohngenehmigung und das Potential haben, sollte die Option einer Hochschulausbildung offen stehen.» Könnte diese Vision Realität werden?
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Seit dem Angriff auf die Ukraine scheint ein Stein ins Rollen gekommen zu sein: «Ich sehe einen Domino-Effekt», sagt Sabine Zurschmitten. «Viele Hochschulen wurden im Zuge des Ukrainekriegs auf einer ganz neuen Ebene sensibilisiert und sind direkt konfrontiert mit der Flucht-Thematik.» Hochschulen, die diesem Thema gegenüber bisher total versperrt waren, müssten sich jetzt überlegen, was sie machen können. «Wir haben die Türen der Hochschulen für ukrainische Studierende geöffnet, da gibt es nun kein Zurück mehr. Das muss früher oder später für alle Geflüchteten geltend gemacht werden.»
An der Uni Bern, der Uni Genf und der Uni Zürich sind die Türen inzwischen ein Stück weit geöffnet. Ob die Integrationsbehörden geflüchtete Menschen reinlassen und ob sie diesen Weg langfristig finanzieren werden, ist jedoch eine andere Frage. Doch Kompass UniBE wird stattfinden. Ja, es ist sogar schon im Gange. Eine Unterstützung durch die regionalen Partnerorganisationen und Spenden, um studienbezogene Ausgaben für Geflüchtete zu finanzieren, würden jedoch wichtig sein, sagt Ann-Seline Fankhauser.
Dabei ist ein Schritt bereits getan: Es ist ein dreizeiliger Paragraph, der es in die Kantonalen Integrationsprogramme 2024 – 2027 geschafft hat:
«Die spezifische Integrationsförderung wirkt in Zusammenarbeit mit den Regelstrukturen der Bildung darauf hin, dass VA/FL³ mit einem entsprechenden Potenzial auf den Einstieg in eine Tertiärausbildung vorbereitet werden.»
Es ist das erste Mal, dass im Rahmen der kantonalen Integrationsprogramme ein strategisches Programmziel zur Hochschulbildung formuliert wurde. Die Kantone sind nun angehalten, Massnahmen aufzuzeigen, mit denen dieses Ziel erreicht werden kann. Es wird sich zeigen, wie genau der Kanton Bern diesen Paragraph umzusetzen gedenkt. Die Verankerung der Hochschulbildung als Integrationsstrategie in den Kantonalen Integrationsprogramme ist ein erster Schritt, der bescheidener daher kommt als Kompass UniBE, aber der zeigt: Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen, weitsichtigen Verständnis der Integration. Und es bedeutet, dass der Hochschulzugang für geflüchtete Menschen zukünftig verstärkt gefördert wird.
Ob Kompass UniBE zur Blaupause für die Zukunft wird, hängt von den politischen Entscheidungsträger*innen ab. Es liegt an Ihnen, Finanzierungen zu ermöglichen und Finanzierungsstrukturen so anzupassen, dass Hochschulvorbereitungsprogramme nachhaltig verankert werden können.
text & bildbearbeitung: florian rudolph,
fotos: maria olkhovaya, jon tyson, daniil silantev
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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #31 März 2023
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