Flohmärkte: Zwischen Kitsch und Einzigartigkeit
Foto: Désirée Draxl
Eine Spurensuche zwischen den Materialbergen: Was ist Kitsch? Und was nicht? Und warum übt er auf uns eine Faszination aus, derer wir uns fast nicht wehren können?
Ein klirrend kalter Dezembermorgen. Der Flohmarkt auf der Schützenmatte in Bern ist gefüllt mit Menschen, dick eingepackt in Winterjacken, um Stände herumstehend. Stände voll mit Dinglichkeiten, und ich schreibe das so, weil die Gegenstände meist so verschlungen in- und übereinander liegen, dass sie kaum unterscheidbar sind.
Erkennt mensch sie trotzdem, bleiben ihre Funktion oder ihr Anreiz unklar. Ist es Kitsch oder kaputt oder doch, irgendwie, stylisch?
Wir stehen zwischen einem Haufen Schuhe, in welchem es kaum zwei gleiche zu finden gibt, und einem Berg von altem Werkzeug. Dahinter liegen Unmengen von Kleider, die wir auseinander inspizieren. Flohmärkte sind Orte voll mit alten und vergessen gegangenen Dingen, oder eben, Undefinierbarem. Die dauerhafte Version davon sind Brockenhäuser.
Also, auf zur Rettung des Klimas in Tennisschuhen!
Läden und Verbände, die Ungewolltes, Altes und Verlorenes zum Wiederentdecken anbieten. Flohmärkte haben das gleiche Konzept, sind aber schnelllebiger, bieten sie doch nur eine einzige Chance zum Finden von Dingen, die mensch meist nicht braucht aber hübsch findet, und die ihn zum Verlust von zwei bis drei Franken bewegen. Um den eigenen Kleiderschrank mit Ausgefallenem aufzupeppen, sind die Märkte beliebt geworden: Sie sind günstiger als Kommerz und entsprechen dem anhaltenden Second-Hand Trend.
Generation Second-Hand
Zwischen den Ständen und Tischen voller Kleider, alter Platten, Spielzeug, kaputter Technik, Kabel und sogar Äxten findet sich auch die Königin der vergessenen Gegenstände: Kitsch. Kitschiges Zeugs hat weder Zweck noch Sinn, ist meist verziert, meist verzerrt, meist billig, also fast wertlos. Gefrümsel und Gedingsel – Staubfänger, würde meine Mutter sagen.
Sie mag das nicht. Bei ihr bleiben Oberflächen frei. Bei mir eher nicht so, das heisst aber noch lange nicht, dass ich auf Kitsch stehe. Oder vielleicht doch? Gehöre ich nicht auch zu der Generation, in der Second-Hand en Vogue ist?
Es geht darum, die feine Balance zwischen altund neu, hip und knallig zu finden.
Etwas, das auf den ersten Blick nach Bad-Taste aussieht, kann ganz schön positiv auffallen, wenn gut kombiniert. Mensch beweist Geschmack, wenn das Potenzial des scheinbar Wertlosen erkannt wird. Es geht darum, die feine Balance zwischen alt und neu, hip und knallig zu finden. Es geht um Kreativität, Ausdruck, das Anecken, das Nostalgische, darum, Gebrauchtes neu zu erfinden – und vor allem: um Einzigartigkeit.
Wir wollen nicht mehr alle aussehen wie von H&M und C&A ausgespuckt. Aussergewöhnliche, meist günstige Schätze sind heiss begehrt und das Erlebnis des Kramens, Wühlens, Kombinierens kann kalte Winternachmittage ganz schön aufheizen. Es geht darum, die Stücke mit dem gewissen Etwas zu finden.
In einer Zeit der immerwährenden Verfügbarkeit von neu, billig und trendy (auch als Fast Fashion benannt und bekannt), hat sich eine zweite Konsum-Kultur entwickelt: alt und billig und ein bisschen persönlich (auch bekannt als shabby-chic oder anti-style).
Wir wollen nicht mehr alle aussehen wie von H&M und C&A ausgespuckt.
Retro vs. Kitsch
Ist es eine Rückkehr der Romantik? Oder der Traum einer unbescholtenen 80er-Jahre Idylle mit farbigen Jacken, Schulterpolstern, Tennisschuhen und Plattenspielern? Der Erfolg von Serien wie Stranger Things machen es vor. Ist es eine Gegenbewegung gegen die sich immer schneller drehende Welt? Die Sehnsucht nach einer Zeit ohne Bewusstsein für den Klimawandel, soziale Medien und Digitalisierung?
Mein Vater meint immer, so lustig, dass sich alle wieder so anziehen, wie früher. Und wenn ich dann meine, ich glaube, wir sehnen uns vielleicht ein bisschen nach dieser Vergangenheit, meint er: «Weisst du, wir hatten auch Sorgen. Den kalten Krieg, zum Beispiel.» Wenn er das sagt, finde ich ihn immer unglaublich alt.
Doch, ist Retro wirklich kitschig? Das Problem ist ja, dass «Kitsch» vieles bedeuten kann: Billig, geschmacklos, oberflächlich, zu idyllisch, zu romantisch, verzerrt, unecht, entstellt. Alles kann Kitsch sein, wenn es zu stark inszeniert wird. Kitsch ist ein Stück weit also alles, was zu sehr versucht wird. Ich denke an die Glasfigürchen und Puppen und Bilder meiner Grossmutter und merke, dass ich abgeschweift bin.
Zurück zum Flohmarkt
Unsere seriöse journalistische Arbeit wird immer wieder von Funden abgelenkt, hier ein paar Hosen, ein Pullover, Ohrringe, ein nettes Gespräch. Die Verkäufer*innen haben die unterschiedlichsten Motive, die meisten misten die WG aus, andere kaufen in Brockenhäusern ein und verkaufen auf verschiedenen Märkten weiter. Eine ältere Dame mit runder Brille sitzt verborgen hinter Bergen von goldenen Deko-Artikeln mit Bändeln und Rüschen dran, die sie auf einem roten Samt-Tuch ausgebreitet hat. Es ist der Inbegriff von ‘klassischem’ Kitsch.
Ich merke, wie ich es fast süss finde, diese Dingchen, diese Sinnlosigkeit, diese Verziert- und Verzerrtheit, und wie ich mich ganz schnell wieder zusammenreisse. Funktional denken: Brauchst du das wirklich? Nein. Und trotzdem, wir brauchen doch diesen Traum!
Sei es ein ekliger Liebesfilm am Freitagabend oder ein glitzeriger Samichlaus, rote Rosen vom Schatz oder ein goldener Kerzenständer (der könnte sich diesen Winter sogar als ganz funktional erweisen).
Komplette Idylle gibt es nicht
Kitsch rettet uns manchmal vor dem Aufprall auf den harten Boden der Realität oder macht ihn zumindest ein bisschen weicher. Zu lange liegenbleiben möchten wir dann aber trotzdem nicht, das wäre ja langweilig und sinnlos. Also, auf zur Rettung des Klimas in Tennisschuhen!
Und Achtung, diese Saison trägt man die Hosen wieder auf der Hüfte. Zu viele haben sich bereits an die High Waist gewöhnt und sie sich einverleibt. Und coole Jungs tragen nun übrigens Perlenkette. Auf die Selbstfindung und die Bewahrung der Einzigartigkeit!