Good morning, love!

«Scottish Breakfast» aber vegan? Kein Problem fürs ElmRow Café in Edinburgh.

06. Oktober 2022

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Darling, dear, love – die Liste englischer «terms of endearment» ist schier unendlich, ihr Gebrauch im Vereinigten Königreich nahezu alltäglich. Nicht ganz so alltäglich ist ihr Gebrauch in der Schweiz. Ein Gedankenspaziergang.

«Good morning, love», sagte der von mir männlich gelesene junge Kassierer im Tesco eines Morgens noch etwas müde, aber freundlich lächelnd zu mir. Ich lächelte zurück und antwortete mit einem ebenfalls leicht verschlafenen «Morning». Mein feministisches Herz jedoch brannte, mein Kopf schrie: «Sexismus!».

Erst nach Verlassen des Ladens wurde mir klar, weshalb ich – auch wenn bloss in meinem Kopf – so (über-)reagiert hatte und begann zu lachen. Für einen kurzen Moment schien ich vergessen zu haben, dass ich Englisch im Hauptfach studiere und mit der betreffenden linguistischen Konvention eigentlich vertraut sein sollte. Ich schien vergessen zu haben, dass ich nun in England lebte, zumindest für die nächsten sieben Monate.

Die englische Sprache kennt unzählige «terms of endearment» (dt. «Kosewörter») wie love, sweetie, darling oder dear. Gerade im Vereinigten Königreich sind solche Kosewörter ein zentraler Bestandteil alltäglicher Unterhaltungen – des alltäglichen Sprachgebrauchs.

Kosewörter sind Formen der Anrede. Sie werden also gebraucht, um andere Personen – oder auch die geliebte Nachbarskatze – anzusprechen. Kosewörter nehmen auf andere Personen Bezug, haben somit einen deiktischen Charakter und können Nähe, Intimität, Wertschätzung und Höflichkeit ausdrücken. Ausserdem können sie etwas über die Beziehung zwischen Sprecher*in und Adressat*in aussagen.

Mein feministisches Herz jedoch brannte, mein Kopf schrie: «Sexismus!»

Natürlich gibt es nicht nur im Englischen, sondern auch bei uns im Schweizerdeutschen viele «terms of endearment». Neben der Sprache gibt es einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen englischen und schweizerdeutschen Kosewörtern: ihr Gebrauch. Wann der Gebrauch von Kosewörtern akzeptabel ist oder nicht, hängt davon ab, wer was zu wem in welchem Kontext sagt.

Im Vereinigten Königreich gibt es andere gesellschaftliche und sprachliche Konventionen. So ist es dort beispielsweise nichts Besonderes, wenn ein*e Kellner*in in einem Café ihre Kund*innen mit den Worten «Hi, love» begrüsst und sich mit den Worten «Thanks, dear» bedankt – ganz im Gegenteil: Es ist völlig normal (und wie ich finde «äns härzig»).

Mein Lebensmotto seit eh und je. Ob mir das eines Tages zum Verhängnis wird?

 

Anders in der Schweiz. Bei uns ist es nicht üblich, fremde Menschen mit Kosewörtern anzureden. So würden die meisten wohl etwas irritiert reagieren, wenn ein*e Kellner*in sie plötzlich mit «Hoi, (du) liäbs» o.Ä. anreden würde. «Terms of endearment» sind bei uns im Allgemeinen Menschen vorbehalten, die wir gut kennen und zu denen wir eine gute (und eher enge) Beziehung haben. Sie schaffen nämlich Nähe und Vertrautheit.

«Terms of endearment» sind Formen der Anrede.

In Bezug auf Menschen, die wir überhaupt nicht kennen, wollen wir diese Nähe und Intimität meist nicht; wir wollen (erstmal) eine gewisse Distanz wahren. Dies gilt insbesondere für den öffentlichen Raum, offizielle Kontexte.

Dadurch, dass wir in der Schweiz aufgrund anderer gesellschaftlicher und sprachlicher Konventionen den Gebrauch von Kosewörtern in Bezug auf uns fremde, nicht nahestehende Menschen nicht derartig kennen, ist die Art und Weise wie Kosewörter im Vereinigten Königreich gebraucht werden, für uns ungewohnt.

Das erklärt zumindest teilweise, weshalb ich die Begrüssung des Kassierers im Tesco im ersten Moment so unangebracht, gar übergriffig fand. Für einen Moment lang hatte ich vergessen, dass ich mich in England befand und dort dementsprechend andere sprachliche Konventionen herrschten.

Kosewörter schaffen Nähe und Intimität.

Ich reagierte so, wie ich wohl in der Schweiz auf eine solche Begrüssung eines mir gänzlich unbekannten Menschen reagiert hätte: irritiert. Mein Hirn ordnete den Sprechakt des Kassierers als «Catcalling» ein – nicht zuletzt aufgrund früherer Erlebnisse mit dieser Form sexueller Belästigung.

Meine Reaktion zeigt, wie sehr wir gesellschaftliche und sprachliche Konventionen, teils bewusst teils unbewusst, verinnerlicht haben und Sprachen, insbesondere unsere Muttersprache(n), unsere Sicht auf die Dinge beeinflussen.

Zurück in der Schweiz vermisse ich so einiges. So auch die äusserst herzlichen britischen Anreden – mit «terms of endearment».

Goldenes Edinburgh. Die Stadt, die mehr als nur einen Teil meines Herzens hat.

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