Offener Hörsaal, geschlossene Gesellschaft

Foto: SUB

02. März 2022

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Babette Hofstetter und Özgür K. haben am Projekt «Offener Hörsaal» teilgenommen. Dabei können geflüchtete Menschen ein Semester studieren und werden von einem*r Mentor*in betreut. Dass Özgür dennoch einer der wenigen ist, die sich auch regulär immatrikulieren, wirft Fragen zur Initiative auf – und natürlich zur Integrationspolitik.

Als klar war, wir würden einen Artikel zum Offenen Hörsaal schreiben, besuchten wir als allererstes die entsprechende Webseite der SUB. Dort heisst es: «Du bist Student*in an der Uni Bern oder interessierst dich für unser Projekt? Du möchtest gerne mitmachen und eine geflüchtete Person ein Semester lang im Uni-Alltag begleiten und ihr bei Fragen zur Seite stehen? Dann bist du hier genau richtig!» Darunter befindet sich eine Liste an Aufgaben: Stundenplan erstellen, die Uni zeigen, beim Ausfüllen von Dokumenten helfen. Und gleich darunter? Das Anmeldeformular. Klick. Ein einseitiges Dokument tut sich auf. Ausfüllen, abschicken, wushhh. So leicht wirst du Mentor*in!

Sobald uns Babette Hofstetter (Studentin im Bereich Osteuropa-Studien und Mentorin) und Özgür K. (Rechtswissenschaftsstudent und Teilnehmer beim Offenen Hörsaal) für ein Interview zusagten, ging bei uns das Kopf-Kino los: Beide sitzen stundenlang gestikulierend in einer Unicafeteria vor einem E-Formular, das Haar zerrauft, aus den Ohren qualmt Rauch, Studierende kommen und gehen, sie bleiben. Mit Händen und Füssen versucht Babette zu erklären, was eine Unternehmensidentifikationsnummer ist und weshalb eine Meldung bei der Ausgleichskasse nötig ist.

Tatsächlich war Özgürs und Babettes Alltag viel vielschichtiger und Formulare erforderten keinen Langzeitarbeitsplatz in der Cafeteria.

SUB: Ihr habt im letzten Semester beim Offenen Hörsaal mitgemacht. Warum?

Özgür: Da ich in meinem Heimatland studiert und gearbeitet habe, wollte ich wissen, was hier möglich ist. Ich recherchierte Studien- und Arbeitsmöglichkeiten… So bin ich auf den Offenen Hörsaal gestossen.

Babette: Weil ich die Idee des Offenen Hörsaals sehr wichtig finde, wie die ganze Thematik des Hochschulzugangs und zur Gesellschaft generell. Und wegen der Begegnungen. Ich mache zum dritten Mal mit und es sind immer tolle Menschen dabei.

Und was blüht dir, wenn du Mentor*in oder Mentee wirst?

Özgür: Du lernst das System kennen und die Kultur von hier. Und die Studis, die lernst du auch kennen.

Babette: Ich finde «blühen» etwas negativ; dich erwarten neue Leute. Du solltest bereit sein, dies und jenes zu erklären, Fragen zu beantworten und vielleicht einmal eine E-Mail irgendwohin zu schreiben. Aber vor allem geht es um einen persönlichen Austausch und darum, sich gegenseitig zu helfen und kennenzulernen.

…helfen auch bei E-Formularen?

Babette: Das war bei uns nicht so häufig Thema, weil Özgür schon immatrikuliert war und keine oder fast keine administrativen Hürden mehr überwinden musste. Und da er sehr gut Deutsch spricht und Jurist ist, wusste er oft besser Bescheid als ich.

Özgür: Das Problem ist vor allem die Sprache: Ich habe schon ein wenig Deutsch gesprochen, als ich in die Schweiz kam. Aber ich habe Freund*innen, die kaum Deutsch sprechen können, und die haben viele Schwierigkeiten mit diesen Formularen. Und Formulare – davon gibt es hier in der Schweiz sehr viele.

«Da er sehr gut Deutsch spricht und Jurist ist, wusste er oft besser Bescheid als ich.» – Babette

Beim Offenen Hörsaal können Mentees lediglich Vorlesungen besuchen, die Prüfungen dürfen sie nicht mitschreiben. Wie war das für dich, Özgür?

Özgür: Dass ich nicht an Prüfungen teilnehmen konnte, macht eine Selbsteinschätzung schwierig für mich. Ich hätte gerne gewusst, wo ich stehe. Denn wenn ich im Studium nicht mithalten kann, würde ich gerne frühzeitig einen anderen Weg wählen.

«Das Hauptproblem ist der Zugang zu Information.»

Wo liegen eurer Ansicht nach die grössten Hürden für geflüchtete Menschen, die studieren wollen?

Özgür: Das Hauptproblem ist der Zugang zu Information. Natürlich habe ich gedacht: Ich habe in meinem Heimatland als Jurist gearbeitet, also werde ich damit weitermachen in der Schweiz und Jus studieren. Wenn mir meine jetzige Sozialarbeiterin nicht den Weg gezeigt hätte, wäre ich vielleicht immer noch ohne Studium.

Babette: Dass es nicht um die Interessen der Personen geht, sondern um die möglichst schnelle Eingliederung in den Arbeitsmarkt und die Fähigkeit, wirtschaftlich so schnell wie möglich Leistung zu erbringen. Unabhängig von den Wünschen und Fähigkeiten der einzelnen Personen und davon, was das langfristig bedeutet.

Wie würde eure Google-Bewertung vom Offenen Hörsaal aussehen?

Özgür: Der Offene Hörsaal läuft ehrenamtlich. Mentor*innen und Mentees sollten sich über das Studi-Leben unterhalten und sich unbefangen kennenlernen dürfen… Wenn offizielle Dinge von den Mentor*innen erwartet werden, dann wird auch die Beziehung offizieller, weniger warmherzig. Ausserdem: Für Migrant*innen ist wichtig, ob sie ihren Fachbereich weiterverfolgen können. Welche Praktikumsmöglichkeiten und Studiumsmöglichkeiten habe ich hier und wie lange wird das dauern? Zum Beispiel gibt es viele Menschen, die vor 10 oder 20 Jahren hergekommen sind und jetzt hier arbeiten. Von denen ein Seminar zu besuchen wäre effektiv, denke ich

Babette: Ich bin sehr einverstanden mit Özgür. Die Workshops sollten sich mehr um die Fragen der Mentees drehen, als darum, wie wir miteinander umgehen sollten. Aber trotzdem würde ich dem Offenen Hörsaal viereinhalb von fünf Sternen geben. Der Offene Hörsaal war für mich auf alle Fälle eine Brücke, um mit den Themen Flucht und Asylpolitik in Kontakt zu kommen. Und das ist wichtig! Das ist die Grundlage, um über Veränderungen diskutieren zu können und sie anzugehen.

Wie viele Sterne würdest du geben, Özgür?

Özgür: Bezüglich des Kulturaustauschs schliesse ich mich Babette mit viereinhalb Sternen an, es bildet eine gute Brücke zwischen Geflüchteten und Studis. Bezüglich der Workshops im Offenen Hörsaal würde ich drei Sterne vergeben, da sie für die Bedürfnisse von Geflüchteten nicht so relevant sind und sich das Programm noch weiterentwickeln sollte.

«Das Hauptproblem ist der Zugang zu Information.» – Özgür

Wenn ihr in der Unileitung sässet, wie würdet ihr den Offenen Hörsaal verändern?

Babette: Ich würde sicher den Zugang zum Studium vereinfachen oder auch den
Offenen Hörsaal als Sprungbrett zu einem «richtigen» Studium, das auch anerkannt wird, ansehen. Weil… Özgür, bist du nicht sogar der Einzige? Ich kenne sonst keine Person, die an der Uni studieren konnte nach dem Offenen Hörsaal.

Özgür: Ich weiss auch nur von wenigen, die studieren. Eines der grössten Probleme ist die Sprache. An der Uni Bern gibt es gute Möglichkeiten für Sprachkurse, aber die sind für den Offenen Hörsaal geschlossen. Das würde ich ändern. Und ich denke, dass die Prüfungen offen zur Teilnahme sein sollten, wie in französischsprachigen Kantonen. Und wenn du bestehst, kannst du dir das Fach anrechnen lassen, sobald du das Studium anfängst. Diese beiden Punkte wären mir am wichtigsten.

Habt ihr denn das Gefühl, dass der Offene Hörsaal in der jetzigen Form einen Beitrag zu einem gerechteren Zugang zu Bildung leistet?

Babette: Ich glaube ganz grundsätzlich, dass – egal welches Thema – es immer erst in kleinen Projekten anfängt und dass diese kleinen Initiativen genau deswegen wichtig sind.

Özgür: Stimmt. Und die Organisation wächst auch. Letzten Endes ist es wie bei
allem im Leben: Veränderung braucht Zeit.

text: julia beck, florian rudolph

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Der Offene Hörsaal (mehr Infos hier) ist eine Initiative der SUB und möchte Zugang zu Bildung und Gesellschaft schaffen und die Möglichkeit auftun, einen Einblick in den Studialltag der Uni Bern zu bekommen.

Für mehr Inputs zur Bildungspolitik gleich die Agenda zücken und den 24. März 2022 von 19.00 bis 20.30 Uhr, inkl. anschliessendem Apéro, reservieren. Im Kuppelraum des Hauptgebäudes findet die Veranstaltung «Flucht und Studium» im Rahmen der Aktionswoche gegen Rassismus statt. Weitere Infos zur Veranstaltung siehe Grafik unten.

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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #27 Februar 2022

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