Sommermoment #18

Illustration: Lisa Linder

25. September 2021

Von

Estragonsirup und revolutionäre Energie in Südfrankreich. Oder: Weshalb unser Autor den Status Quo nicht mehr gegen die Vorboten einer reaktionären Dystopie verteidigt.

Ein halber Liter kühlen Estragonsirups, dazu warmer Ziegenkäse mit Honig, ein Schattenplatz unter der Pergola und ein angenehmes Gefühl von Erschöpfung. Wenige hundert Meter weiter oben waren wir den ganzen Tag mit Klettern beschäftigt. Nun halten wir einen Moment inne, ehe wir uns mit dem ganzen Material auf den Weg zum Zeltplatz ein Dorf weiter machten. Es ist einer jener Momente, in denen für einen kurzen Moment alles am richtigen Platz scheint. Einer jener Momente, der sich für immer in die eigene Erinnerung einbrennt.

Obwohl seither zwei Jahre vergangen sind, erinnere ich den Moment noch immer in allen Details. Wir waren eher zufällig an diesem Ort vorbeigekommen, an dem Veränderung und eine andere Zukunft greifbar schienen. Dieses Ökodorf im Süden Frankreichs, wo sich Idealisten basisdemokratisch organisierten, Ziegen und Schafe hielten und Gartenkräuter zu Sirup verarbeiteten. Es war ein Ort, der Hoffnung schaffte – in jenem Sommer, der nach Aufbruch roch. Plötzlich schien ein grosser Teil der Mehrheitsgesellschaft bereit, über andere Formen des Gemeinwesens und Werte jenseits von Wachstum, Profit und Sicherheit zu diskutieren.

Zwei Jahre später scheint diese die revolutionäre Energie verflogen. Wo heute von Wandel, neuen Gesellschaftsformen und Herrschaftskritik gesprochen wird, schwingt der miefige Geruch völkischen Denkens, Reduitpatriotismus und blinder Volkszorn mit. Wer vor zwei Jahren noch von einer progressiven Zukunft träumte, sieht sich heute genötigt, den Status Quo gegen die Vorboten einer reaktionären Dystopie zu verteidigen. Denn jene, die sich als staatstragend sehen sind es offenbar nicht.

Vielleicht gerade deshalb ist die Erinnerung an jenen Sommermoment vor zwei Jahren für mich so präsent. Was damals galt, ist auch heute noch wahr: Veränderung ist greifbar. Und vor allem braucht es gerade jetzt, wo der Liberalstaat in einer Krise steckt, hoffnungsvolle Utopien. Denn ich will dem reaktionären Zeitgeist nicht damit begegnen, indem ich das verteidige, was ich ohnehin zu überwinden suche. Ich will für eine Zukunft einstehen, in der sich Freiheit und Solidarität nicht ausschliessen.

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