Experte #24
Illustration: Tobias Bolliger, www.tobiasbolliger.ch
Liam (21) aus Bern fragt: Es heisst, das letzte Hemd habe keine Taschen. Kann ich meine Bitcoins trotzdem mitnehmen?
Lieber Liam
Vorweg ein Lob: Angesichts deines zarten Alters bewundere ich deine Weitsicht, dich mit deiner eigenen Vergänglichkeit zu beschäftigen. Und obwohl ich dem sinnlichen Genuss durchaus ergeben bin, will ich dir jetzt kein «carpe diem» oder gar ein «yolo» um die Ohren hauen.
Selbst wenn ich der Überzeugung bin, dass es durchaus gesund sein kann, als keineswegs ausgewiesener Experte einer Studierendenzeitschrift diesen beiden Gemeinplätzen mit etwas weniger Zynismus zu begegnen. Wichtiger dünkt es mich, den Tod als Ansporn, etwas zu
verändern, und nicht nur als Anlass zum Geniessen anzusehen. Denn was im Diesseits nicht geschieht, bleibt auf der Strecke.
Aber um auf deine eigentliche Frage zu sprechen zu kommen: «Das letzte Hemd hat keine Taschen» soll uns ermahnen, dass irdischen Gütern die Tür zum Jenseits verschlossen bleibt. Der Tod ist der letzte und absolute Gleichmacher. Doch die Funktion, die der Tod für das Jenseits erfüllt, kehrt sich für das Diesseits um: Alleine 2020 wurden in der Schweiz 95 Milliarden Franken auf die Konten Hinterbliebener geschrieben (mehr als der gesamte Bundeshaushalt).
Und wie so oft bekommen die allermeisten das allerwenigste und die allerwenigsten das allermeiste. Auch Kryptowährungen gehören selbstverständlich zum vererbbaren Vermögen. Zwar wirst du deine Bitcoins nicht an der Himmelspforte vorbeischmuggeln können, dafür brauchst du dir aber keine Sorgen mehr über die Befriedigung der irdischen Bedürfnisse deiner Verwandten zu machen. Sie können sich nach eingehender Konsultation des Darknets fortan mit etwas Spice jeden klaren Gedanken aus dem Kopf pusten, mit ein paar Spoon Lean einen Purple Drank anmischen oder vor dem Ausgang gehörig die Nase pudern.
Ob vorher etwas von deinem Erbe abgeschöpft wird, hängt ganz davon ab, in welchem Kanton es dir die Sprache verschlägt. Hast du zum Beispiel das Glück, im Kanton Schwyz in die Kiste zu hüpfen, dürfen sich alle Erb*innen schamlos an deinen Habseligkeiten bedienen, ohne dass ihnen der Fiskus auch nur einen einzigen Reka-Check abknöpft.
Dagegen erscheinen die 3%, die der Kanton Neuenburg selbst direkten Nachkommen einer Verblichenen abzwackt, geradezu gaunerisch. Wieder einmal gilt das urhelvetische Sprichwort, das schon Wilhelm Tell in seine Armbrustbolzen geritzt haben soll: «C’est le (can)ton qui fait la musique.» Auch Tell war sich des interkantonalen Steuerwettbewerbs bewusst und segnete das Zeitliche schlauerweise im Schächenbach (Kanton Uri; keine Erbschaftssteuer für direkte Nachkommen). Billiges Sterben als Standortvorteil eben – willkommen in der Schweiz.
Föderalistische Grüsse aus der Bundesstadt
Dein Experte
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