Das bekannte Geheimnis

Der Heillige Laurentius soll auf dem Rost den Märtyrertod erlitten haben und wird deshalb heute von manchen «Faiseurs de Secret» bei Verbrennungen zur Hilfe gerufen. Bild: zvg
Unerklärliches Phänomen, alltägliche spirituelle Praxis und Schweizer Kulturerbe. Die «Faiseurs de secret» nehmen einen aussergewöhnlichen Platz in der französischsprachigen Schweiz ein.
Francis S. war 8 Jahre alt, als der Fribourger zum ersten Mal in seinem Leben von den «Faiseurs de secret» hörte. Sein Bruder litt an einer Warze am Daumen. Dermatologen gab es damals keine in der Gegend und so wurde der Bruder kurzerhand zu einem Mann geschickt, der das «Geheimnis» besass. Zweimal ging er zu ihm, um das «Geheimnis machen zu lassen». Einige Wochen später war die Warze weg. Francis S. ist mittlerweile 58 Jahre alt, die Tradition der «Faiseurs de secret» ist aber ebenso lebendig wie in seiner Kindheit. Die «Faiseurs de secret», die auch als «les gens qui ont le secret», «les leveurs de maux» oder unter weiteren Namen bekannt sind, finden sich in der ganzen Westschweiz, insbesondere aber in den Kantonen Wallis, Freiburg und Jura. In der Deutschschweiz ist das Phänomen ausser in der Innerschweiz und im Appenzell kaum bekannt.
Spirituelle Hilfe übers Telefon
Die «Faiseurs de secret» werden vor allem bei kleinen Verletzungen oder Leiden wie Verbrennungen, Blutungen oder Warzen kontaktiert. Je nach Leiden muss ein anderer «Faiseur de secret» kontaktiert werden, der oder die das entsprechende «Geheimnis» besitzt. Das «secret du feu» kann bezeichnenderweise nur bei Verbrennungen eingesetzt werden. Die verletzte Person kann einen «Faiseur» oder eine «Faiseuse» anrufen, ihnen eine SMS schreiben oder auch persönlich vorbeigehen. Diese fragen sie dann als erstes nach ihrem Namen, Aufenthaltsort und nach der genauen Verletzung. Mithilfe dieser Informationen können sie anschliessend das «Geheimnis machen». Woraus das Geheimnis genau besteht, wissen nur die Eingeweihten selber. Um das Phänomen ranken sich viele alte, mythische Vorstellungen. So heisst es, wer das Geheimnis laut ausspreche, verliere die Kraft zu heilen. Deshalb wird es bis heute von den «Faiseurs de secret» nur innerlich aufgesagt.
«Wir sind keine Wunderheiler*innen»
So viel steht aber fest: Es handelt sich um eine Art Gebet, das von Gesten begleitet werden kann. Das können zum Beispiel Kreuze sein, die über der entsprechenden Körperstelle geschlagen werden.Dieses Prozedere kann je nach Verletzung auch mehrmals, manchmal über mehrere Tage hinweg wiederholt werden. Die «Faiseurs de secret» betonen allerdings, dass sie keine Wunderheiler*innen sind. Sie können einen Menschen nicht wieder vollständig gesund machen. Deshalb ist das «Geheimnis» auch kein Ersatz für eine eventuell notwendige medizinische Behandlung. Sie glauben aber daran, dass es Schmerzen lindern, Blutungen verringern und die Wundheilung verbessern kann. Es könne innere Ressourcen mobilisieren, um den Heilungsprozess zu verbessern. Und nicht nur sie glauben daran. Eine «Faiseuse de secret» anzurufen ist weit verbreitet und die Kontaktmöglichkeiten zahlreich. Listen mit Telefonnummern zirkulieren und liegen oft auch in Krankenhäusern auf. Viele praktizieren das Geheimnis jedoch vor allem im Familien- und Bekanntenkreis und ihr Kontakt wird nur durch Mund zu Mund-Propaganda weitergegeben.
So hat Doris P. zum ersten Mal mit 13 Jahren von ihrer Grossmutter von den «Faiseurs de secret» gehört. Die Grossmutter war es dann auch, die bei Fällen von Verbrennungen oder Nasenbluten ihrer Enkel*innen einen «Faiseur de secret» angerufen hat. Die Resultate waren überzeugend. «Ich glaube, dass es funktioniert», meint die mittlerweile 24-Jährige, die mitten in ihrem Studium der Sozialen Arbeit steckt. «Einmal habe ich mir aus Versehen einen Topf heisser Bouillon über den Bauch geschüttet. Die Stelle war stark verbrannt und ich habe sofort einen «Faiseur de secret» angerufen», erzählt sie. «Die Verbrennung ist daraufhin sehr schnell verheilt und hat keine Narbe hinterlassen.»
Von der Kirche verboten
Die «Faiseurs de secret» gehören zusammen mit den Einrenker*innen, die körperliche Eingriffe vornehmen und den Heiler*innen, die sich auf Magnetismus und Ähnliches spezialisiert haben, in die alte Heiltradition der Westschweiz und wurden sogar ins immaterielle Kulturerbe der Schweiz aufgenommen. Sie sind allerdings kein spezifisch schweizerisches Phänomen. Ähnliche Phänomene könnten in ganz Europa beobachtet werden, meint Magali Jenny. Die Ethnologin hat sich für ihre Lizenziatsarbeit ausführlich mit den Heiler*innen in der Westschweiz beschäftigt. «In der Deutschschweiz ist das Phänomen dagegen ziemlich unbekannt», erklärt sie, «hier kann aber beobachtet werden, dass eine Professionalisierung solcher Praktiken stattfindet, die es so in der Westschweiz erst seit kurzem gibt.»
Das Phänomen scheint den Übergang in die Moderne problemlos geschafft zu haben.
Die historischen Ursprünge der «Geheimnisse» liegen im Dunkeln. Wahrscheinlich gehen sie auf vorchristliche Bräuche zurück, die dann christlich adaptiert wurden. Die ersten schriftlichen Zeugnisse gehen auf die Hexenprozesse des Mittelalters zurück. In das Mahlwerk der Inquisition sind damals auch «Faiseurs de secret» geraten, die unter Folter zur Preisgabe ihrer Gebete und Segenssprüche gezwungen wurde. Die Kirche hat die Heilerei lange Zeit verboten. Was auch ein Grund sein könnte, weshalb das «secret» bis heute einer Geheimhaltung unterliegt.
Trotz der Missbilligung von oben hat das «Geheimnis» überlebt. Denn auf dem Land war der Gang zur «Faiseuse de secret» lange Zeit die naheliegendste Behandlung kleinerer Leiden. In neuerer Zeit hat sich die Praxis des «Geheimnisses» aufgrund moderner Technologien gewandelt. Über die sozialen Medien findet vermehrt auch ein Austausch zwischen «Faiseurs de secret» statt, die Medien berichten über das Phänomen und es gibt sogar eine App, «Le Secret», die Kontakte bereitstellt.

Die App «Le Secret» stellt Kontakte, Hilfestellungen und News bereit. Bild: Screenshot Le Secret
Das Phänomen scheint den Übergang in die Moderne problemlos geschafft zu haben. So ist die Praxis des «secret» trotz einer zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft keinesfalls verschwunden. «Im Gegenteil», meint Jenny, «Als ich angefangen habe zu forschen, war ich überrascht, wie lebendig diese Praxis noch ist.» Eine vermehrt kritische Haltung gegenüber der Schulmedizin hat gleichzeitig zu einer Enttabuisierung alternativer Heilpraktiken geführt. «Heute trauen sich die Leute zu erzählen, dass sie einen «Faiseur de secret» angerufen haben», so Jenny.
«Ich besitze das Geheimnis des Feuers»
Aber wer sind diese Leute, die das Geheimnis haben? Es gibt weder eine Gemeinschaft noch einen grossflächigen Austausch zwischen «Faiseurs de secret» in der Schweiz. Auch Regeln gibt es kaum. Mit der einen wichtigen Ausnahme, dass das «Geheimnis» nur an jüngere und vertrauenswürdige Personen weitergegeben werden darf. Das ergibt auch Sinn, denn so kann das Geheimnis an die nächste Generation weitergegeben werden.
Da die Gebetsformel nicht laut ausgesprochen werden darf, findet auch die Weitergabe nicht mündlich, sondern schriftlich auf einem Stück Papier statt. Früher wurde das Geheimnis nur an eine einzige Person weitergegeben, heute manchmal auch an mehrere, um ein Fortbestehen zu garantieren. Dabei werden soziale und altersbedingte Barrieren überwunden. Ein «Faiseur» oder eine «Faiseuse de secret» kann ebenso gut ein sechzigjähriger Landwirt aus dem Jura wie auch eine junge Studentin in Fribourg sein.
So zum Beispiel Joanne F. Die 24-Jährige studiert Soziologie im Master und ist sozusagen mit dem «Geheimnis» gross geworden: Ihre Mutter besitzt, seit sie denken kann, zwei Geheimnisse – das «secret du feu» gegen Verbrennungen und das «secret du sang» gegen Blutungen. Die Primarlehrerin hat ihre Telefonnummer zwar auf keiner Liste öffentlich zugänglich gemacht, ist in ihrem Familien- und Bekanntenkreis aber als «Faiseuse de secret» bekannt. «Es ist schon fast ein Reflex», erklärt ihre Tochter, «wenn sich jemand verbrennt, schickt man ihr schnell eine SMS oder ruft sie an, damit sie das Geheimnis macht. Sozusagen präventiv.»
Vor einem Jahr hat Joannes Mutter ihr nun das «secret du feu» anvertraut. Sie hatte gewartet, bis sie sicher war, dass Joanne genug reif und selbstsicher ist, um das Geheimnis mit den besten Absichten auszuüben. Seither konnte sie es allerdings noch nicht oft anwenden. Die Leute gehen immer noch eher zu ihrer Mutter. Sie müsse auch erst in der Anwendung noch sicherer werden. «Es ist eine Frage des Selbstvertrauens», erklärt sie, «ich glaube an das Geheimnis – aber nicht immer daran, dass ich es auch selber schaffen kann.»
Eine unbezahlte Gabe
Die Bereitschaft zu helfen und anderen Gutes zu tun, hat Joanne F. schon von klein auf an der speziellen Fähigkeit ihrer Mutter fasziniert und stolz gemacht. Schnell hat sie aber begriffen, dass es nicht etwas ist, das man einfach mal so auf dem Pausenplatz erzählt. Auch später, als sie im Rahmen eines Kurses ihres Soziologiestudiums über die Fähigkeiten ihrer Mutter sprach, waren die Reaktionen gespalten. «Einige haben meine Mutter wohl für eine Scharlatanin gehalten», meint die Studentin. Dabei wird mit dem «Geheimnis» kein Geld gemacht. Für ihre Dienste verlangen die «Faiseurs de secret» keine Bezahlung. Sie machen es, um den Leuten zu helfen. Was nicht heisst, dass manche Leute danach nicht aus Dankbarkeit etwas geben. Auf dem Land, erklärt die Ethnologin Jenny, war es früher zum Beispiel üblich, Lebensmittel als Gegenleistung mitzubringen.
«Einige haben meine Mutter wohl für eine Scharlatanin gehalten.»
«Man gibt, was man will», meint auch Francis S. Der 58-jährige Elektriker geht oft mit seinen Tieren zu einem «Faiseur de secret». Dass das Geheimnis auch für Tiere und Kleinkinder funktionieren soll, ist ein Aspekt des Phänomens, der nur schlecht mit dem Placebo-Effekt erklärt werden kann. «Ich hatte ein Fohlen mit Flechten», erzählt Francis S., «Als erstes rief ich natürlich den Arzt. Der konnte mir nur eine Salbe geben und meinte, er habe leider kein Wundermittel. Also ist ein Freund zu mir gekommen, der das Geheimnis besitzt. Und kurze Zeit später war das Fohlen wieder gesund.» Die Salbe habe er natürlich auch angewendet. Das «Geheimnis» wird nicht als Ersatz schulmedizinischer Mittel angesehen, sondern als Ergänzung. Eine der gelebten Grundsätze der «Faiseurs de secret» ist es, nie von einer medizinischen Behandlung abzuraten. Sie stehen dementsprechend auch nicht in Konkurrenz mit der Schulmedizin.
Glauben – aber an was?
Muss ein «Faiseur de secret» gläubig sein? «Der Glaube an einen bestimmten Gott ist nicht wichtig», erklärt Jenny, «es ist eher eine Frage der Spiritualität. Nicht alle «Faiseurs de secret» sind im traditionell christlichen Sinne gläubig. Aber alle glauben an etwas Höheres.» Schliesslich handelt es sich beim «secret» schon um ein Gebet. An wen das schlussendlich gerichtet ist, komme nicht darauf an, meint auch Joanne F. Die «Faiseuse de secret», die sich selber als spirituell gläubig bezeichnet, fügt dem hinzu: «An welche höhere Kraft man appelliert, ist unwichtig. Wichtig ist es, an die Fähigkeit des Geheimnisses zu glauben.»
Eine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen hat sie nicht. Es gibt keine. Und es brauche auch keine, finden viele. Manche vermuten den Placebo-Effekt dahinter, der dann eine verbesserte Selbstheilung auslöst. Bewiesen werden kann es nicht. Es gibt nur die Menschen, die daran glauben, dass es funktioniert, und die Geschichten von kleinen Wundern, die die meisten erzählen, die regelmässig einen «Faiseur de secret» anrufen.
«Wichtig ist es, an das Geheimnis zu glauben.»
Doch obwohl die Methode offiziell nicht anerkannt ist, wird sie stillschweigend auch von der Schulmedizin geduldet. Und nicht nur geduldet. Manche Krankenhäuser im Kanton Fribourg und Jura halten sogar Nummern bereit für Patient*innen, die eine Person anrufen möchten, die das «Geheimnis» besitzt. Nach dem Prinzip: Es kann ja nicht schaden.
Dieser Meinung sind nicht alle. Die Kirche hat seit jeher ein gespaltenes Verhältnis zum «Geheimnis». Und das, obwohl die darin verwendeten Segenssprüche oft eine Heilige oder einen Heiligen anrufen, oder sich auf Jesus oder Gott beziehen. Heute wird die Praxis zumindest toleriert, wenn auch nicht von allen. «Allein die Tatsache, dass es «geheim» ist, ist dubios», so der Priester und Domherr Alain Chardonnens im Gespräch mit dem Portail Catholique Suisse, denn, «eine wahrhaftige Gabe des Heiligen Geistes hat keine Angst, sich offen zu zeigen.» Man könne nicht wissen, ob nicht doch am Ende der Teufel dahinterstecke.
Dabei verpassen die kritischen kirchlichen Stimmen, dass im Phänomen selbst ein grundlegender christlicher Wert steckt: derjenige der Nächstenliebe. So beendet Jenny die Frage des Glaubens mit der Antwort: «Um das Geheimnis anwenden zu können, ist die Liebe viel wichtiger als der Glaube. Eine Person, die das «Geheimnis» erhält, muss fähig sein, ihren Nächsten zu lieben.»