Studienbeginn auf Norwegisch
Die Aussicht auf den Trondheim Fjord. Wo sich wohl unsere Fadder befinden? Foto: Melchior Blum.
Im hohen Norden beginnt die akademische Ausbildung mit Grillieren, Kostümpartys und einer Taufe. Die sogenannte Fadderuka bietet für Studierende die ideale Gelegenheit, schnell Anschluss zu finden. Das könnte die Schweiz auch ausprobieren.
Ich eile den Hügel hinauf zur Kristiansten Festning, die alte Festung ist eines der wenigen Wahrzeichen Trondheims. Wir haben uns um 16 Uhr verabredet und ich bin etwas spät dran, denn was auf Google Maps wie ein lockerer Spaziergang aussieht, verwandelt sich mit der hiesigen Topografie schnell in eine regelrechte Wanderung. Dort angekommen treffe ich sogleich auf eine Gruppe anderer mutmasslicher Studierender, die etwas ratlos umherwandern. Ich bin erleichtert; scheinbar bin ich nicht der Einzige, der auf der Suche nach den sogenannten Faddern ist.
Mich treibt es nach Trondheim, um an der NTNU (Norwegens Technisch-Naturwissenschaftliche Universität) mein Masterstudium zu beginnen. Wie an allen norwegischen Universitäten wird zum Auftakt des Studiums auch hier die sogenannte Fadderuka, die Göttiwoche, veranstaltet. Über den Zeitraum von einer Woche führen eingesessene Student*innen die Neuankömmlinge in den Campus und die Studienstadt ein und organisieren verschiedenste Aktivitäten, um das gegenseitige Kennenlernen zu fördern. Es ist für mich die ideale Möglichkeit, bereits vor dem Studienstart den Anschluss an ein neues Netzwerk zu finden.
Was Trondheim vom restlichen Norwegen unterscheidet? NTNU ist die grösste Universität im Land und das überschaubare Trondheim gilt als die Studienstadt schlechthin. Deshalb verleibt sich die Fadderuka hier zusätzlich die erste Woche des Semesterbeginns ein. Bei der Festung entscheiden wir uns, die verschiedenen Feuerstellen abzuklappern, da auf unserem Plan von Grillieren die Rede war. Und tatsächlich, nach wenigen Minuten finden wir unsere zukünftigen Fadder, welche sich mit einem bedruckten T-Shirt der Fachschaft erkenntlich zeigen.
NTNU ist die grösste Universität im Land und das überschaubare Trondheim gilt als die Studienstadt schlechthin.
Unsere Namen werden nacheinander aufgerufen und wir werden in kleinere Gruppen à 15-20 Studierenden mit einem bis zwei Fadder eingeteilt. Um das Ansteckungsrisiko von Covid-19 zu minimieren, wird stets darauf geachtet, dass wir keinen Kontakt mit den anderen Gruppen haben – etwas, wofür ich später noch dankbar sein werde. Das Eis brechen wir mit ein paar lockeren Kennenlernspielen, Speed Dating und schliesslich einem «Capture the Flag» Wettkampf.
Für die nächsten zwei Wochen erhalten wir einen Stundenplan mit einem mehr oder weniger Coronafreundlichem Programm mit vielen Outdooraktivitäten. Meine Highlights darunter sind die «Dragvollympics» (Ein Wortspiel mit dem Namen unseres Campus Dragvoll), der Murder-Mystery Abend, eine Kostümparty mit dem Motto «Back to the Future» sowie eine Drag Party mit Verkleiden und abschliessend unsere symbolische Taufe.
Von satanischen Ritualen und Essiglösungen
Für mich bietet die Fadderuka zweifelsohne eine grossartige Möglichkeit zur Integration in ein neues Milieu. Diese Sicht wird aber nicht von allen geteilt: Im Meinungsartikel «The Unwelcoming Welcoming Event» beschrieb eine finnische Doktorstudentin, wie sie einen Teil dieser Aufnahmerituale letztes Jahr als Aussenstehende wahrgenommen hatte.
Hinter dem Hauptgebäude des Campus Gløshaugen beobachtete sie Studierende, gehüllt in Ganzkörperkostüme, inklusive Teufelshörner und Blackface-Schminke. Sektenähnlich wurden sie von den Gotten und Göttis in einem Kreis gesammelt und durch lautes Geschrei zu physischen Aktivitäten verdonnert. Während der Mittagspause bemerkte sie anschliessend, wie eine Gruppe von Student*innen mit verbundenen Armen und Beinen durch den Korridor der Universität robbte.
Hinter dem Hauptgebäude des Campus Gløshaugen hüllten sich Studierende in Ganzkörperkostüme, inklusive Teufelshörner und Blackface-Schminke.
Sie sei sich klar darüber, dass es sich um ein freiwilliges Aufnahmeritual handelt, welches bewusst herausfordernd sein sollte, dennoch wirke das ganze Ritual auf sie als Aussenstehende höchst befremdend, einschüchternd und wie ein Fall von «systematischem Mobbing.» Deshalb rief sie die NTNU dazu auf, Stellung zu beziehen und solche Aktivitäten auf dem Campus zu verbieten. Als Alternative schlug sie vor, freundlichere Events zu organisieren, wie zum Beispiel «kostenfreien Tee, Umarmungen und Infos über die Menschenrechte.» Ein anderes Ereignis schaffte es 2017 in die nationalen Medien, als elf Studierende nach einem Shot mit Essiglösung hospitalisiert wurden.
Während einer Schnitzeljagd durch die Stadt mussten sie eine Mixtur trinken, die angeblich halb aus Wasser, halb aus Essig bestand. Schnell wurde ihnen jedoch übel und sie mussten ins Krankenhaus. Statt einem Haushaltsessig wurde versehentlich zu einer Essigessenz gegriffen, welche gut sechsmal stärker ist. Da ein Student mit ernsten Schäden auf der Intensivstation landete, leitete die Polizei eine Untersuchung ein. Der genesene Student selbst sagt, er verurteile niemanden. Er habe das Umfeld trotz allem als sicher und offen für alle wahrgenommen.
Die Universitätszeitung schreibt einige Wochen später, dass die Fadderuka dieses Jahr vielleicht gerade wegen Corona für viele inkludierender war, da das weniger exzessive Programm einige abholen konnte, die ansonsten einen Bogen um die Fadderuka gemacht hätten. Zudem fällt diese in den humanistischen und sozialwissenschaftlichen Studiengängen im Unterschied zu den technischen Fächern am Campus Gløshaugen ohnehin etwas lockerer aus und wird nicht ganz so ernst genommen.
Norwegen ist gespalten
Am zweiten Tag verabreden wir uns bei der Statue von Olav Tryggvason, dem legendären Gründer Trondheims. Von dort nehmen wir das weltweit nördlichste Tram zu einem kleinen See etwas ausserhalb der Stadt, um zu grillieren, schwimmen und uns besser kennenzulernen.
Plötzlich erscheint auf meinem Smartphone eine Push-Nachricht von Verdens Gang, Norwegens Äquivalent zu 20 Minuten. Anscheinend gab es an unserem Campus eine Infektion mit Covid-19. Auch unser Fadder hört davon zum ersten Mal und nach einer kurzen Beratung mit der Fachschaft wird entschieden, alle Events bis auf Weiteres auszusetzen. Da wir jedoch keinen direkten Kontakt mit anderen Gruppen hatten und auch nicht Quarantäneregeln unterstellt sind, entscheiden wir uns dennoch, privat mit unserer Gruppe ein paar Aktivitäten zu unternehmen.
Die Debatte um die Fadderuka und Corona entwickelt sich in den nationalen Medien zum regelrechten Shitstorm. Es wird berichtet, wie sich im Zusammenhang mit der Fadderuka tausende von Jugendlichen im Frognerpark in Oslo versammelten, um zu feiern und scheinbar wenig auf Sicherheitsabstände achteten. Viele Stimmen äussern sich dazu, dass es unverantwortlich sei, diese trotz Covid-19 durchzuführen.
«All jenen, die jetzt mit einem Zeigefinger auf uns zeigen, denen strecke ich ihn gerne zurück. Nicht wir waren es, die in Spanien Ferien machten und Corona überhaupt wieder hierhin brachten.»
Gegenstimmen meinen, den Studierenden würde man damit jegliche Möglichkeit zur Sozialisierung nehmen. Zudem halten sich die meisten auch an die Schutzkonzepte, halten Abstand und desinfizieren sich die Hände regelmässig. Jemand in meiner Gruppe meint entrüstet: «All jenen, die jetzt mit einem Zeigefinger auf uns zeigen, denen strecke ich ihn gerne zurück. Nicht wir waren es, die in Spanien Ferien machten und Corona überhaupt wieder hierhin brachten.»
Die Gesellschaft scheint gespalten: jeder glaubt im Anderen den Sündenbock für die steigenden Infektionszahlen zu sehen. Im Fall von Trondheim lässt sich sagen, dass die Fadderuka die Infektionszahlen kaum beeinflusst hat. Denn in der Provinz Trøndelag, mit der Hauptstadt Trondheim, gab es vor und nach der Fadderuka nicht mehr als zwei bis fünf Neuinfektionen pro Tag. Als nach der ersten Woche niemand in unserer Gruppe Symptome aufweist, dürfen wir offiziell wieder mit den Arrangements fortfahren.
Jeder glaubt im Anderen den Sündenbock für die steigenden Infektionszahlen zu sehen.
Zwar ist es in der zweiten Woche etwas anstrengend, die Balance zwischen Vorlesungen und den zahlreichen Aktivitäten zu finden. Es gilt, von der Vorlesung direkt zu Vinmonopolet zu eilen, Norwegens staatliche Alkoholverkaufsstelle, die ihre Türen bereits um 18 Uhr schliesst. Dennoch sind die Anstrengungen sehr bereichernd. Nie fühlte ich mich einsam oder verloren in der mir ansonsten komplett fremden Stadt und auch heute bin ich noch gut mit der Hälfte unserer Faddergruppe in regem Kontakt. Essiglösung muss ich zum Glück auch keine trinken, noch werden wir zur Teufelsanbetung verordnet.
Warum nicht auch in der Schweiz?
Unweigerlich stellt sich mir die Frage, warum wir kein ähnliches Konzept in der Schweiz haben. Bestimmt hätte mir das meinen Einstieg in die Uni Bern erleichtert, als ich meinen Bachelor startete. Nach kurzer Recherche finde ich heraus, dass die Uni Bern mit den «Starting Days» eine Alternative anbietet, jedoch hat das Programm eher einen formalen Fokus, aufgeteilt in zwei Workshoptage. Und auch diese waren, als ich die Webseite besuchte, bereits ausgebucht und können deshalb wohl nicht alle neuen Studierenden ansprechen.
Für internationale Studierende gibt es hingegen eine ganze Einführungswoche. Einleuchtend finde ich, dass in Norwegen das Bedürfnis nach so einer Einrichtung grösser ist als bei uns. Da das skandinavische Land über eine beinahe 10-mal grössere Fläche als die Schweiz verfügt, aber nur 5.4 Millionen Einwohner zählt, zieht ein Grossteil der Studierenden für ihr Studium in eine neue Stadt und lässt den Freundeskreis zurück. So ist man erstmals auf sich alleine gestellt und benötigt eine Möglichkeit, sich schnell ein neues Netz aufzubauen.
In Norwegen zieht ein Grossteil der Studierenden für ihr Studium in eine neue Stadt und lässt den Freundeskreis zurück.
In der Schweiz hingegen bleiben vermutlich viele Studierende in der Nähe ihrer Heimatstadt und können deshalb auf ihren bereits etablierten Freundeskreis zurückgreifen. Und auch wenn es jemanden nach Genf oder Zürich verschlagen sollte, ist man nie länger als eine kurze Zugfahrt von Bern entfernt. Die Verbindung Trondheim-Oslo dauert hingegen gut sechseinhalb Stunden mit dem Schnellzug. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass auch die Schweiz von einer adaptierten Version der Fadderuka profitieren könnte.
Selbstredend macht das Studium mit Freunden viel mehr Spass und auch aus beruflicher Sicht profitiert man von einem grösseren Netzwerk. Persönlich hatte ich das Glück, in Bern einem relativ kleinen Studiengang anzugehören und schloss so schnell Bekanntschaft mit meinen Mitstudierenden. Die Herausforderungen dürften ganz anders sein für jene, die die meiste Zeit in grossen, anonymen Vorlesungssälen sitzen. Dass durch Corona vermehrt auf digitale Lösungen gesetzt wird, erschwert das Kennenlernen momentan zusätzlich.
Rezept für eine erfolgreiche «Göttiwoche»
Der Aufwand, die Fadderuka in die Schweiz zu importieren, scheint mir gar nicht allzu gross. Hier beginnt das Herbstsemester im Vergleich zu Norwegen spät, erst im September. Die Uni könnte die angehenden Student*innen darauf hinweisen, dass einige Fachschaften in der Woche vor Vorlesungsbeginn schon etwas organisieren und die Studierenden könnten sich mit einfachen Lösungen wie «Google Formulare» dafür anmelden. Je nach Anzahl Anmeldungen kann man die Teilnehmenden in kleinere Gruppen einteilen oder auch gemeinsame Aktivitäten mit allen Gruppen organisieren.
Die Aktivitäten können ganz unterschiedlich sein: einige etwas Uni-relevanter, wie eine Campus-Tour oder den Lehrplan besprechen; andere, die das Kennenlernen fördern, wie ein Turnier auf der grossen Schanze, eine Wanderung auf den Gurten oder ein gemütliches Bier in der Turnhalle; und nochmals andere vielleicht etwas ausgefallener. Dem Unternehmergeist der Göttis und Gotten sind (beinahe) keine Grenzen gesetzt.
Auch würde das Götti- und Gottenmodell die Fachschaften selbst etwas entlasten. Sich als Götti oder Gotte einzusetzen ist generell eine sehr dankbare Aufgabe und hier in Trondheim melden sich normalerweise viele Freiwillige. Auch solche, die mit den eher administrativen Aufgaben der Fachschaft nichts am Hut haben möchten. Meine «Gotte», selbst eine Studentin im zweiten Jahr, erklärt mir: «Der Ertrag ist grösser als der Aufwand, denn wir lernen selbst viele neue Leute kennen und können bei den ganzen Events mitmachen. Und da wir meist mehrere Fadder für eine Gruppe sind, ist die Verantwortung auch nicht so gross.»
Als wir nach unserer Fadderuka gefragt werden, wer Lust hätte, nächstes Jahr Fadder zu werden, meldet sich gut die Hälfte unserer Gruppe. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass mir als neuer Student die Fadderuka einen wirklich hohen Mehrwert gebracht und mir den Einstieg ins Studium sehr erleichtert hat. Hat eine Fachschaft in Bern die Musse und den Mut etwas Ähnliches zu organisieren, so bin ich mir sicher, werden die neuen Studierenden sehr dankbar dafür sein – gerade in Zeiten digitaler Vorlesungen.
Hat eine Fachschaft in Bern die Musse und den Mut etwas Ähnliches zu organisieren, so bin ich mir sicher, werden die neuen Studierenden sehr dankbar dafür sein – gerade in Zeiten digitaler Vorlesungen.
Die Taufe
Am Sonntag, dem letzten Tag unserer zweiwöchigen Fadderuka, treffen wir uns mit dem, was von unserer Gruppe übriggeblieben ist, im Marinenpark, unweit der gotischen Kathedrale Nidarosdomen. Der einzige Eintrag auf unserem Plan heute: Taufe.
Bei mir löst der Begriff unweigerlich eine Reihe von unangenehmen Assoziationen aus, vom Gruppendenken Amerikanischen Fraternities zu demütigenden Initiationsriten. Ich sage mir aber, dass ich da jetzt durchmuss. Da ich Anglistik studiere, dreht sich bei unserer Taufe alles um Elemente englischsprachiger Kultur.
Als erstes, wie es in Schottland angeblich Brauch sei, erhalten wir von unseren Faddern eine Tüte mit Mehl und die Aufgabe, uns damit gegenseitig zu bewerfen – untermalt von heiterer Dudelsackmusik, die aus tragbaren Lautsprechern dröhnt. Darauf bekommen wir ein Skript mit der berühmten Balkonszene von Romeo und Julia, welche wir mit drei Marshmallows im Mund nachspielen müssen.
Anstatt einer unzureichend verdünnten Essiglösung bekommen wir einen Shot mit kaltem Schwarztee und für die ganz Mutigen ein rohes Fischstäbchen. Und zu guter Letzt werden wir mit einem nassen Teebeutel gesalbt und ganz zeremoniell in unser neues Studium getauft.