Das Schweizer Minus an Erasmus+
Ein paar Monate lang mal was ganz anderes machen. Ein paar Monate lang mal den üblichen Verpflichtungen entkommen. Ein paar Monate lang mal intensiv in eine Fremdsprache eintauchen. Das alles während des Studiums? Planbar über die App und gratis Sprachkurse mit inbegriffen? Das gibt’s – nur halt nicht hier.
Das als europaweites Austauschprogramm bekannte Erasmus+ Programm läuft Ende dieses Jahres aus. Allerdings macht die Schweiz nicht mit – sie ist als Partnerland nur indirekt Teil des Programms. Sie kann zwar Studierende in Mitgliedstaaten aus dem Erasmus+ Programm entsenden und auch ausländische Studis empfangen, muss diesen Austausch aber eigenständig aufrechterhalten und finanzieren. Während andere Länder unkompliziert gleich den ganzen Erasmus-Blumenstrauss bekommen, muss die Schweiz sich sozusagen um jede Blume einzeln bemühen. Das geschieht für Hochschulen im Rahmen des Swiss-European Mobility Programme – kurz SEMP. Dabei trägt die Schweiz die Kosten für die Menschen, die ein Semester in der Schweiz studieren, sowie die Kosten für Schweizer Studis, die ins Ausland gehen. Verwalten und verteilen tut das ganze Geld die Stiftung Movetia. Nicht inbegriffen in der Schweizer Lösung sind die gratis Sprachkurse oder die App, die es ermöglicht den Aufenthalt übersichtlicher zu planen. Dass wir uns nur an Erasmus+ angliedern können, ohne selbst dazuzugehören, liegt an der politischen Sonderstellung der Schweiz. Als einziger EFTA Staat sitzt die Schweiz nicht mit am runden Tisch und gestaltet europäische Projekte mit, sondern muss sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen eigenen Weg bahnen. Dementsprechend ist die Beteiligung der Schweiz am Programm kompliziert und ambivalent. Wie kam es zu der Schweizer Lösung? Was passiert 2021, wenn die aktuelle Programmgeneration ausläuft? Und was unternimmt der Bund dagegen?
Früher war alles besser
1976 machte die EU den ersten Schritt in Richtung des heutigen Erasmus+ Programms: das «Aktionsprogramm im Bildungsbereich» setzte auf Kooperation innerhalb internationaler Hochschulsysteme, ohne die nationalen Kompetenzen für die Gestaltung des Bildungssystems zu beschneiden. Diese Logik liegt auch dem späteren Erasmus Programm zugrunde. Anfang 1986 war es dann so weit: die Europäische Kommission legte ihren Vorschlag für ein neues Aktionsprogramm zur Förderung von studentischer Mobilität vor. Erasmus war geboren und sollte am 1. Juli 1987 in Kraft treten. Fünf Jahre später war auch die Schweiz voll mit dabei, von 1992 bis 1995 und von 2011 bis 2013 konnten Schweizer Studierende vom gleichen Erasmus-Strauss profitieren wie die restlichen europäischen Studis. Als aber Ende 2013 das Programm auslief, war Anfang 2014 mit dem «Ja» zur Masseneinwanderungsinitiative das «Nein» der EU zu weiteren Erasmus+-Verhandlungen besiegelt.
«Die EU kam auf den letzten Drücker mit Betragsforderungen, die die Schweiz kurzfristig nicht erfüllen konnte.»
Die Schweizer Lösung
Noch Anfang 2013 sei die Stimmung optimistisch gewesen, dass die Schweiz in der nächsten Programmgeneration 2014–2020 wieder mit dabei sein würde, sagt Gaétan Lagger vom schweizerischen Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Bei den Verhandlungen konnte damals jedoch keine Einigung erzielt werden. Die Kosten hätten den vorgesehenen finanziellen Rahmen der Schweiz gesprengt: «Die EU kam auf den letzten Drücker mit Beitragsforderungen, die die Schweiz kurzfristig nicht erfüllen konnte», so Lagger. Gescheitert sei die Vollassoziierung – also die Schweizer Beteiligung an Erasmus+ als Programmland – dann aber nicht nur am Geld. So habe besonders die Masseneinwanderungsinitiative das Auseinandergehen weiter beschleunigt. Die EU war nicht bereit weiter zu verhandeln. Das habe die Schweiz gezwungen, schon im April 2014 eine Alternativlösung aufzubauen: die sogenannte Schweizer Lösung, im Hochschulbereich bekannt als SEMP. Die Schweizer Lösung ist nicht länger ein fertiger Blumenstrauss, sondern beschränkt sich auf den Austausch zwischen eigenständig aufrechterhaltenen Partnerschaften und deckt damit nicht das gesamte Angebotsspektrum von Erasmus+ ab. «Dennoch muss man natürlich betonen, dass wir sehr froh waren, die Mobilität aufrecht erhalten zu können», sagt Amanda Crameri von der Stiftung Movetia. Als die politischen Wogen soweit wieder geglättet waren, hat sich das SBFI im Jahr 2017 erneut um eine Vollassoziierung bemüht – ohne Erfolg. Die Bemühungen wurden eingestellt, da für die nächste Generation 2021–2027 ohnehin ein neues Abkommen ausgehandelt werden muss. Durch die politischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU ist das aber keine Sache von nur ein paar Wochen.
Verhandlungen mit der EU
Momentan laufen Gespräche, um zu klären, unter welchen Bedingungen die Schweiz an der kommenden Erasmus+ Generation teilnehmen kann. Wenn diese Bedingungen klar sind, ist die Schweiz bereit mit der EU in Verhandlungen zu gehen. «In der EU hat sich die Verabschiedung des Programmbeschlusses zu Erasmus 2021-2027 erheblich verzögert», so Lagger. Die Verzögerungen seien einerseits durch den Brexit bedingt – da Entscheidungen dort aktuell dringlicher sind – sowie durch Corona zustande gekommen. «Deshalb ist ein Entscheid bezüglich der genauen Verhandlungspositionen erst im November oder Dezember dieses Jahres zu erwarten». Sollte die EU weiterhin an ihrer Berechnungsgrundlage anhand des Bruttoinlandprodukts (BIP) festhalten, wird die Teilnahme der Schweiz teuer. Wie wahrscheinlich eine Vollassoziierung dann ist, werden die nächsten Monate zeigen. Während sich das Budget der Schweizer Lösung für vier Jahre auf 200 Millionen Franken beläuft, würde sich eine Vollassoziierung 1 Milliarde Franken für sieben Jahre kosten. Somit kommt die Schweiz mit ihrer Sonderlösung momentan günstiger weg, obwohl sie die Outgoing und Incoming Studierenden finanzieren muss. Vergleichen lassen sich diese Beträge jedoch nicht, so Crameri: «Die Schweizer Lösung stellt nur eine Ersatzlösung dar, die 2014 sehr schnell implementiert werden musste. Sie versucht nur die Mobilität aufzufangen.»
«Die einen stärken ihr Selbstbewusstsein, andere erlernen eine neue Sprache oder engagieren sich in der Freiwilligenarbeit.»
Kooperation oder Alleingang?
«Der Bund will mit der Schweizer Lösung in den kommenden vier Jahren zumindest die aktuellen Beteiligungsmöglichkeiten sichern», so Lagger. Man sei aber davon abhängig, dass die Mobilitätsdestinationen, die unter hiesigen Studierenden besonders beliebt sind, überhaupt mit unseren Hochschulen zusammenarbeiten wollen. Dass der Schweizer Gestaltungsspielraum begrenzt ist, betont auch Crameri: «Die Schweiz agiert immer noch im europäischen Bildungsraum. Dort arbeiten 34 Programmländer zusammen in einem gemeinsam festgelegten finanziellen und rechtlichen Rahmen.» Das hiesse schlussendlich, dass die Schweiz diese Regeln übernehmen müsse. Die Sonderlösung treffe besonders die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten, wo mehrere Agierende in engem Austausch sind und einzeln zusammengesuchte Verträge nicht helfen, «denn man kann in einem bilateralen System nicht das multilaterale System auffangen.» Das treffe letztendlich auch die Studierenden, da diese von den Kooperationsprojekten der Unis profitieren würden. So haben Schweizer Studierende ohne die Assoziierung an Erasmus+ weniger Möglichkeiten in der Gestaltung von internationalen Projekten. Eine Mobilitätserfahrung rät Crameri trotzdem allen Studis an, die neben besseren Jobchancen noch ganz persönliche Vorteile birgt: «Die einen stärken dadurch ihr Selbstbewusstsein und die eigene Anpassungsfähigkeit, andere erlernen eine neue Sprache oder engagieren sich in der Freiwilligenarbeit», auch Qualitäten wie Toleranz und Offenheit – dass man Dinge auch anders machen kann – reifen während eines Auslandsaufenthalts, «alles Fähigkeiten, die in der heutigen Welt mehr denn je gefragt sind.»
Worauf warten wir noch?
Eine allfällige Vollassoziierung sei voraussichtlich frühestens 2022 möglich, sagt Lagger. Wie die Verhandlungen mit der EU genau aussehen werden, ist noch offen. Durch Verzögerungen seitens der EU muss sich die Schweiz gedulden, bis allfällige Verhandlungen möglich sind – Stichwort Brexit. Es ist aber kaum davon auszugehen, dass der Schweiz Zugeständnisse verwehrt werden, die andere Drittstaaten wie z.B. das Vereinigte Königreich erhalten. Abseits von finanziellen Belangen ist eine Vollassoziierung ein Zeichen eines geeinten Europas, das gemeinsam die Zukunft gestaltet, Rahmen für internationale Partizipation schafft und somit dem Potential unserer globalisierten Welt gerecht wird.
«Austausch funktioniert nicht im Alleingang. Zusammenarbeit auch nicht.»
Better safe than sorry
Vorgesorgt hat das SBFI schon, da die Schweiz den Start des neuen Erasmus+ Programms im Jahr 2021 fast sicher verpassen wird. Stattdessen wurde pünktlich zum Ende der Herbstsession der Budgetantrag für die unabhängige Schweizer Lösung bewilligt. Die Botschaft, die diesem Entscheid zugrunde liegt, kam vom SBFI. Somit kann Movetia die Mobilitätsaktivitäten für weitere vier Jahre finanzieren. Trotzdem ersetze die Schweizer Lösung Erasmus+ nicht, so Crameri: «Austausch funktioniert nicht im Alleingang. Zusammenarbeit auch nicht. Man kann einzelne Aktivitäten auf einem bilateralen Weg ersetzen, aber nicht ein komplexes Förderinstrument wie Erasmus+ es ist.» Es bleibt dabei: Die Schweizer Lösung deckt allein die Mobilität innerhalb des Erasmus+ Programms ab, der Strauss ist aber viel bunter – die Schweizer Lösung ist eine schwarz-weiss Perspektive. Ob monochromatisch oder bilateral: Ein Austauschsemester ist und bleibt eine absolut empfehlenswerte Erfahrung.
text: julia beck; bild: pixabay.com
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Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #21 Oktober 2020
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