Sommermoment #10

Illustration: Lisa Linder

17. September 2020

Von

Von Brombeermündern und dem Mondlicht auf der Aare – unsere Autorin auf Gedankengängen durch den endlichen Sommer.


Kumquat

Eine Sommerendswehmut steckt in deinem Hals fest.
Sie ist gelb und rund und kommt von weither.
Eine Kumquat. Sauer und süss und bitter zugleich.
Süss wie die Zuckerwattenbombe über den Kornfeldern,
als du in den ersten weichen Sommerabend hineingefahren bist.
Oder die Tomaten aus dem eigenen Garten,
in denen du dich stolz ersäufst, in ihrem prallen Saft.
Die Dusche nach einer Wanderung,
die dir das Blut aus den Beinen ins Herz getrieben hat.
Das Kind, das verzückt Brombeermünder macht.
Ein wenig sauer wie die Gänsehaut, die sich über deinen Rücken zieht,
als du nachts die Füsse in die Aare streckst.
Zwei Graureiher bedecken deine zögerliche Nacktheit mit skeptischen Blicken,
ein Kauz ruft. Und der Mond küsst das Wasser.
Du denkst dir, den Kitsch kriegst du nie mehr aus den Hautrillen, so oft du dich auch waschen wirst.
Bitter auch. Weil du in der Sommerendswehmut vielleicht zum ersten Mal verstehst, was das Kind meinte, als es sagte:
«Ich wäre gern niemand. Dann müsste ich nicht sterben.»

Im Sommer willst du niemand sein. Um den nächsten zu umarmen.
Du wirst dir einen Pullover aus zärtlicher Vorfreude stricken müssen,
um den Winterstürmen zu trotzen.
Schluck die Kumquat herunter. Irgendwo hinter deinem Schlüsselbein
wird sie vor sich hin dämmern bis zur nächsten kleinen Ewigkeit.

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