Die allgemeine Lebenserfahrung weisser Cis-Männer

Illustration: Lisa Linder

12. März 2020

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Jurist*innen entscheiden über Schicksale anderer Menschen. Oftmals begründen sie dies mit ihrer «Lebenserfahrung». Eine Reflexion über verinnerlichte Stereotypen wäre hierbei unabdingbar – fehlt im Jus-Studim aber gänzlich.

«Chantal Danielle geht mit ihrer fünfjährigen Tochter Jacqueline Cheyenne auf den Spielplatz. Dort setzt sich Chantal Danielle auf eine Parkbank und checkt auf ihrem Smartphone die Profile ihrer bevorzugten Influencerinnen. Jacqueline Cheyenne streitet sich derweil mit Dustin Liam, weil dieser sie nicht mit seinem Bagger spielen lassen will. Chantal Danielle blickt kurz auf und schreit: „Jacqueline, nerv nicht!“ Angelina Caprice, die Mutter von Dustin Liam stapft zu Chantal Danielle hinüber, schlägt ihr das Smartphone aus der Hand und schreit sie an, sie solle auf ihre Göre aufpassen. Das Display von Chantal Danielles Smartphone zerspringt, woraufhin diese aufsteht und sich anschickt, Angelina Caprice ihre Michael Kors Tasche ins Gesicht zu schleudern.»
Was wie das Skript einer Folge «Frauentausch» aussieht, ist in Tat und Wahrheit ein Ausschnitt aus einem Übungsfall, der im Jus-Studium an der Uni Bern verwendet wird. Übungsfälle dienen dazu, Gesetze nicht nur abstrakt kennenzulernen, sondern auch an konkreten Beispielen zu üben. Deren Inhalte strotzen oft nur so von Stereotypen, darum haben wir als Kritische Jurist*innen uns dazu entschlossen, diese Fälle etwas genauer zu untersuchen.

Eifersuchtsdramen und Parfums

Im obigen Ausschnitt werden zwei Frauen mit stereotypischen Namen einer unterprivilegierten Schicht gezeigt, welche wie selbstverständlich ihre Kinder nicht erziehen können und Konflikte mit Gewalt lösen müssen. Aber auch in anderen Übungsfällen zeigen sich seltsame Tendenzen: Logischerweise haben Männer ständig das Bedürfnis, ihre fremdgehende Frau oder deren Liebhaber umzubringen, verlieben sich aber selbst ganz automatisch in jüngere Frauen. Eine grosse Anzahl Männer mag schnelle Luxusautos, Frauen hingegen kaufen am Laufmeter Parfums.

Was wie das Skript einer Folge «Frauentausch» aussieht, ist in Tat und Wahrheit ein Ausschnitt aus einem Übungsfall, der im Jus-Studium an der Uni Bern verwendet wird. 

Das Problem zeigt sich aber nicht nur in einzelnen Beispielen, sondern auch, wenn das Ganze quantitativ betrachtet wird: Ganz abgesehen davon, dass über 70% der dargestellten Personen Männer sind, werden diese zudem viel häufiger als Frauen* als aktiv handelnde Akteure ­porträtiert. Frauen* erscheinen ausserdem sehr oft in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einem Mann. Zwar werden Männer und Frauen etwa ähnlich oft in Machtpositionen dargestellt, dennoch werden Männernamen etwa doppelt so oft mit einem Beruf verknüpft wie Frauennamen (zum Beispiel Rechtsanwalt Rudi Rüssel), was einen prägenden Effekt auf die Wahrnehmung der Person als berufstätig hat. Und wenn wir zu guter Letzt die Sprache betrachten, ­sehen wir auch, dass in weniger als 15% aller Fälle überhaupt eine geschlechtergerechte Sprache verwendet wird.

Arbeit mit Vorurteilen

Doch weshalb ist das überhaupt wichtig? Tatsache ist, dass die verwendete Sprache zwar teilweise gewisse Realitäten spiegelt, vor allem aber auch Realitäten schafft, denn Worte und Bilder prägen unser Denken – ganz besonders die in der Ausbildung verwendeten. Stereotype Bilder bleiben in unseren Köpfen hängen, schaffen neue Vorurteile und bestätigen bereits bestehende.

Gerade in einem juristischen Kontext ist das höchst problematisch: In der Anwendung von Gesetzen spielen Vorurteile eine grosse Rolle. Bekanntestes Beispiel ist wohl das «Racial Profiling», welches dazu führt, dass People of Colour deutlich häufiger durch die Polizei kontrolliert werden, da viele Polizist*innen das Vorurteil haben, diese seien vermehrt kriminell.
Auch vor Gerichten sind Vorurteile allgegenwärtig. Wenn Richter*innen nämlich ergründen möchten, weshalb jemand in bestimmter Weise gehandelt hat und ob dies nachvollziehbar sei, stützen sie sich oftmals auf die sogenannte «allgemeine Lebenserfahrung». So soll beurteilt werden, was sich eine Person in einer bestimmten Situation wohl gedacht haben könnte, wenn dies nicht beweisbar ist. Die «allgemeine Lebenserfahrung» stützt sich weder auf wissenschaftliche Daten noch auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit einer Person, sondern einzig und allein auf die inneren Überlegungen der Richter*in. Doch wie will ein gut situierter, weisser, heterosexueller Cis-Mann einfach so wissen, was die «allgemeine Lebenserfahrung» einer geflüchteten Person, eines Transmenschen oder einer Sozialhilfebeziehenden ist, gerade wenn seine einzige Kenntnis dieser Menschen aus klischierten Übungsfällen stammt? Wie will er deren Handlungen nur ansatzweise nachvollziehen können, wenn er die ihm vermittelten Stereotypen niemals hinterfragt?

Reflexion im Studium fehl am Platz

Richter*innen und Staatsanwält*innen sind grossmehrheitlich Jurist*innen, zudem haben mindestens 51 Mitglieder der Bundesversammlung ein Jusstudium absolviert. Wenn darin Stereotypen reflektiert und Klischees aufgebrochen würden, könnte dies also einen echten Einfluss auf unsere Gesetze und die dazugehörige Rechtsprechung haben. Durch eine sorgsame und respektvolle Verwendung von Sprache und Bildern könnten sich stereotype Rollenbilder aufbrechen lassen und diskriminierungsfreie und emanzipatorische Bilder vermittelt werden.
Dies wird so offenkundig unterlassen, dass es kaum ein Versehen sein kann. Die erwähnten Übungsfälle sind dafür nur ein Symptom. Im fakultären Gleichstellungsplan werden Lehrinhalte und Sprachverwendung beispielsweise nicht einmal erwähnt. Ein Nebenfach oder fakultätsexterne Veranstaltungen müssen nicht besucht werden, so muss man sich auch nicht mit fachfremden Gedanken oder Student*innen auseinandersetzen. Und schliesslich wird die durch Gesetze ausgeübte Macht schon gar nicht thematisiert, sondern einzig und allein die technische Anwendung der Normen geübt – reflektiertes Handeln würde einer wirksamen Klassenjustiz ja auch nur im Wege stehen.


Über die Autorenschaft
Die Kritischen Jurist*innen Bern sind eine Gruppierung, bei der sich Studierende und (junge) Jurist*innen, aber auch alle sonstigen Interessierten treffen, um gemeinsam das herrschende Rechtssystem kritisch zu hinterfragen. Mehr dazu:
https://www.facebook.com/kritJurBern/.

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