Reif wie gärige Marmelade
Unserer Gastautorin reicht es, sie streikt! Bild: frauen-streiken.ch
Es reicht. Ich streike. Die Menschheit fotografiert im Jahr 2019 zwar das Lichtjahre entfernte Schwarze Loch, bezahlt Männern und Frauen aber immer noch nicht gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Aus diesem und 1001 anderen Gründen gehe auch ich an den Frauen*streik. Am 14. Juni ist es soweit, kommst Du mit?
657 Franken im Monat. 7’884 Franken im Jahr. Das sind über 450 Kinoeintritte, das Jahr hätte gar nicht genügend Tage, um so oft ins Kino zu gehen.
657 Franken — so viel weniger verdienten Frauen im Jahr 2016 in der Schweiz im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Für gleiche Arbeit. Laut Bundesamt für Statistik lässt sich diese Differenz nicht erklären.
Diese Diskriminierung besteht trotz des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung. Bereits vor bald 30 Jahren haben Hunderttausende in der Schweiz mit Streiks und Protestaktionen auf diesen Missstand hingewiesen. Initiiert wurde der Streik von Uhrenarbeiterinnen im Vallée de Joux, die weniger als die von ihnen auszubildenden Lehrlinge verdienten. Vier Jahre nach diesem ersten nationalen Frauen*streik im Jahr 1991 kam zum Gleichstellungsartikel auch das Gleichstellungsgesetz hinzu. Bis heute hat sich an der Lohnungleichheit jedoch wenig geändert. Die unerklärte Lohndifferenz ist zwischen 2008 und 2016 gar über drei Prozent gestiegen.
Nur weil es heute kalt ist, ist der Klimawandel ja auch kein Mythos.
Leider verzichten immer noch viele Arbeitnehmer*innen darauf, ihr Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit einzuklagen. Laut Justizdepartement «fürchten sie sich um ihren Arbeitsplatz, trauen sich nicht, sich zu exponieren, oder kapitulieren vor der schwierigen Aufgabe, eine vermutete Diskriminierung zu belegen».
Kaum Chefinnen
In den Kaderetagen sind die Lohnunterschiede besonders gross. Besonders klein ist dort dafür die Geschlechterdiversität. Wenn die «Bilanz» letzten März titelt «Frauen erobern die Chefetage», muss sie nachschieben «– sehr sehr langsam». Angestiegen ist der Frauenanteil in den Geschäftsleitungen 2018 im Vergleich zum Vorjahr – von 7 auf 9 Prozent. Wahnsinn. In den Bereichen Politik und Wissenschaft zeichnet sich ein ähnliches Bild, im Jahr 2016/17 waren beispielsweise nur etwas mehr als ein Fünftel der Professuren mit Frauen besetzt.
Angesichts dieser Zahlen scheint mir bizarr, wenn Peter V. Kunz, Dekan der juristischen Fakultät der Uni Bern, in seiner Kolumne in der Aargauer Zeitung sein eigenes Institut hervorhebt, weil zwei Drittel der Assistierenden und Doktorierenden Frauen seien (laut Webseite des Instituts für Wirtschaftsrecht sind es aktuell jedoch die Hälfte, wobei diese Quote, wohlgemerkt, nicht durch die eine Assistentin in der Abteilung von Dekan Kunz, sondern durch die Assistentinnen bei seinen zwei Kollegen zustande kommt). Insgesamt habe die Fakultät in Bern den höchsten Anteil an Professorinnen aller juristischen Fakultäten in der Schweiz: Mehr als einen Drittel! Damit stellt Herr Kunz die Benachteiligung von Frauen in der Wissenschaft allgemein in Frage. Lieber Herr Kunz, das ist zu kurz gedacht. Nur weil es heute kalt ist, ist der Klimawandel ja auch kein Mythos.
Wer ist prägend?
Um zu erkennen, dass unsere Welt auch im Jahr 2019 nicht gleichberechtigt ist, muss gar nicht in den Tiefen statistischer Datensammlungen gegraben werden; ein Blick ins Programm der SRF Talk-Sendungen genügt: Ob «Focus», «Tagesgespräch» oder «Samstagsrundschau»: nur rund ein Fünftel der letzten Gesprächspartner*innen waren Frauen. Die «prägenden Figuren aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport», mit denen die «Welt aus einem wirtschaftspolitischen, kulturpolitischen oder gesellschaftspolitischen Blinkwinkel» beobachtet werden will, sind in aller Mehrheit also Männer.
Damit werden keine Vorbilder oder Identifikationsfiguren für junge Frauen geschaffen, sondern alte Rollenbilder reproduziert. Nicht hilfreich ist dabei ein Geschichtslehrbuch, das kürzlich für Aufsehen sorgte: Unter den 48 porträtierten Persönlichkeiten waren gerade mal sechs Frauen (darunter ein Bond-Girl!) zu finden. Auch sonst ist das Lehrbuch für Mädchen nicht gerade sehr ermutigend: Als eine der ersten Aufgaben müssen sie als falsch ankreuzen, dass beim Rütlischwur auch Frauen dabei waren, und über Marie Tussaud wird berichtet, dass ihr der Ehemann zwei Söhne «schenkte».
Aber wieso soll ich für Tampons mehr Mehrwertsteuer bezahlen als beim Kauf von Viagra?
Medien oder Stimmbürger*innen vorschreiben, wen sie zu interviewen oder zu wählen haben, will ich nicht. Es gibt aber konkrete Massnahmen, um der Gleichstellung Nachdruck zu verleihen: Mehr bezahlbare Kinderbetreuung, ein des Begriffs würdiger Vaterschaftsurlaub, eine Frauenquote und umfassende Lohntransparenz. Dies sind uralte Forderungen. Solche Massnahmen der freien Entscheidung den notabene meist männlich geleiteten Unternehmen zu überlassen, ist für mich keine Option. Das Versagen in diesem Modus Operandi ist allzu offensichtlich. Die in Bundesverfassung und Gesetz verankerte Gleichstellung darf nicht zur blossen Empfehlung verkommen, sondern muss rechtlich durchgesetzt werden.
Nett, aber nicht genug
Natürlich begrüsse ich das Gleichstellungsgesetz und die Verbesserungen in der Debatte seit 1991, etwa die Anpassung des Namenrechts, oder dass in Scheidungsfällen das gemeinsame Sorgerecht seit 2014 endlich die Regel ist. Zufrieden bin ich damit noch lange nicht. Die Soziologin Naika Foroutan sagte kürzlich treffend: «Je stärker man im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft aufholt, umso größer wird zu Recht die Unzufriedenheit darüber, was noch nicht aufgeholt ist. Das nennt man Emanzipation.»
Und deshalb geht es manchmal auch um den kleinen Unterschied. Die – noch nicht definitiv beschlossene – Senkung der Mehrwertsteuer auf Tampons und Binden wird den Preis der einzelnen Packung nur wenig mindern. Aber wieso sollte ich, auch wenn es wenige Franken pro Jahr sind, für Tampons mehr Mehrwertsteuer bezahlen als beim Kauf von Viagra? Es ist lächerlich, mussten dagegen Demos organisiert und parlamentarische Motionen eingereicht werden.
Mir ist bewusst, dass Lohnungleichheit, der Erhalt von veralteten Rollenbildern und Tamponsteuer für viele Frauen und für viele Menschen, die mehrdimensional von Diskriminierung betroffen sind, nur die Spitze des Eisberges ihrer Diskriminierungserfahrung darstellen. Feminismus aus meiner Perspektive als weisse cis-heterosexuelle Frau kann für eine schwarze trans Frau genau so weit entfernt sein wie die Äusserungen von Dekan Kunz. Ich will für einen Feminismus einstehen, der alle Auswirkungen unserer patriarchalen Gesellschaft kritisiert und bekämpft.
Deshalb werde auch ich am 14. Juni 2019 streiken gehen. Ich will laut fordern, was schon längst selbstverständlich sein müsste: eine tatsächliche Gleichberechtigung aller Menschen, egal welchen Geschlechts und egal welcher Hautfarbe, sexueller Orientierung und Herkunft.
Ich fordere weibliche Vorbilder, ich fordere mehr Frauen in Führungspositionen und mehr Männer zuhause, und dass wir alle mal mindestens drei Gänge hochschalten Richtung Gleichstellung für alle. Und ich will die 657 Franken.
Über die Autorin
Anne-Lea Berger studiert Jus an der Uni Bern und ist Mitglied der Frauen*streikgruppe der Rechtsfakultät. Die Gruppe hat unter anderem dazu beigetragen, dass am 14. Juni keine Jus-Prüfungen stattfinden. Sie lädt ausserdem alle Student*innen und Mitarbeiter*innen der Rechtsfakultät an besagtem Tag zum Frühstück in der UniS ein (7-11 Uhr). Mehr zum Frauenstreik an der Uni: frauenstreik-sub.info.