«Eine klare Meinung der reformierten Kirche als Institution gibt es nicht.»

Bild: Sam von Dach.

21. März 2018

Von , und

Sie war noch keine 30 Jahre alt, als sie 2014 die Stelle im bekanntesten 
Berner Gotteshaus antrat. Münsterpfarrerin Esther Schläpfer kämpft 
mit den Folgen kantonaler Sparmassnahmen und setzt sich für 
mehr sonntägliche Symbolik ein. Wir haben mit ihr über exakte Wissen-schaften, Nachhaltigkeit und Feminisierungstendenzen in der 
reformierten Kirche gesprochen.

Im Gespräch mit dem Magazin «Beobachter» hast du den Wagemut zu deinem Lebensprinzip erklärt. Wann bist du das letzte Mal ins kalte Wasser gesprungen?

Wohl bei meinem beruflichen Wiedereinstieg nach der Geburt meiner Tochter, als ich nach dem Mutterschafts-urlaub gleich wieder mit dem vollen Pensum anfing. Die Kombination von Beruf und Familie musste sofort klappen, da ich bei meiner Arbeit nicht einfach um fünf das Büro verlassen kann. In der Fastenwoche war ich beispielsweise jeden Abend bis um zehn Uhr im Kirchgemeindehaus. Diese schnelle Rückkehr war sicher ein Schritt ins Unbekannte.

Beginnen wir von vorne. Wie kommt man dazu, Theologie zu studieren?

Weil ich kaum einen Studiengang kenne, der so vielfältig ist: Geschichte, Philosophie, Musik, Sprachwissenschaft. Dies alles sind Teile der theologischen Lehre. Zudem besitze ich ein mathematisches Flair. Das eignet sich hervorragend für das Erlernen der alten Sprachen, denn diese funktionieren oftmals nach mathematischen Denkmustern. Und natürlich interessierte ich mich bereits damals für die ganzen philosophischen Fragen über Gott und die Welt.

War es nur das Interesse an der Materie, welches dich zum Theologiestudium bewog, oder auch bereits die Aussicht auf einen bestimmten Beruf?

Die Berufswahl war zu Beginn überhaupt kein Thema. Ich wollte einfach mehr über einen Bereich wissen, der in der Schulzeit komplett ausgeblendet wird. In der zweiten Klasse lernt man vielleicht etwas über die biblische Geschichte, aber das war’s dann. Es war eher diese Abwesenheit, die mein Interesse an der Theologie weckte. Ich wollte etwas machen, das ich nicht bereits kannte.

Gab es eine Alternative zur Theologie?

Germanistik wäre der Plan B gewesen. Als ich aber sah, dass das Theologiestudium auch sprachwissenschaftliche Aspekte beinhaltete, war der Fall für mich klar. Rückblickend musste ich aber feststellen, dass die Vielseitigkeit der Theologie auch ein Nachteil ist. Ein wenig Geschichte, ein wenig Philosophie, ein wenig Sprachwissenschaft. Wir kratzten bei vielen Bereichen an der Oberfläche, ohne dass wir wirklich viel davon verstanden.

Hast du an der Universität ein Spannungsfeld zwischen den Naturwissenschaften, welche die wissenschaftliche Exaktheit für sich beanspruchen, und der Theologie, bei welcher der Glaube Teil des Studiums ist, wahrgenommen?

Zu meiner Zeit haben wir TheologInnen uns klar auch als exakte WissenschaftlerInnen verstanden.

Ist das inzwischen anders?

Aus meiner Sicht hat sich das verändert. Es hat viel mehr frommere StudentenInnen als zu meiner Zeit. Dies kann ein Vorteil sein. Denn wieso muss die Glaubenslehre die Ansprüche exakter Wissenschaft erfüllen? Weshalb müssen angehende TheologInnen jeden Bibelvers sprachgeschichtlich nach germanistischen Methoden analysieren? Wir könnten doch einfach eingestehen, dass wir die Bibel deshalb lesen, weil wir glauben, dass sie eine grössere Bedeutung hat als andere Bücher. Weshalb tun wir dann trotzdem so, als ob wir exakte WissenschaftlerInnen wären?

«Wenn wir ChristInnen so eine staatliche Ausbildung absolvieren dürfen, dann die anderen Religionen auch. Das wäre nur konsequent.»

Gehört die theologische Ausbildung dann überhaupt noch an eine Universität?

Persönlich habe ich es sehr geschätzt, an der Universität studieren zu dürfen. Ehrlicher wäre es aber, wenn die Kirche für die Ausbildung verantwortlich wäre.

Sollte es die staatliche Ausbildung, wie es sie für den christlichen Glauben gibt, auch für andere Religionen geben?

Ja. Wenn wir ChristInnen so eine staatliche Ausbildung absolvieren dürfen, dann sollten dies die anderen Religionen auch. Das wäre nur konsequent.

2014 wurdest du mit 29 Jahren zur jüngsten Münsterpfarrerin aller Zeiten. Solltest du in deinem Alter nicht Mitglied einer Freikirche sein?

Freikirchen waren für mich nie ein Thema. Die Frage ist aber natürlich berechtigt. In meiner Arbeit als Münsterpfarrerin arbeite ich mit Personen zusammen, die eine oder zwei Generationen älter sind als ich. Kaum jemand in meinem Alter besucht regelmässig die Kirche. Und diejenigen, die es interessiert, sind Teil einer Freikirche.

Warum ist das so?

Die katholische Kirche hat ihre klaren Aussagen. Es gibt Himmel und Hölle, ihre Haltung zur Homosexualität ist bekannt und was der Papst sagt, kann man jederzeit nachlesen. Ähnliche inhaltliche Klarheit herrscht bei den Freikirchen. Und irgendwo dazwischen bewegen wir uns.

Die reformierte Kirche.

Genau! Doch wer sind wir? Eltern, die bei uns ihr Kind taufen lassen, bitten mich, ihrem Kind unseren Glauben mitzugeben. Doch an was glauben die Reformierten? Jede Person darf sagen, was sie glaubt. Wir sind offen für alles. Das ist das Schöne daran, aber auch gleichzeitig das, was unseren Glauben für junge Menschen sehr unattraktiv macht.

Gibt es Bestrebungen dieses Profil zu schärfen?

Bis anhin waren wir immer eine Konfession, die sich gegen etwas gewandt hatte. Mit der Abspaltung von der katholischen Kirche wollten wir die Heiligen und die vielen Bilder nicht mehr. Aber was wollen wir stattdessen? Wir sind liberaler als die Freikirchen. Aber was heisst das konkret? Wenn mich MedienvertreterInnen anrufen und nach der Meinung der reformierten Kirche zu einem bestimmten Thema fragen, dann kann ich ihnen höchstens anbieten, meine persönliche Haltung darzulegen. Eine klare Meinung der reformierten Kirche als Institution gibt es nicht.

Das sind jetzt aber keine konkreten Massnahmen, wie man ein Profil schärfen kann.

Eine Möglichkeit ist es, dass wir die Gottesdienste wieder vermehrt feierlicher gestalten. Den Weihrauch und viele heilige Gegenstände lehnte man lange als Brimborium der katholischen Kirche ab. Genauso wie Kerzen und Musik! Kerzen sind aber nicht gefährlich, weil sie traditionell als katholisches Element wahrgenommen werden. Zudem darf es auch mal eine Wechselrede geben. Ich denke, es tut gut, die reformierten Gottesdienste hin und wieder aus ihrem Korsett der «Kargheit» zu befreien, das aus einer überlangen Predigt mit Umrahmung durch Lied und Gebet besteht.

Ein Schritt zurück, hin zu mehr Symbolik?

Ja, das ist sicher eine Möglichkeit, greifbarer zu werden.

Mit deiner Anstellung und jener von Pfarrer Beat Allemand kam es 2014 zu einem Generationenwechsel im Münster. Sein Vorgänger und deine Vorgängerin waren beide deutlich älter. War das eine bewusste Entscheidung der Kirchgemeindeverantwortlichen?

Ja. Man hatte sich sicher erhofft, dass dadurch vermehrt auch wieder Junge in die Kirche kommen. Es wäre aber ein Fehler zu denken, dass dies so einfach geht. Die Möglichkeiten im Gottesdienst sind viel zu limitiert. Es gibt aber andere Angebote, wie zum Beispiel die KUW-Gottesdienste, der Berner Münster Kinder- und Jugendchor, die Fastenwoche oder die Auferstehungsfeier am Ostermorgen bei Sonnenaufgang. Da hat es dann auch Gleichaltrige dabei. Man kann aber nicht erwarten, dass man aus dem Nichts Junge anziehen kann, welche zuvor nie in Kontakt mit der Kirche gestanden sind. Das macht die Jugendarbeit umso wichtiger.

«Es gab einen alten Mann, der mich fragte, ob er nach 80 atheistischen Jahren nun jeweils am Sonntag zu mir in die Kirche kommen dürfe. Von Herzen gern!»

Weshalb braucht der postmoderne Mensch überhaupt noch eine Institution wie die Kirche?

Ich sehe mich als Traditionalistin. Mir ist es wichtig, dass es in unserer Gesellschaft eine Institution gibt, die die christlichen Traditionen wahrt. Weshalb haben wir an Ostern und Weihnachten frei? Oder an Auffahrt? Wenn es keine Kirche mehr gibt, dann gäbe es auch keinen Anlass mehr für diese Freitage. Klar, andere Rituale, wie der Schokohase an Ostern, sind wichtiger geworden. Das hat aber nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun. Deshalb braucht es die Kirche als einen Ort, an dem das Ursprüngliche dieser Festtage noch gelebt wird.

Einzig als Hüterin der christlichen Tradition dürfte es aber schwierig werden, sich auf Dauer behaupten zu können.

Der Kirche kommt ebenso eine gesellschaftspolitische Rolle zu. Wir könnten unser Profil schärfen, indem wir uns als wertkonservative Stimme im öffentlichen Diskurs positionieren. Das wollen wir aber nicht. Das Ziel der reformierten Kirche sollte es stattdessen sein, Antworten auf die Fragen von heute geben zu können. Wie ist mit der Flüchtlingsfrage umzugehen? Was bedeutet ein Aufkommen des Islams in unserer Gesellschaft für das Christentum?

Wäre eine stärkere missiona-rische Tätigkeit eine Möglichkeit, um mehr Menschen in den sonntäglichen Gottesdienst zu bringen?

Meiner Meinung nach ist der Gang in die Kirche ein persönliches Bedürfnis oder nicht. Es gab einen alten Mann, der zu mir kam und sagte, dass er 80 atheistische Jahre hinter sich habe, und mich fragte, ob er nun jeweils am Sonntag zu mir in die Kirche kommen dürfe. Von Herzen gern! Alle sind willkommen. Es gibt Eltern, die kommen für die Taufe ihres Kindes einmal in die Kirche und dann vergessen sie uns wieder. Das finde ich völlig legitim. Wir sind einfach da. Das ist das, was ich unter offen verstehe.

Das sehen wohl aber nicht alle so.

Natürlich gibt es auch Stimmen, die verlangen, dass die reformierte Kirche missionarischer auftreten sollte. Dass wir wieder auf den Bahnhofsplatz stehen und verkünden, was die Bibel eigentlich sagt. Ich finde: Wir sind da. Kommt, wenn ihr uns braucht. Und dann sind wir gefordert.

Der Glaube als eine individuelle Angelegenheit. Was bleibt da der Kirche als aktives Tätigkeitsfeld?

Unsere Aufgabe ist sicher die Bildung. Als Katechetin und im Rahmen der Jugendarbeit erkläre ich, was es überhaupt heisst, reformiert zu sein. Oder christlich im Allgemeinen. Das Einzige, was aber für später zählt, ist, dass die Kinder und Jugendlichen wissen, worin unser Angebot besteht und wo sie es abholen können. Bei Beerdigungen sieht man es sehr schön. Wenn die Leute wirklich wollen, dann kommen sie auch.

Den gesellschaftspolitischen Auftrag der Kirche hast du bereits angesprochen. In deiner Sonntagspredigt war der Begriff des «zero-waste» ein Thema. Dieser diene oftmals nur zur Gewissensberuhigung. Wie ist dies zu verstehen?

Grundsätzlich sind wir uns sehr wohl bewusst, wie ein rücksichtsvolles Zusammenleben auszusehen hätte. In der ganzen Stadt Bern gibt es überall Geschäfte mit nachhaltigem Konzept, wie die Äss-Bar oder zahlreiche Bioläden. Wenn ich mit den Jugendlichen der KUW das Thema Nachhaltigkeit behandle und diese Geschäfte besuche, erkennen alle die Problematik. Dann machen wir Mittagspause und sie gehen sich in den McDonalds einen Burger kaufen. Das stört mich! Sind wir bereit, für eine gute Idee etwas auszugeben oder reicht es uns zu wissen, dass es eine Äss-Bar gibt, damit wir mit gutem Gewissen den BigMac runterschlingen können?

Nachhaltigkeit und Kirche scheinen zusammen zu passen. Die anglikanische Church of England forderte ihre Mitglieder anlässlich der Fastenzeit zu einer «Plastic Challenge» auf. Ziel war es, den persönlichen Plastik-verbrauch während dieser Zeit zu minimieren. Zur Unterstützung gab es einen Fastenkalender mit Verzichtsmassnahmen als PDF-Download.

Das finde ich super! Die Fastenzeit eignet sich hervorragend für solche Anliegen. Es gefällt mir, wird so das Thema der Nachhaltigkeit mit dem Kalender des Kirchenjahres verknüpft. Schön wäre es, wenn auch wir von der Münstergemeinde uns mehr engagieren könnten. Bei der Heiliggeistkirche beispielsweise läuft es sehr gut. Die haben mit Andreas Nufer jemanden, der sich sehr stark für gesellschaftspolitische Anliegen engagiert und damit auch Erfolg hat. Das «Foodsave-Bankett» und weitere ähnliche Projekte sind der Beweis dafür.

Und wie engagiert sich die Münstergemeinde?

Wir bieten die Fastenwoche an und sammeln sonntags für die Projekte von «Brot für alle» oder vom HEKS. Aufgrund der Sparmassnahmen und den Strukturveränderungen in der Stadt Bern drehen wir uns im Moment aber vor allem um uns selbst. Vom Standort her wäre das Münster ein idealer Ort für ein ähnliches Engagement wie bei der Heiliggeistkirche, doch im Vergleich zu ihnen fehlt uns da auch eine gewisse Tradition. Das ist ein wunder Punkt, den du da ansprichst.

Wäre da eine Zusammenarbeit zwischen den Berner Kirchgemeinden nicht naheliegend?

Grundsätzlich sehr gerne. Es ist ja nicht so, dass wir komplett voneinander abgekapselt existieren. Die anderen PfarrerInnen treffe ich auf Pfarrkonferenzen oder in Pfarrvereinen. Zudem gibt es auch gesamtstädtische und Innenstadtgottesdienste, bei welchen wir alle zusammen in die Kirche gehen. Wenn man aber nur vier von 120 Gottesdiensten im Jahr zusammen abhält, dann ist das bescheiden. Vielleicht müssten wir auch verstärkt auf die anderen Gemeinden zugehen und aktiv die Zusammenarbeit suchen.

Zuvor hast du bereits die kantonalen Sparmassnahmen im Kirchenbereich erwähnt. Was hat das für Konsequenzen für das Münster?

Unser Problem ist, dass wir die kleinste aller Stadtberner Kirchgemeinden sind. Zu unserem Gebiet zählt einzig die Altstadt, in der kaum Familien wohnen, und das Kirchenfeld. Dadurch sind die uns zustehenden finanziellen Mittel gering, doch wir haben das teuerste Gebäude. Deshalb mussten wir sowohl das Münster wie auch das Kirchgemeindehaus bereits verkaufen. Uns gehört praktisch nichts mehr. Die Hülle des Münsters gehörte immer schon der Stadt. Und mit dem Verkauf des Betriebs an die Gesamtkirchgemeinde habe ich jetzt denselben Anspruch auf das Münster wie die PfarrerInnen von Bethlehem oder Bümpliz. Wir haben nur noch zwei Räume für Unterricht, Sitzungen und alle Anlässe.

«Auch ich hatte im Studium meine feministische Phase. Und ich bin mir sicher, dass die auch wiederkommen wird.»

Wie beeinflusst dieser Spardruck deine persönliche Arbeit?

Das Münster ist aufgrund seiner Grösse und Ausstrahlungskraft sehr beliebt. Von den 150 bis 200 Personen, die unseren Gottesdienst besuchen, ist höchstens ein Viertel aus unserem Gemeindegebiet. Der Rest kommt von ausserhalb. Dasselbe bei Taufen oder Beerdigungen. Von überall kommen Eltern und Angehörige her und bitten mich, ihre Kinder zu taufen oder ihre Angehörigen zu beerdigen. Ich mache das auch gerne. Bezahlt werde ich aber nur für jede Seele aus dem Kirchenfeld oder der Altstadt. Alle anderen kommen zu mir, zahlen jedoch den Pfarrer oder die Pfarrerin an ihrem Wohnort. Das führt zu einem enormen Druck. Jede Taufe, die von auswärts kommt, müssten wir eigentlich ablehnen.

Könnte von der Ausstrahlungskraft des Berner Münsters nicht auch profitiert werden?

Natürlich! Das Münster ist überall präsent. Es gibt kaum ein Foto von Bern, auf dem nicht irgendwo noch die Spitze des Münsterturmes zu sehen wäre. Dieses Potential könnte man nutzen. Das Basler Münster hat dies getan und verfügt heute über einen hervorragenden öffentlichen Auftritt. In Bern gibt es da noch grosses Steigerungspotenzial. Vielleicht wäre es für den Anfang nicht schlecht, wenn wir für jeden Abdruck unseres Münsters etwas verlangen würden. (lacht)

Wechseln wir das Thema. 2014 äusserte Gottfried Locher, der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, in der Weltwoche sein Unbehagen gegenüber der angeblichen Feminisierung der Kirche. Er habe nichts gegen Pfarrerinnen, sagte er, aber wenn nur noch Frauen predigen würden, dann würde sich alles ändern: die Themen, die Bilder, die Formulierungen, und irgendwann würden dann die Männer nicht mehr in die Kirche kommen.

Ich kann nachvollziehen, was Locher damit sagen will. Ich habe persönlich mal mit ihm gesprochen und ihn danach gefragt, wie seine Aussage zu verstehen ist. Es geht ihm vor allem um die sogenannte Feminisierung der Sprache. Gottfried Locher irritierte in erster Linie der Bruch mit traditionellen Formeln wie «im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes». Das kennt man seit eh und je. Wenn dies nun ersetzt wird mit «im Namen der Heiligen Geistkraft, die uns Flügel verleiht, das Herz öffnet, die Augen und die Wimpern aufschlägt», dann gehöre ich auch nicht zu denjenigen, die das schön finden. Das Aufbrechen traditioneller Formeln ist es vermutlich, was Locher stört. Da sowohl Vater und Sohn wie auch der Heilige Geist allesamt männliche Subjekte sind, wurden sie im Rahmen einer sprachlichen Feminisierung abgewandelt. Männer können aber genauso die weibliche Form verwenden wie wir Pfarrerinnen. Die Sprache ist nicht geschlechterspezifisch gebunden.

Stört dich dieser bewusst differente Sprachgebrauch?

Nein, ich kann das nachvollziehen. Mittlerweile gibt es ja auch viele Männer, die routinemässig von der Heiligen Geistkraft sprechen. Auch ich hatte im Studium meine feministische Phase. Und ich bin mir sicher, dass die auch wiederkommen wird. Ich gehöre aber definitiv nicht zu jenen, die Berührungsängste mit traditionellen Formeln haben. Bloss weil ich persönlich die traditionelle Formel bevorzuge, muss das nicht zwingend bedeuten, dass ich ein männliches, machohaftes Gottesbild besitze. Ich kann immer noch die Vorstellung eines Gottes mit weiblichen Aspekten pflegen. Dazu muss man nicht sämtliche etablierten Formeln über Bord werfen. Wenn wir nur noch weibliche Formen benutzen dürfen und jede Pfarrerin gelyncht wird, weil sie «im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes» sagt, dann ist das ja auch nicht der Sinn der Feminisierung. Die Formeln sind Zugänge zum persönlichen Glauben. Und mein Zugang ist nun mal die traditionelle Variante. Ich finde, wir sollten einander einfach leben lassen.

Wäre eine solche Änderung nicht auch eine Chance, um mehr Menschen in die Gottesdienste zu bringen?

Möglicherweise. Für mich ist aber klar, dass es authentisch sein müsste. Ich weiss nicht, wie es ankommen würde, wenn ich ab nächster Woche plötzlich meinen Sprachgebrauch komplett umstellen würde. Wir haben aber auch ProfessorInnen von der Universität, die immer mal wieder bei uns predigen. Da weiss man genau, welche zwei Professorinnen alle Psalmen umschreiben. Die haben dann genauso ihre Fangemeinde, wie jene, die dies strikt nicht tun. Ich finde das super und extrem authentisch. Selbst gehe ich gerne in solche Gottesdienste. Es gehört beides in die Kirche. Denn schlussendlich entscheidet in der Frage über Leben und Tod nicht, ob ich diesem Gott nun Mutter oder Vater oder was auch immer sage.

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Esther Gisler Fischer
14. November 2022 10:56

Sorry Frau Schläpfer, aber Sie unterschätzen die Wirkmacht von Gottesbildern: Da bin ich froh um Erkenntnisse der Feministischen Theologie. Und die ‚Ruach Gottes‘ ist auf hebräisch nun mal weiblich und dies im Deutschen auch so abzubilden nur redlich.